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Wahrheit und Schein

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Was wäre, wenn Politiker und Politikerinnen nur noch die Wahrheit sagten? Das Gemeinwesen würde zusammenbrechen, genauso wie Freundschaften und Beziehungen aller Art im Dauerstress ewiger Ehrlichkeit. Ein Freibrief, das Volk immer aufs Neue hinter die Fichte führen zu wollen, ist das aber noch lange nicht.

Das Paradebeispiel ist im kollektiven Gedächtnis: Angela Merkel und Peer Steinbrück gehen beim Bankencrash vor fast acht Jahren an die Öffentlichkeit mit den Worten "Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind". Dafür stehe die Bundesregierung ein. Beide wissen, dass das im Extremfall ausgeschlossen ist. Es habe sehr wohl Anzeichen dafür gegeben, dass sich "die Leute ihr Geld unter die Matratze legen wollen", wird der Sozialdemokrat später im Rückblick sagen. 500- und 200-Euro-Scheine seien knapp geworden. Auf einschlägigen Internetseiten war da der Stab über das großkoalitionäre Duo längst gebrochen. Noch heute geistern animierte Bilder durchs Netz, auf denen der Kanzlerin und ihrem Finanzminister Pinocchio-Nasen wachsen.

Im Ranking der Politikerlügen rangiert das heikle Versprechen ganz oben. Dabei ist es zuallererst nur ein Beleg dafür, dass in besonderen Situationen zu besonderen Mitteln gegriffen wird oder auch werden muss. Was wäre bei einem Bankenrun gewesen, wenn die Deutschen tatsächlich ihre Sparkonten geplündert hätten? Zahlreiche Ökonomen sind den beiden seither in zahlreichen Abhandlungen beigesprungen. "Notwendiger symbolischer Akt" heißt es da oder "politische Absichtserklärung zur Stabilisierung der Lage".

Ist eine Lüge erlaubt, um Panik zu vermeiden?

Aus zahllosen Postings in der immer noch sehr scharfen Auseinandersetzung über die Einlagengarantie lässt sich aber vor allem ablesen, wie sehr die Beurteilung eines solchen Vorgehens im Auge des Betrachters liegt. Wer kein Vertrauen hat ins System, wer Politikern und Politikerinnen nur oder vorzugsweise Schlechtes nachsagen will, der mag auch an einem Placebo nichts Gutes finden, selbst wenn es wie dieses seinen Zweck erfüllt. Und dennoch – oder gerade deshalb: Lüge ist nicht gleich Lüge.

Während der verheerenden Waldbrände 2003 an der Côte d'Azur flüchteten immer mehr Menschen nach Sainte-Maxime, einer Stadt mit 14 000 Einwohnern. Als das Gedränge direkt am Meer immer bedrohlicher wurde, verbreitete die Obrigkeit, um eine Panik zu vermeiden, das Gerücht, der Strand werde nach und nach evakuiert. Nichts davon stimmte, denn die Logistik dafür war nicht vorhanden. Aber die Stimmung, vor allem unter den vielen Familien mit kleinen Kindern, entspannte sich erheblich. Statt Kritik regnete es in der Aufarbeitung der Ereignisse Lob.

Oft im politischen Alltag macht der Zweck den Unterschied aus. Konkret: In wessen Interesse wird geschwindelt und getäuscht, im eigenen oder in dem des Gemeinwohls? Panik vermeiden zu wollen ist ehrenhaft. Zu manipulieren, zu vertuschen, zu täuschen und zu tarnen, um einen in vielfacher Hinsicht fragwürdigen Tiefbahnhof durchzusetzen, das Gegenteil. Eine saubere Trennung ist jedoch häufig kaum möglich: Merkel und Steinbrück haben Schlimmeres verhindert, zugleich aber sich selbst vor dem Absturz bewahrt. Und sie haben, als sie ihre wirkungsvolle Luftnummer vor der Presse durchzogen, sicher auch daran gedacht.

