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Die rechtsextreme Szene ist nicht mehr in der Schmuddelecke. Völkische Stimmen tönen in den Parlamenten, die gesellschaftliche Akzeptanz wächst. Der Sozialwissenschaftler Fabian Virchow, als Sachverständiger in den NSU-Ausschuss geladen, sieht alle Demokraten in der Pflicht, gegenzusteuern.

Virchow ist ein vielgefragter Mann. Der 46-Jährige hat bei Hajo Funke an der FU in Berlin promoviert, er ist Rechtsextremismus-Experte und bringt schlechte Nachrichten mit für die Abgeordneten, die in einem zweiten Durchlauf die Verbindungen des "Nationalsozialistischen Untergrunds" nach Baden-Württemberg durchleuchten wollen. Denn die Akzeptanz einschlägiger Straf- oder sogar Gewalttaten in der Bevölkerung wächst. Auch eine gefährliche Wechselwirkung ist belegt. Die Szene insgesamt wird selbstbewusster. Unterstützer völkischer Töne sitzen inzwischen in den Parlamenten und in den Vorgärten. Die Rechten sind mitten unter uns – nach dem Motto: Traut sich der Nachbar zu sagen, was ich denke, äußere ich mich ebenfalls. So sinken nicht nur verbale Hemmschwellen.

Der Blick in alte Verfassungsschutzberichte belegt die Entwicklung. Zitate wie "etablierte Kräfte aus Medien, Politik, Gewerkschaften, Kirche etc. suchten händeringend nach einer günstigen Gelegenheit, um eine neue Verleumdungswelle gegen den Nationalen Widerstand zu initiieren (...) wir haben die Systemfalle durchschaut" fanden im Jahr 2000 noch Eingang in den Jahresbericht des Bundesamts für Verfassungsschutz, um die "verschwörungstheoretische Manier" der Aktivisten zu illustrieren. Inzwischen gehören derartige Äußerungen zur sozialmedialen Grundausstattung und so ziemlich zum Harmlosesten, was AfD-Abgeordnete Tag für Tag auf ihren Facebook-Seiten zu bieten haben.

Der Sachverständige ist vor allem geladen, um die historische Entwicklung im Nachkriegsdeutschland zu vermitteln. Die Aufmerksamkeitskurve bei einigen sinkt schnell. Ausgerechnet die Jüngeren in der CDU-Fraktion sind intensiv mit ihrem Tablet beschäftigt, als Virchow solche Nebensächlichkeiten ausführt wie rechtsterroristische Anschlagspläne auf Bundeskanzler Willy Brandt im Jahre 1970. Die Entführung des Nazi-Jägers Simon Wiesenthal war beabsichtigt oder jene von Beate und Serge Klarsfeld, um Rudolf Heß aus der Haft freizupressen. Der Professor berichtet, wie viele kleine rechte Gruppen seit Ende der 1960er Jahre Depots mit Waffen und auch Sprengstoff angelegt hatten und dass viele Planungen schon sehr detailliert vorangetrieben worden waren, es schlussendlich aber an den Möglichkeiten zur Umsetzung mangelte. Von "exklusiven staatspolitischen Unterrichtseinheiten" wird Arnulf von Eyb später sprechen. Der CDU-Obmann im Ausschuss lässt offen, ob dies anerkennend gemeint ist.

Dabei hätten gerade die CDU-Abgeordneten bei dem Namen Manfred Roeder aufhorchen sollen. Der Professor nennt ihn eine "zentrale Figur, an der sich spätere Generationen orientieren". Roeder war fünf Jahre aktiv in der CDU, bevor er 1970 austrat, um zuerst die "Bürgerinitiative gegen moralische und politische Anarchie" und dann die "Kampfgruppe Roeder" zu gründen. 1978 ging der frühere Heß-Anwalt in den Untergrund, 1982 wurden ihm bei einem Prozess in Stammheim mehrere Anschläge zugerechnet. Im August 1980 starben die beiden vietnamesischen Boatpeople Ngoc Chau Nguyen und Anh Lan Do bei einem Brandanschlag, für den mit Benzin und Putzwolle gefüllte Saftflaschen verwendet wurden. Ihre Namen sind in Vergessenheit geraten, genauso wie die Tatsache, dass Roeder zu 13 Jahren Haft verurteilt wurde; dass er bereits 1990 wegen guter Führung wieder entlassen wurde; dass er 1998 als NPD-Kandidat bei der Bundestagswahl antrat; dass er bis zu seinem Tod 2014 immer wieder wegen Volksverhetzung, Holocaustleugnung oder Verunglimpfung des Staats verurteilt wurde. Seine Schriften wurden besonders vom Thüringer Heimatschutz geschätzt, der sie bevorzugt auf Demos und bei Treffen verteilte.

