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Wenn die Bürger begehren

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Vor fünf Jahren mussten die Stuttgart-21-Gegner erfahren, wie ungerecht Volksabstimmungen sein können. Gewonnen haben die mit den Werbemillionen und den unaufrichtigen Argumenten. Ein Einzelfall ist das nicht – und trotzdem kein Grund, die Beteiligung zurückfahren.

Ende der Siebziger zeigte das österreichische Zwentendorf, wie Basisdemokratie geht. Mit einem Vorsprung von 30 000 Stimmen bei fünf Millionen Wahlberechtigen lehnen die Österreicher und Österreicherinnen die Inbetriebnahme des komplett fertigen Atomkraftwerks ab. Ohne einen einzigen Abweichler kommt das nationale Parlament der Entscheidung mit einem Atomsperrgesetz nach. Großen Streit gibt es nicht mehr, obwohl in fünf der neun Bundesländer die Befürworter der Atomkraft eine Mehrheit haben. Sieben Jahre später wollen die Sozialdemokraten das Volk noch einmal an die Urnen rufen zwecks Revidierung der Ablehnung – und scheitern schon im Vorfeld kläglich. Das Ergebnis der Volksabstimmung blieb unantastbar, die weltweite Anti-AKW-Bewegung kann sich anhaltend darauf berufen.

Gut drei Jahrzehnte später ist viel Euphorie verflogen. Die EU mauert in Sachen Bürgerbeteiligung, viele Nationalstaaten ohnehin. In Deutschland wollen sich die Rechten mit der Forderung nach bundesweiten Volksabstimmungen gegen die von ihnen sogenannten "Systemparteien" bemächtigen. CSU-Chef Horst Seehofer geniert sich nicht, das Thema zu missbrauchen, um gegen die Kanzlerin Position zu beziehen. Und in Baden-Württemberg drohen die unter Grün-Rot zart gewachsenen Pflänzchen auszutrocknen. Dabei ist die Zwischenbilanz gar nicht so schlecht.

Gute Noten für Staatsrätin Gisela Erler

Sarah Händel vom Verein Mehr Demokratie weiß exakt zu differenzieren. Nach den aktuellen Zahlen sei durch die Erleichterungen bei der Reform der Gemeindeordnung, in Kraft seit Dezember 2015, "ein leichter Anstieg direktdemokratischer Verfahren in den Kommunen zu verzeichnen": Im vergangenen Jahr gab es 21 Bürgerbegehren und 17 Bürgerentscheide, 2016 bisher schon 39 Bürgerbegehren und 24 Bürgerentscheide, fünf weitere Entscheide sind noch für dieses Jahr terminiert. Die zuständige Staatsrätin Gisela Erler zum Beispiel bekommt von Händel ausgesprochen gute Noten, gerade weil sie sich, ungeachtet des schwarzen Koalitionspartners, weiter für mehr Beteiligung einsetzt, sogar für bundesweite Volksentscheide. Auch im Volksentscheid-Ranking steht der Südwesten heute besser da als früher, ist jüngst vom letzten auf den siebenten Platz geklettert. Die bundesweite Benchmark setzen noch immer Bayern. Jede zweite Abstimmung in der Bundesrepublik fand 2015 in dem Freistaat statt.

Die großen baden-württembergischen Aufreger will Händel zur Bewertung der Entwicklung eigentlich gar nicht heranziehen. Die Volksabstimmung zu Stuttgart 21 und der Filderdialog seien viel zu spät gekommen. Daraus zu lernen gebe es nichts, "außer wie man's besser machen muss". Außerdem sei die Frage "politisch bewusst aufgeheizt" gewesen, genauso wie der Streit um den Nationalpark Schwarzwald. Da hatte die CDU in ihrem Oppositions-Frust über Monate versucht, Gemeinden vor Ort als mächtige Gegner in Stellung zu bringen, um das Vorhaben vermeintlich basisdemokratisch zu stoppen. Dabei lagen die Zuständigkeiten immer auf Landesebene, eine Entscheidung hätte also auch noch landesweit stattfinden können.

Den Volksentscheid vor fünf Jahren hat sich Mehr Demokratie dennoch – oder deshalb – genauer angesehen. Beteiligungsexperte Tim Weber beurteilte die Medienberichterstattung als "fair", vereinzelt hätten dies Aktive der Bewegung gegen S 21 aber nicht nachvollziehen können. Sie erlebten die Veröffentlichungen als einseitig pro Tiefbahnhof, schreibt Weber und kontert mit der These, dass Volksabstimmungen "zu einer ausgewogeneren Berichterstattung führen, da eine Entscheidung der Stimmberechtigten ansteht, und die Medien die Leser/innen ausgewogen informieren möchten". Über den Zeitraum vor Mitte November 2011 könne er keine Aussage treffen.

