KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

"Wie moderner Sklavenhandel"

"Wie moderner Sklavenhandel"
|

Datum:

Nobert Blüm (CDU) hat auch mit 81 Jahren seinem Kampfesmut nicht verloren: Vor kurzem lebte der frühere Sozialminister eine Weile in einem Zelt im Flüchtlingslager Idomeni. Nun appelliert er an Unionspolitiker "aus den Büschen zu kommen, um sich endlich lautstark an die Seite von Angela Merkel zu stellen".

Herr Blüm, wie unzufrieden sind Sie mit der CDU in der Flüchtlingspolitik?

Ich bin praktisch von Kindesbeinen an CDU-Mitglied und habe auch nicht vor, das zu ändern. Was aber nicht heißt, dass ich damit einverstanden bin, wenn der Eindruck entsteht, wir seien eine Partei von hartherzigen Festungsbauern, denen das Schicksal von Zehntausenden Menschen egal ist. Es ist nicht ungewöhnlich, dass man in einer so großen Volkspartei Kompromisse machen muss. In der Flüchtlingspolitik gibt es nach christlichem Verständnis aber keine Kompromisse. Der barmherzige Samariter fragt nicht, woher der Verletzte stammt, welchem Glauben er angehört, ob er ausgebildet ist etc. Der um Hilfe Rufende ist sein Nächster. Das ist die Quintessenz der biblischen Geschichte.

In der CSU offenbar noch weniger als in der CDU.

Viel zu viele Politiker argumentieren nur mit Zahlen und Statistiken. Die lassen mich relativ kalt. Mitleid ist nicht abstrakt, sondern konkret. Wir müssen mitleiden mit einem jungen Mann, der Syrien verlassen hat, weil rund um ihn herum Menschen die Köpfe abgeschlagen wurden. Nicht bildlich, sondern tatsächlich. Und Menschen waren in Syrien gezwungen, diese Grausamkeiten anzusehen. Wer nicht erschüttert ist, wenn er das erfährt, der gehört zum Doktor. Wir Menschen haben die Fähigkeit, uns in den anderen hinein zu versetzen. Kein Tier kann das, das unterscheidet uns. Wir haben, das haben kluge Leute herausgefunden, Spiegelneuronen. Wenn wir diese aber nicht nutzen und uns nicht hineinversetzen in die Lage von Flüchtlingen, dann sind wir wieder auf die Evolutionsstufe von Tieren zurückgefallen.

Nach diesen Maßstäben müsste die Kanzlerin eine überwältigende Mehrheit für ihre Politik haben, vor allem in der Union. Davon kann aber keine Rede sein. Wieso blenden so viele in den Parteien mit dem C dieses C aus?

Ich verstehe meine Freunde von der Christlich-Sozialen Union nicht. Wir haben als Menschen und als Christen doch Pflichten. Ich war nie in Gefahr, Mitglied im Angela-Merkel-Fan-Club zu werden. Aber vor einem Jahr war ich stolz auf sie. Sie hat getan, was selbstverständlich ist, nämlich Menschen aus der Not zu retten. Alles andere wäre unterlassene Hilfeleistung gewesen. Man muss nicht besonders fromm sein, um das für richtig zu halten. Was ich nicht verstehe, ist, wieso wir nicht stärker Farbe bekennen und die Auseinandersetzung mit Rassisten und Nationalisten offensiv aufnehmen. Wo waren Julia Klöckner oder Guido Wolf in den Landtagswahlkämpfen? Wir müssen raus aus den Büschen und uns endlich lautstark an die Seite der Kanzlerin stellen. Sonst ist das C wirklich nichts wert. In Baden-Württemberg hat mit Winfried Kretschmann übrigens einer gewonnen, der Angela Merkel unterstützt hat und weiter unterstützt. Wenn vor 2000 Jahren die CSU in Ägypten regiert hätte, gäbe es jetzt keine christliche Partei in Bayern. Jesus hat nur überlebt, weil er mit Maria und Josef in Ägypten Asyl gefunden hat, sonst wäre er von Herodes' Häschern umgebracht worden, wie alle Kinder unter zwei Jahren. Die Heilige Familie war eine Asylantenfamilie in Ägypten.

