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Fragen wie beim Kaffeekränzchen

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Noch lässt der NSU-Ausschuss nicht locker. Auch in der Novembersitzung soll es erneut um die Aktivitäten amerikanischer Agenten am 25. April 2007 in Heilbronn gehen. Außerdem wollen die Abgeordneten alle unaufgeklärten schweren Straftaten im Land seit Ende der Neunziger auf Verbindungen in die rechtsradikale Szene abklopfen.

Rainer Nübel war zum Auftakt des ersten NSU-Untersuchungsausschusses im Landtag als einer jener Sachverständigen geladen, die die Zusammenhänge erhellen sollten. Zwischen organisierter Kriminalität in Heilbronn, Islamisten, die am Tag der Ermordung von Michèle Kiesewetter auf der Theresienwiese gewesen sein könnten (darunter der Europachef der Amal-Miliz) und der Defence Intelligence Agency (DIA), die zur Tatzeit am Tatort anwesend war. Als der erste Ausschuss mit seinem Arbeitsprogramm nicht fertig wurde, reichte er den Komplex an den zweiten weiter.

Jetzt sind die ersten Zeugen vernommen, und Nübel sieht sich aufgerufen, in einem Brief an die Abgeordneten heranzutreten. Als Sachverständiger halte er dies für seine Pflicht. Er stört sich unter anderem am Ablauf der Vernehmung des ehemaligen Landespolizeipräsidenten Erwin Hetger Mitte Oktober. Denn: Nach der öffentlichen US-Terrorwarnung vom 20. April 2007 habe der gesamte Ausschuss darauf verzichtet, zur Frage polizeilicher Maßnahmen "Aktenpassagen vorzuhalten, aus denen eine damals aktuelle und zugleich verschärfte Gefährdungssituation am 19./20./21./22. April und in den Tagen danach klar hervorgeht."

Tatsächlich ist "die ganze Geschichte", wie der Ausschussvorsitzende Wolfgang Drexler (SPD) mehrfach an diesem Sitzungstag sagen wird, "ziemlich verwirrend". Zum einen sieht sich das Gremium mit massiven Vorwürfen konfrontiert. "Aufklärung unverwünscht?", fragte der "stern" Mitte September und rollte noch einmal jene Geschichte auf, die mit der Veröffentlichung eines "Observationsprotokolls des amerikanischen Militärgeheimdienstes" für große Aufregung gesorgt hatte. Inzwischen argwöhnt das Hamburger Magazin sogar, dass weiterhin "wichtige Dokumente geheim gehalten werden". Zum anderen ließen sich die Mutmaßungen bisher nicht belegen. Nicht durch den Untersuchungsausschuss im Bundestag, nicht durch die nichtöffentliche Vernehmung eines bisher unbekannten Zeugen im zweiten Stuttgarter Ausschuss, nicht durch Hetger und auch nicht durch den Zeugen Rudolf Reinhard Kiefer, der als Dreh- und Angelpunkt der Hinweise gilt. Nach mehreren Absagen ist der frühere Sacharbeiter beim Militärgeheimdienst MI – inzwischen im Unfrieden von seinem amerikanischen Arbeitgeber ("die Bande") geschieden – am 14. Oktober tatsächlich in Stuttgart erschienen.

"Ausblenden relevanter und kritischer Aspekte"

Für Nübel steht fest, dass nichts zu Tage gefördert wird, weil nichts zu Tage gefördert werden soll. Er beklagt, dass die Vernehmung Hetgers durch "völliges Ausblenden inhaltlich relevanter und kritischer Aspekte" zu "einer Art Kaffeekränzchen" mutierte. Und das, so sein Vorwurf an die Abgeordneten, "lässt sich schwerlich nur mit Fahrlässigkeit erklären". Dabei wurde zumindest ein Erzählstrang der "stern"-Berichterstattung durchaus tangiert, weil in der Berichterstattung die Frage aufgeworfen ist, ob "die junge Polizistin und ihr Kollege" einer geheimdienstlichen Operation in die Quere gekommen seien. "Etwa bei einer Personenkontrolle, für die sie im Rahmen des damaligen Einsatzkonzepts 'Sichere City' Streife fuhren?", will Nübel wissen. Oder ob die beiden Beamten nicht in ganz anderem Auftrag verdeckt unterwegs gewesen seien könnten, angesichts der erhöhten Terrorwarnung.