Dafür aber eine über die finanzielle Ausstattung. Die wurde von "Mehr Demokratie" – neben dem Abstimmungsquorum, das den Befürwortern als solches einen Startvorteil gab – als unfair beklagt. Zumal die Befürworter bei der Befragung für die Analyse sogar falsche Angaben machten. "Das Bündnis Pro Stuttgart 21 antwortete per E-Mail, dass es über 250 000 Euro verfügte", erläutert Weber, "wenn man jedoch Maßnahmen der Pro-Kampagne wie Kinospot, Infomobil, Sonderzug und die Zeitungsanzeigen in der Woche vor der Abstimmung berücksichtigt, scheint die Pro-Kampagne hinsichtlich der finanziellen Möglichkeiten im Vorteil gewesen zu sein." Allein die Anzeigen in den Stuttgarter Zeitungen hätten einen Gegenwert von etwa 140 000 Euro gehabt, und überhaupt wurde das Budget der Tiefbahnhof-Fans auf das Vierfache des gegnerischen geschätzt.

Pro-21-Kampagne war finanziell im Vorteil

Die Landeszentrale für politische Bildung hat eine grundsätzliche Zwischenbilanz der "Politik des Gehörtwerdens" gezogen unter der Überschrift: "Baden-Württemberg. Musterland der Bürgerbeteiligung?" Beleuchtet wird auch noch einmal ihr Auslöser, die Eskalation am 30. September 2010 im Stuttgarter Schlossgarten. "Die Bilder von Wasserwerfern, Schlagstöcken und verwundeten Demonstranten bewegten und empörten die Menschen nicht nur über die Lager von Projektgegnern und -befürwortern hinweg, sondern ließen die Popularitätswerte von Ministerpräsident Stefan Mappus in den Keller stürzen, trugen so letztlich zu seiner Abwahl bei und reflektierten vielen Wählerinnen und Wählern paradigmatisch die Missachtung des Bürgerwillens durch die Politik."

Zumindest bescheinigt der Politikwissenschafter Matthias Fatke der grün-roten Landesregierung "achtbare Anstrengungen", insbesondere die Stabsstelle für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung zeuge "von ernsthaften Absichten, den Bürgerinnen und Bürgern Gehör zu schenken". Und Fatke entlässt die CDU und die FDP nicht aus ihrer Verantwortung: "Dass es die Dauer von beinahe der gesamten Legislaturperiode benötigt hat, um konkrete Regelungen für mehr direktdemokratische Mitsprache im Landtag zur Abstimmung zu bringen, mag genauso den langwierigen Aushandlungsprozessen mit den Oppositionsparteien geschuldet sein wie das Ausmaß der Änderungen." Sein Fazit beantwortet die Frage im Titel dennoch abschlägig. Baden-Württemberg sei keinesfalls bundesdeutsches Musterland direkter Demokratie.

Und wird es so schnell auch nicht werden. Winfried Kretschmann höchstpersönlich hat die "Politik des Gehörtwerdens" jedenfalls als Label aus seiner Alltagsrhetorik gekickt, die Staatsrätin muss ihren Platz erst noch finden im neuen Kräfteparallelogramm der Regierung. Der Koalitionsvertrag lässt wenig Gutes ahnen, denn Bürgerbeteiligung wird jetzt als "unerlässliche Ergänzung und Bereicherung der repräsentativen Demokratie" bezeichnet, und staatliches Handeln muss nicht bürgernah und transparent sein, sondern "so bürgernah und transparent wie möglich". Prüfaufträge sind formuliert in Sachen Online-Petition und Transparenzregister, konkrete Schritte sind noch nicht eingeleitet. Die Aktivitäten kommunaler BürgerInnenräte sind zurückgegangen, die Förderung ist sogar eingestellt. Nicht nur Sarah Händel treibt die Befürchtung um, dass "die Gestaltungskraft" erlahmt sein könnte, bevor die neue Landesregierung überhaupt richtig in die Gänge kommt.