Die Bundeskanzlerin hat nach der Wahl in Berlin einen Satz gesagt, der oft nur verkürzt zitiert wird. Sie wollte nicht nur die Zeit um viele Jahre zurückspulen, wenn sie könnte. Sie hat auch bekannt, dass sie sich zu lange auf das Dublin-Abkommen verlassen hat und darauf, dass die Nachbarn, vor allem jene im Süden, Deutschland, umgeben von sicheren Drittstaaten, das Flüchtlingsproblem abnehmen ...

... das ist doch heute auch wieder so. Wir sind eine Hochzivilisation, fähig, zum Mond zu fliegen, aber nicht fähig, Menschen ihre einfachsten Elementarbedürfnisse zu erfüllen. Und wieder überlassen wir die Lösung den Schwächsten: Griechenland und Italien. Ich war in Idomeni. Drei Zelte hinter mir lag eine Frau im Schlamm mit ihrem zehn Tage alten Baby. Sie war im Krankenhaus zur Entbindung, durfte drei Tage bleiben, so hilfsbereit sind wir dann doch, und dann musste sie zurück in den Schlamm. Was ist das für ein Europa? Wenn 500 Millionen Europäer keine fünf Millionen Flüchtlinge aufnehmen können, dann müssen wir den "Verein" wegen Unfähigkeit zur Menschlichkeit eben auflösen. So ein Europa brauchen wir nicht.

Die Ungarn und die Polen sehen das ganz anders.

Für Viktor Orbán schäme ich mich. Sein Zynismus ist eine Schande, ausgerechnet für ein Land, das 1989 als erstes den Stacheldraht des Eisernen Vorhangs durchtrennt hat. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie groß damals die Angst der Ungarn war und wie groß die Hoffnung auf Europa, um das Land zu schützen vor einem Einmarsch der Sowjets wie 1956. So viele mutige Männer und Frauen waren damals an der Öffnung beteiligt. Die Entwicklung in Polen ist trauriger als traurig. Solidarnosc war einmal das Fanal, mit dem die Polen die waffenstrotzende Sowjetunion sogar in die Knie zwangen. Und jetzt fällt das Land zurück in einen Nationalismus, dessen Opfer es in der Geschichte so oft war. Die den Eisernen Vorhang, der Europa trennte, zu Fall brachten, wollen jetzt einen Eisernen Vorhang rund um Europa bauen.

Während Ihres Besuchs in Idomeni haben Sie die polnische Regierung als gottvergessene Trittbrettfahrer bezeichnet.

Dazu stehe ich. Vorteile nutzen und Lasten ablehnen, das ist Trittbrettfahrerei. Mit diesem Gegenkurs zur europäischen Solidarität in der Flüchtlingsfrage verraten die Polen ihre besten Traditionen.

Was tun?

Das Wichtigste ist, immer und immer wieder zu thematisieren, dass, wer bei europäischen Subventionen die Hand aufhält, die Zusammenarbeit in der Zuwanderung nicht verweigern kann. Europa ist nicht die zur Rosinentheorie passende Praxis. Es gibt Rechte und Pflichten. Ich appelliere besonders an die jungen Leute, den Mund aufzumachen, gegen Kontrollen, gegen Obergrenzen. Es gehört doch zu den großen Errungenschaften, dass wir uns frei bewegen können in Europa. Dafür müssen die Jungen mehr kämpfen. Es geht schließlich um die Zukunft, in der sie länger leben werden als wir Alten.

Nicht nur Wirtschaftspolitiker in der Union setzen auf ein Gesetz zur Steuerung der Einwanderung. Werden da nicht zwei Themen miteinander vermengt?

