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Ende der Schonzeit

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Das waren noch Zeiten, als sich Grün-Rot 100 Tage nach Amtsantritt im Rosengarten der Villa Reitzenstein selber feierte. Seinem schwarzen Stellvertreter lässt der Ministerpräsident diese Ehre nicht zuteilwerden. Winfried Kretschmann pflanzt am 100. grün-schwarzen Tag lieber einen nach ihm benannten Kaktus.

Sie hatten es wirklich nicht leicht miteinander, die Sozialdemokraten und die Grünen im Sommer vor fünf Jahren. Über allem hing als Damoklesschwert Stuttgart 21. Den roten Projektfans war im Zusammenspiel mit der Bahn gelungen, den Stresstest für den Tiefbahnhof als bestanden schönzureden, von der "Fast-Liebesheirat" (Kretschmann) war keine Rede mehr, eher von getrennten Betten und Gezänk. Und doch stapelten sich zugleich jede Menge Erfolgsbotschaften: Studiengebühren, verbindliche Grundschulempfehlung und Gesprächsleitfaden für Einbürgerungswillige wurden abgeschafft, die Gleichstellung homosexueller Paare im öffentlichen Dienst, die längst überfällige Öffnung der Standesämter für deren Verpartnerung, die Erhöhung der Grunderwerbsteuer zugunsten frühkindlicher Bildung, konkrete Weichenstellungen für das Ende der Atomkraft und die Endlagersuche wurden erreicht. "Ich finde, wir sind gut gestartet", schrieb der Ministerpräsident beiden Koalitionspartnern ins Zeugnis.

Fünf Jahre danach gibt es keine Noten, wiewohl alle Ministerien aufgefordert wurden, der Regierungszentrale ihre 100-Tage-Bilanz zu übermitteln. Da liegen die Zusammenstellungen jetzt, ohne das Licht der Welt zu erblicken. Es gibt keine Freundlichkeiten an die Adresse des Partners, keine gemeinsamen Botschaften zu bereits Geleistetem und den Plänen der kommenden Monate. Stattdessen Kretschmanns kühlen Hinweis, man sei noch in der Phase des "Aufwärmens, Anlernen und Gewöhnung". Dabei will er sich nicht auf die Pelle rücken lassen, auch nicht vom Stellvertreter. Also gehen beide eigene Wege. Thomas Strobl lädt am kommenden Dienstag Medienvertreter in Stuttgart zum traditionellen Grillabend ein. Der Regierungschef ist nach einem privaten Schottland-Trip wieder im Lande, hat aber irgendwann Mitte Juli entschieden, als der Ärger um die zusätzlichen Stellen und vor allem die Nebenabreden mit den Schwarzen einsetzte, dem Koalitionspartner am 100. der ersten Tage die kalte Schulter zu zeigen. 

Nur die Harten kommen in den Garten: Kaktustaufe statt 100-Tage-Feier

Ziemlich derb für seine Verhältnisse: Er nahm eine Offerte an, die seit etwa vier Jahren in irgendeinem Ordner genau darauf wartet. Der Empfinger Kakteenzüchter Holger Dopp und seine Frau wagten jedenfalls nicht mehr zu hoffen, den Landesvater tatsächlich einmal in ihrem Kakteengarten begrüßen zu dürfen. Seit 2011 hegen und pflegen sie rund 300 Arten. Nur die Harten kommen in den Garten, die, die durchhalten können, wenn die sonnigen Tage vorbei sind und der kalte Wind durch den Nordschwarzwald pfeift.

Der Regierungschef hat Kamerateams, Fotografen und Journalisten eingeladen, dabei zu sein, wenn er die Cylindropuntia imbricata "Winfried Kretschmann" einpflanzt und zwei weitere Exemplare in Empfang nimmt: eines für daheim in Laiz und eines für den Park der Villa Reitzenstein. Natürlich wird er Auskunft geben über seine eigene grün-schwarze Zwischenbilanz. In der imponierenden Umgebung der Horber Südhanglage – an sonnigen Augusttagen begeistern mehr als 1000 Blüten die Besucher – werden die Deuter vermeintlicher und tatsächlicher Symbole auf ihre Kosten kommen. Kleiner Tipp: Cylindropuntia imbricata "Winfried Kretschmann" ist das Ergebnis eines aufwendigen dreißigjährigen Ausleseprozesses und muss nicht – wie ihre Artverwandten – einen Meter hoch werden, bis sie zum ersten Mal prachtvoll blüht.