Der Staat muss sagen: bis hierher und nicht weiter

Wie schon der Esslinger Professor Kurt Möller, der im Auftrag des ersten Ausschusses ein Gutachten über "Struktur und Entwicklung des Phänomenbereichs Rechtsextremismus in Baden-Württemberg von 1992 bis heute" vorlegte, beklagt Virchow, dass für eine genauere Analyse die Grundlagen fehlen. In einer umfangreichen Studie zum Linksextremismus sei dem Rechtsextremismus ein "sehr kleines Kapitel" gewidmet. Der Sachverständige verlangt, einschlägige Studien in Auftrag zu geben, um Warnschilder aufstellen zu können: "Da müssen wir genauer hinsehen." Der Staat müsse "bestimmten politischen Milieus klarmachen: bis hierher und nicht weiter."

Ein politisch-parlamentarisches Milieu entzog sich der Lehrstunde. Die Abgeordneten der "Alternative für Deutschland" (AfD) – ihre Vertreter im Ausschuss sind Heinrich Fiechtner und Christina Baum – glänzten den ganzen Tag durch Abwesenheit. Dabei hätten sie sich angesprochen fühlen müssen, wenn Virchow von Aktionen "im Sinne der schweigenden Mehrheit" warnt, davor, sich als "Vorhut einer Bevölkerungsgruppe" zu fühlen. Nach ihrem ebenso leicht durchschaubaren wie erfolglosen Vorstoß, aus propagandistischen Paritätsgründen einen Ausschuss auch zur Untersuchung des Linksextremismus einzusetzen, wäre wenigstens Virchows Definition von Terrorismus aufschlussreich gewesen: Es muss sich um gewalttätiges geplantes Handeln halten, nicht einmalig, geheim, mit dem Ziel, Angst zu verbreiten und einzuschüchtern und – im Vergleich zur Mafia – ohne das Element der Bereicherung.

Wenig hoffnungsfroh stimmt eine Analyse der Reaktionen von Politikern demokratischer Parteien auf eine sich aufheizende Stimmung. Denn Rechte fühlen sich bestätigt und geradezu aufgefordert zu weiteren Aktionen, wird ihren Forderungen nachgegeben. Als Anfang der 1990er Jahre mit den Stimmen der SPD das Grundrecht auf Asyl drastisch eingeschränkt wurde, feierte die Szene. "Wir müssen", sagt Virchow irgendwann auf eine der Abgeordnetenfragen nach der Auflösung dieses Dilemmas, "die Demokratie neu begründen." Und die Zivilgesellschaft müsse sich ihrer Reaktion auf rechte Taten sicher sein. Zum Beispiel: Opfer als Opfer achten. Gerade im Zusammenhang mit dem NSU sei das lange nicht gelungen.

Sage und schreibe 180 rechte Musikbands in Deutschland

Mindestens ebenso schwer verdauliche Botschaften brachte der Sozialpädagoge Jan Raabe mit in den Ausschuss. Sein Thema umreißt einen zentralen Komplex der Arbeit in den nächsten Monaten: die rechte Musikszene und ihre Bedeutung für die Rekrutierung von Anhängern und Unterstützern. Raabe kennt viele Details zu etwa 180 (!) Bands und 30 oder 40 Liedermachern in Deutschland. Und er weiß, wie sich die menschenverachtende Gesinnung längst breitgemacht hat, nicht nur in Thüringen oder Sachsen, sondern auch in Baden-Württemberg.

Seit den 1990ern bis etwa 2010 fanden – ausweislich der Verfassungsschutzberichte häufig überwacht – viele der verhetzenden Konzerte heimlich statt. Interessierte bekamen eine Handynummer, die sie zu einem bestimmten Zeitpunkt anrufen mussten, dann erst wurde ein Großraum genannt, danach ein Treffpunkt zur Gesichtskontrolle, erst dort Adresse und Uhrzeit. Inzwischen finden viele Konzerte, als politische Kundgebungen geschützt sogar durchs Versammlungsrecht, in Hallen oder Kellern statt, die Rechtsnationalisten selber gehören. Sogar der Kartenverkauf findet da und dort öffentlich statt. Eine rechtliche Handhabe dagegen gibt es kaum. Und wenn eine städtische Lokalität angemietet wird, sagt Raabe, dann könne man nur auf einen "aufmerksamen Verwaltungsmitarbeiter hoffen", der merkt, dass es sich bei der geplanten Veranstaltung nicht um eine Taufe oder einen Geburtstag handelt.

Die nächste Ausschusssitzung, die nächste "exklusive staatspolitische Unterrichtseinheit", wie von Eyb sagen würde, findet am 2. Dezember statt. Auch sie ist öffentlich. 


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10 Kommentare verfügbar

  • Gela
    am 23.11.2016
    Antworten
    Ich sehe nicht, inwieweit die Kritik einiger aus dem Campact-Team an Russland die Glaubwürdigkeit von Campact einschränkt bezüglich der Recherchen über die AfD.

    Außerdem nimmt Campact zu den Vorwürfen der Parteilichkeit von Albrecht Müller wie folgt Stellung:

    "Wir diskutieren viel und heftig…
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