Hetger konterte vor allem mit dem Hinweis, dass sein Rahmenbefehl zur veränderten Gefahrenlage das Datum 8. Mai 2007 trägt und ein Vorab-Fax einen ganz anderen Verteiler gehabt habe. Schon allein deshalb könne "kein Zusammenhang" zu dem Einsatz 13 Tage zuvor bestehen. "Die Geschichte", urteilte der CDU-Obmann Arnulf von Eyb nach Hetgers Auftritt, "ist in sich zusammengebrochen."

Das will Nübel wiederum nicht hinnehmen. Für ihn steht fest, dass die Lage spätestens seit 22. April 2007 "akut und verschärft" gewesen sei. "Hätte es seitens der Polizei und/oder des Verfassungsschutzes keine Ad-hoc-Maßnahmen gegeben, die über den reinen Objektschutz hinausgehen, wäre dies ein eklatantes Defizit gewesen, das spätestens jetzt eine Reaktion innenpolitischer Experten im Landtag evozieren müsste", so der Sachverständige, der allerdings bisher auch selber mit dem Rahmenbefehl argumentiert hatte.

In seinem Schreiben geht es zudem um die Präsenz der US-Agenten in Tatortnähe und "die vom Generalbundesanwalt und insbesondere auf CDU- und FDP-Seite praktizierte Strategie, diese Frage ganz stark auf den Zeugen Kiefer zu fokussieren". Für Nübel wird sich die Haltung des Ausschusses daran erweisen, wie ernsthaft er "die BND-interne Korrespondenz, aus der die US-interne Bestätigung einer Operation am Tattag in Heilbronn hervorgeht, thematisiert und bewertet sowie der Frage aufklärend nachgeht, warum die deutsche Seite das Gesprächsangebot von US-Seite abgelehnt hat". Das bisherige Vorgehen entlarve sich jedenfalls "als Bauerntrick, der eines parlamentarischen Ausschusses nicht würdig ist".

Tausende Seiten Akten warten

Immerhin sind weitere Vernehmungen geplant. Drexler kündigte den Versuch an, den Ablauf der Kontakte zwischen deutschen und US-Behörden zu klären. Eine Referatsleiterin aus München werde geladen, außerdem überprüfe man frühere Aussagen von MAD und BND noch einmal. Alle Zeugen und Zeuginnen würden gerade in nichtöffentlicher Sitzung mit den vorliegenden Hinweisen konfrontiert. Stehen bleibe allerdings auch Kiefers Aussage. Dieser will zwei Tage nach dem Mord in Heilbronn in Hanau ein kurzes Gespräch zweier GIs darüber mitgehört haben. Dass die beiden explizit die Theresienweise erwähnt hätten, vermochte er aber nicht mehr zu bestätigen.

Weitreichend ist ein neuer Beweisantrag, den der Ausschuss bereits vor Bekanntwerden der jüngsten Entwicklungen im Fall des 2001 in Oberfranken verschollenen Mädchens Peggy erarbeitet hatte. Am Fundort der Skeletteile ist Genmaterial von Uwe Böhnhardt entdeckt worden. Was die Abgeordneten in Baden-Württemberg bestätigt, mit "ihrer Idee richtig zu liegen", so Drexler, alle ungeklärten Verbrechen im Land auf mögliche Zusammenhänge zum NSU-Terrorismus und dessen Unterstützerumfeld zu durchleuchten. "Wir wollen Verschwörungstheorien entgegenarbeiten", sagt der langjährige SPD-Abgeordnete. Die Zahlen aus dem Innenministerium verdeutlichen die Dimension des Vorhabens: Allein im Jahr 2015 blieben 322 Straftaten gegen das Leben unaufgeklärt, 2014 waren es 326. Angesichts solcher Zahlen hat der Landtag in den kommenden Wochen Akten von mehreren tausend ungelösten Kriminalfällen seit Ende der Neunziger Jahre zu erwarten.


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2 Kommentare verfügbar

  • Kh
    am 21.10.2016
    Antworten
    @Nübel: Soweit, so interessant. Ich habe auch Ihren Artikel im stern gelesen.

    Nur ist für mich nicht nachvllziehbar, warum das "der Operation in die Quere kommen" Auslöser für einen Mord und Mordversuch an zwei Streifenbeamten in aller Öffentlichkeit gewesen sein soll? Gerade wenn die beiden auch…
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