Kretschmann: "Wahrheitsfundamentalisten sind nie erfolgreich"

Wie Winfried Kretschmann mit seinen Nebenabsprachen. Er verhieß 2011 die Abkehr vom Durchregieren. Die Popularität erzeugenden Nachwirkungen seiner neuerdings nicht mehr proklamierten "Politik des Gehörtwerdens" helfen womöglich sogar mit, ihn ins höchste Amt der Republik zu befördern. Aus dem Ex-Maoisten ist ein Super-Realo geworden, der die Vorzüge eines in vielen Lebenslagen hilfreichen Pragmatismus entdeckt und längst verinnerlicht hat. Dabei nimmt er die Gefahr in Kauf, sein Publikum zu unterfordern und sogar vor den Kopf zu stoßen. Denn dem wird damit die Urteilsfähigkeit abgesprochen, die Fähigkeit einzusehen, dass fürs große Ganze die einen Maßnahmen wichtiger und die anderen weniger wichtig sind.

"Wahrheitsfundamentalisten sind nie erfolgreich", winkt Kretschmann ab. Und fügt hinzu, dass er diese Erkenntnis "schon sehr lange" besitzt. Keinesfalls erst, seit Kritik auf ihn niederhagelt, weil er gemeinsam mit Thomas Strobl umfangreiche Details am Koalitionsvertrag vorbei beschlossen hat. Die sollten das Licht der Öffentlichkeit erst erblicken, wenn irgendwann in den nächsten fünf Jahren das jeweilige Thema spruchreif und auf die Agenda gehoben werden würde. Ist dem Ministerpräsidenten zu glauben, dass er in diesem Vorgehen tatsächlich ein Instrument sah, das Land gut und unaufgeregt zu regieren? Gerade ihm, der von der großen Mehrheit der Bevölkerung als glaubwürdig und integer eingestuft wird? Oder zeigt sich einmal mehr nur jene abgebrühte Falschheit, die der politischen Kaste unausrottbar unterstellt wird?

Was wäre geschehen, wenn die beiden Koalitionsparteien alle Neben- zu transparenten Hauptabreden gemacht und auf den Tisch gelegt hätten? Das Risiko, dass zumindest der CDU-Parteitag über einem solchen Koalitionsvertrag den Daumen senkt und ganz beträchtliche politische Turbulenzen über Baden-Württemberg hereinbrechen, wäre zweifellos beträchtlich gestiegen. Übrigens hätte die CDU-Basis beim Parteitag zutreffend argumentieren können, dass bestimmte Projekte wie Stellenstreichungen oder Steuererhöhungen unvereinbar sind mit dem, was im Wahlkampf vertreten worden war. Und sich ergo die Politik wieder mal selbst entlarvt. Die Verhandlungen wären mit einiger Wahrscheinlichkeit geplatzt, Kretschmann und Strobl hätten mit abgesägten Hosen dagestanden, kübelweise überschüttet mit Häme. Natürlich nicht zuletzt von denen in der virtuellen Kommentarenloge, denen Politiker es nie recht machen können.

Wahrheitsliebe – eine spezielle Grauzone für Politiker und Politikerinnen

Komödienplots ranken sich um kompromisslose Wahrheitsliebe, Tragödien und Hollywood-Blockbuster. Philosophen entdecken ihre lebenspraktische Ader und publizieren zu dieser speziellen Grauzone für Politiker und Politikerinnen. Als gern zitierte Autoritäten zu Ehren kommen natürlich Hannah Arendt ("Bei näherem Zusehen jedoch zeigt sich erstaunlicherweise, dass man der Staatsräson jedes Prinzip und jede Tugend eher opfern kann als gerade Wahrheit und Wahrhaftigkeit") oder Aristoteles mit seinem Lügner-Paradox ("Dieser Satz ist falsch").

Es gibt aber auch leichtere Kost. Schon in den ebenfalls bewegten Zeiten nach der Wende hatte sich Roger Willemsen den damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vorgenommen und über die Glaubwürdigkeit als "politisch relevante Kategorie" räsoniert: "Entweder heißt es, mit ihm stehen wir im Ausland gut da, sie nehmen uns also nicht für das, was wir sind, dann ist seine Glaubwürdigkeit jene gelungene Irreführung, auf die wir offensichtlich angewiesen sind." Oder es heiße, "dass man ihn über längere Zeit nicht beim öffentlichen Lügen erwischt hat, und das liegt bei Weizsäcker nur daran, dass man sich noch nicht die Mühe gemacht hat, all seine Reden zu vergleichen und ernst zu nehmen".