Gefährlich: Bürgerbeteiligung in Zeiten von rechter Hetze

Dabei wartet eine große Baustelle. Ausgerechnet der Blick in Kretschmanns Beteiligungs-Referenz-Land Schweiz zeigt, wie sensibel diese Thematik in Zeiten echter Hetzer behandelt werden muss und wie groß die Herausforderung der Filterblasen und der sich verselbständigenden Kampagnen ist. Zu viele schwerwiegende Probleme hat das Stimmvolk, wie die Nachbarn sagen, nicht gelöst, sondern verschärft. Wie bei Stuttgart 21 war eine Mehrheit viel zu oft nicht zu beeindrucken von ausdifferenzierten Stellungnahmen, von Fallbeispielen, von Fakten schon zu Zeiten, als noch niemand vom Postfaktischen sprach. In gesellschaftspolitischen Fragen haben die Superegoisten Hochkonjunktur, die mit den Scheuklappen, die vermeintliche oder tatsächliche eigene Interesse über das Gemeinwohl stellen. Und in der Ausländer- und Flüchtlingspolitik haben nur allzu oft jene die Mehrheit, für die Mitmenschlichkeit nichts zählt. Obendrein entwickeln selbst abgelehnte Initiativen eine ungeahnte Dynamik in die falsche Richtung.

40 Prozent der Schweizer und Schweizerinnen stimmten im vergangenen Februar gegen eine Verschärfung jener Ausschaffungsinitative, mit der vor sechs Jahren dem geltenden Ausländerrecht der Ermessensspielraum von Behörden und Gerichten bei der Ausweisung straffälliger Ausländer weitgehend genommen wurde. Aus Sicht der Populisten ist der neuerliche Vorstoß dennoch erfolgreich. Die ohnehin schon engen Möglichkeiten, die klassische Gnade vor Recht ergehen zu lassen, sind seit 1. Oktober durch ein sogenanntes Umsetzungsgesetz weiter eingeengt. Und die rechte SVP hat bereits vorsorglich nachgelegt. Fachleute wissen, dass insgesamt 1000 oder 1200 Fälle betroffen sein könnten, jedoch wird mit 4000 und noch mehr Straftätern, die das Land verlassen müssten, Stimmung gemacht. Wenn dann doch die Härteklausel, so die perfide Argumentationskette, zugunsten des Betroffenen angewandt wird, ist nach Meinung von SVP-Nationalrat Roger Köppel schon klar, was passiert: Dann werde das Volk bei den Wahlen 2019 "das Personal" auswechseln. Richter aus politische Gründen ersetzen, das klingt nach Türkei. Die Aufregung unter den Eidgenossen hielt sich dennoch in Grenzen.

Kretschmann kontert mit dem Grundgesetz und seiner sogenannten Ewigkeitsgarantie, wonach viele Bereiche der basisdemokratischen Mitsprache grundsätzlich entzogen sind: Der Schutz der Menschenwürde, die Anerkennung der Menschenrechte, die Bindung der staatlichen Gewalt an die Grundrechte, das Bundestaat-, das Sozialstaats-, das Volkssouveränitäts- oder das Demokratieprinzip und die Gewaltenteilung sind unantastbar. Sarah Händel befürchtet, dass, wer der Zivilgesellschaft zu wenig zutraut, den Rechten noch viel mehr in die Hände spielt. "Wir müssen uns reinwagen ins Getümmel", sagt sie, in der Hoffnung, dass sich Populisten gerade dann blamieren, "wenn vor bundesweiten Abstimmungen ernsthaft über große Fragen debattiert wird".

Zur Wechselwirkung liegen erste Studien auf dem Tisch, die ebenfalls aus der Schweiz kommen. Geklärt werden sollte, ob und wie Stimmberechtigte vor allem auf Emotionen schürende Appelle reagieren. Die gute Nachricht: Die Verführungswirkung ist gering. Die direkte Demokratie sei, schreiben die Marktforscher "bisher wenig von Elementen des postfaktischen Zeitalters beeinflusst worden." Die schlechte: Der Befund gilt ausschließlich für die beteiligungserfahrene Bevölkerung. Baden-Württembergs Bürger und Bürgerinnen haben folglich so oder so noch reichlich Nachholbedarf. "Es lohnt sich", sagt Händel. "dafür zu kämpfen." 


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14 Kommentare verfügbar

  • Kornelia
    am 29.11.2016
    Antworten
    @Michael Kuckenberg
    "2. Was hätten Sie denn anstelle der Volksabstimmung gemacht, um über S21 zu entscheiden?"
    Diese Frage ist viel zu kurz gefasst und falsch gestellt!

    Zuerst muss man fragen:
    Was ist das Grundgesetz einer Volksabstimmung?
    Leider (oder absichtlich?) verweigert auch…
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