Da werden nicht nur zwei Themen vermengt, nämlich Flucht und Einwanderung. Beim Einwanderungsgesetz geht es um die Gutausgebildeten, die Ärzte aus Afrika und die Ingenieure aus Bangalore. Die Schlechtausgebildeten dürfen in ihrem Elend bleiben. Das ist wie moderner Sklavenhandel: Es geht nur nicht mehr wie damals darum, ob die Zähne in Ordnung sind, jetzt reicht ein Diplom. Die Kolonialisten beuteten die Bodenschätze aus, wir die Qualifizierung. Wir lassen in den Armutsländern ausbilden. Das ist billiger. Wo ist der prinzipielle Unterschied zum Sklavenhandel? Wie Zugvögel sollen die Menschen dann den Arbeitsplätzen hinterherfliegen. So ein Einwanderungsgesetz will ich nicht. Wir müssen die Fluchtursachen mit einer ganz anderen Energie als bisher bekämpfen.

Ihr Parteifreund Thomas Strobl sagt aber, er könne keinen baden-württembergischen Mittelständler davon überzeugen, in Eritrea zu investieren.

Da ist auch nicht Baden-Württemberg allein aufgerufen. Da ist Europa gefragt. Zuerst müssen wir den Waffenhandel trockenlegen. Der Islamische Staat schießt nicht mit Pfeil und Bogen, sondern mit hochtechnologischen Präzisionswaffen, und nicht auf Tiere, sondern auf Menschen. Geheimdienste können das Telefon der Kanzlerin abhören, aber Waffenhändler nicht ausfindig machen? Ich glaube nicht, dass deutsche Firmen direkt in Geschäftsbeziehungen zum IS stehen. Also muss es dunkle Wege und Kanäle geben, über die Waffen in die Hände der Mörder kommen. Ich müsste ja alle Hoffnung fahren lassen, wenn ich nicht glauben würde, dass man Verbrechern, die mit Waffen handeln, das Handwerk legen kann, wenn man will. Die Welt wird von einem nationalen Egoismus überrannt wie eine Epidemie. Indien baut eine Mauer, um sich von Bangladesh abzuschirmen, dann werden die Leute in Bangladesh absaufen, wenn der Meeresspiegel steigt. Wenn Afrika wegen der Klimapolitik der Industriestaaten verdurstet, dann werden sich die Verdurstenden in die Industriestaaten aufmachen. Sollen wir denn auch eine Mauer über die Zugspitze bauen, damit kein Flüchtling mehr ein Schlupfloch findet?

Möglicherweise denken viel mehr Politiker morgens beim Blick in den Spiegel wie Norbert Blüm und reden nur deshalb anders, weil Populisten und Nationalisten, der Front National, die FPÖ und die AfD, immer stärker werden.

Das ist dumm. Den Nationalisten nachgeben bringt nichts. Die österreichische Bundesregierung aus SPÖ und ÖVP hat doch sehr aktiv dafür gesorgt, dass die Balkanroute geschlossen wird. Ist deshalb die Zustimmung zur FPÖ gesunken? Nein, sie ist höher als je zuvor. Auf Populisten und Nationalisten können Demokraten nur mit klarer Kante reagieren, mit klaren Positionen. Nationalismus stammt aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Seine Zeit ist passé. Wer mit der AfD in einen Wettbewerb eintritt, kann nur verlieren. Die große Mehrheit der Deutschen hat doch gar nicht AfD gewählt. Würden wir weniger nach rechts schielen, hätte die AfD weniger Chancen. Und wo ist eigentlich die Sozialistische Internationale? Sie singt schöne Lieder. Das ist aber nicht genug. Wo sind die Christen? Wo ist die Hilfe der reichen Saudis für ihre muslimischen Schwestern und Brüder? Ich bin dafür, dass sie den nationalen Egoisten den Spiegel vors Gesicht halten. Es ist jetzt die Zeit, Klartext zu reden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


12 Kommentare verfügbar

  • andromeda
    am 23.10.2016
    Antworten
    Alles richtig Herr Schwabe . Parteiräson ist natürlich unappetitlich.
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!