Frauke Petry schneidet beim Faktenzoom schlecht ab

Absolventen der Kölner Journalistenschule unterzogen sich erst kürzlich in einer aufwendigen Recherche genau dieser Mühe und überprüften Hunderte Aussagen von sieben Politikern in vier Talksendungen auf ihre Richtigkeit. <link http: faktenzoom.de external-link-new-window>Das Ergebnis ist ausgerechnet für eine Parteivorsitzende ernüchternd, die anderen bei praktisch jedem Auftritt vorwirft, es mit der Wahrheit nicht so genau zu nehmen: AfD-Bundessprecherin Frauke Petry musste sich vorhalten lassen, dass mehr als ein Viertel ihrer Einlassungen einem sogenannten Faktenzoom nicht standhielten. Zum Vergleich: Thomas Oppermann (SPD) kam auf neun, Armin Laschet (CDU) nur auf 6,5 Prozent Falschaussagen. Als Petry später Stellung zu dem Befund nehmen sollte, hatte sie keine Zeit. Zugleich wurde eine heftige Debatte im Netz entfacht, überwiegend mit dem Tenor, dass die Untersuchung gar nichts belege und nichts beweise und Petry absichtlich missverstanden worden sei usw. ... Was einmal mehr zeigt: Eine Lüge ist keine, wenn nur der oder die vermeintlich Richtige sie vorbringt.

Und im Umkehrschluss zählt bei Bedarf die Wahrheit nichts. Journalisten des "Morgenmagazins" wollten im aufgeheizten Landtagswahlkampf in Mecklenburg-Vorpommern unter AfD-Anhängern mit Fakten gegen Legenden beim Flüchtlingsthema angehen. Ihr Scheitern war kläglich. Unter Rechten zählt die Realität wenig bis nichts mehr. Wenn für richtig gehalten wird, dass über deutsche Flughäfen heimlich nachts Migranten zu Tausenden eingeschleust werden, weil Angela Merkel als "Kanzler-Diktatorin" das deutsche Volk auslöschen will durch Austausch gegen Fremde – dann werden ganz andere Grenzen überschritten als diejenigen, welche die Flüchtlinge erreichen wollen. Gewissheiten geraten auch bei Durchschnittsbürgern heillos unter die Räder. Und geholfen wird ihnen nicht durch neunmalkluge Pauschalanklagen, Politik und Medien hätten sich den Verlust ihrer Glaubwürdigkeit ja selber zuzuschreiben.

Im heißen Stresstest-Sommer 2011 hat der neu gewählte baden-württembergische Regierungschef "Il Principe" von Niccolò Machiavelli gelesen. Das 18. Kapitel dieses beziehungsreichen Geschenks zur Wahl, erzählte er einmal, habe ihn besonders nachdenklich gestimmt, nämlich die Abhandlung der Frage alle Fragen, ob die Lüge ein legitimes Mittel sei, um erfolgreich zu blieben. Denn: Für Machiavelli ist sogar der Wortbruch erlaubt, wenn der Erfolg eines Vorhabens dadurch gesichert wird. So weit wollte der Ministerpräsident selbst mit seinem Mauschel-Bekenntnis nicht gehen, aber ein paar Schritte in diese Richtung schon: "Unangenehme Wahrheiten schön zu verpacken ist erlaubt, sie zu verschweigen nicht." Gerade zum Zwecke des Machterhalts. Er habe zahllose Situationen erlebt, berichtet der Grüne, "in denen der eine Politiker sagt, er löse ein Problem ohne Schmerzen, und der andere, ohne Schmerzen gehe es nicht". Preisfrage: Wen wählen die Leute? O-Ton Kretschmann: "Natürlich den Ersten."


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11 Kommentare verfügbar

  • chr
    am 13.10.2016
    Antworten
    Gestern wurde im Landtag über die Nebenabreden debattiert.(Mediathek Landtag BW)Herr Strobl hat die Personalie "Goll" genannt.Mit Herrn Goll soll es zu CDU/FDP-Zeiten wohl auch Nebenabreden gegeben haben.Er war damals Justizminister.Und genau deshalb denke ich, wollte die FDP keine Koalition mit…
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