Kakteen im Allgemeinen stehen seit dem legendären Geschenk an Lothar Späth beim Landtagseinzug 1980 für Baden-Württembergs Grüne. Im Besonderen könnten sie ebenjene ersten 100 Tage der beiden ungleichen Partner kennzeichnen. Wenn sich Pessimisten der Blumensprache bedienen, stehen die stacheligen Exoten für Egoismus und Dickköpfigkeit, Optimisten können aus einem entsprechenden Geschenk Ausdauer und Individualität herauslesen. 

Einer spricht und sticht von Anfang an, weshalb die Distanz zwischen den Hauptakteuren der Landesregierung bei jedem gemeinsamen Auftritt mit Händen zu greifen ist. Strobl stellte dem Grünen den Stuhl für 2021 schon vor die Tür, noch ehe die Koalitionsverhandlungen richtig begonnen hatten. Auf keinen Fall, so der CDU-Landesvorsitzende im Tonfall aus seiner Zeit als Generalsekretär, werde die Zusammenarbeit über dieses Datum hinaus fortgesetzt. Im Staatsministerium ist das unvergessen. Dazu hat sich herumgesprochen, dass der Innenminister regelmäßig nicht nur gut redet über den Koalitionspartner, sogar über den Ministerpräsidenten höchstpersönlich. Nicht nur im kleinen Kreis hinter verschlossenen Türen, sondern in einschlägigen Runden in der Bundeshauptstadt. Oder wenn er sich unter den Seinen wähnt, etwa bei der Vollversammlung der IHK Stuttgart oder beim Sommerempfang des Wirtschaftsrats Baden-Württemberg.

Vize-MP Strobl redet nicht nur gut über MP Kretschmann

In den Zeiten von Twitter und Facebook bleibt dergleichen nicht lange geheim. Soll es vermutlich auch nicht. So spricht sich herum, mit welchem Unterton der Schwarze seine 56 Lenze gegen Kretschmanns 67 ausspielt, dass er ihm Einfluss in der Bundespartei abspricht und überhaupt Reputation in Berlin, wie er Stuttgart zum Provinznest erklärt und sich selbst zum einzigen Garanten für die Zukunft des schnellen Internets im Land.

Dabei wird die eigene Positivliste gedehnt, denn wirklich lang ist sie nicht. An Leistungen aus den ersten hundert Tagen, von denen der Landesinnenminister bemerkenswert viele in der Bundeshauptstadt verbrachte, hat er nicht wirklich viel zu bieten. Die – im reichen Baden-Württemberg selbstverständliche – Soforthilfe nach den Unwettern des Frühsommers, einen Verfassungsschutzbericht des Jahres 2015, ein Bodycam-Gesetz, das so ähnlich noch sein Vorgänger Reinhold Gall (SPD) vorbereitet hatte, magere dreißig neue Stellen im Kampf gegen den Terror oder die Übergabe mehrerer Polizeifahrzeuge. Außerdem hat der Digitalisierungsminister, wie er sich gern titulieren lässt, knapp elf Millionen Euro für den Breitband-Ausbau lockergemacht. Den Ruhm muss er sich allerdings mit Peter Hauk teilen, dem ins Agrarressort zurückgekehrten Parteifreund, der ebenfalls etwas abbekommen will vom Lob der begünstigen Kreise und Kommunen. 

Überhaupt sind viele Schwarze nicht nur den Grünen noch immer nicht grün. Sie belauern sich auch gegenseitig, Strobl wird nicht warm mit der Fraktion und umgekehrt. Fraktionschef Wolfgang Reinhart sieht sich als Stabilisator der Koalition, unternimmt aber außer dienstäglichen Treffen im Innenministerium wenig, um Strobl zu seinem Platz im Stuttgarter Kräftespiel zu verhelfen. Auch seine 100-Tage-Bilanz zieht er ganz allein. Der Honorarprofessor an der Hochschule Heilbronn hat 24 Jahre Landtagserfahrung. Bei seinem Einzug war Strobl ein kleiner parlamentarischer Berater. Reinhart nutzt seine Netzwerke und seine lange Bekanntschaft mit Kretschmann gerne für eigene Ambitionen. Kürzlich war der "liebe Winfried" beim "lieben Wolfgang", beim Empfang zu dessen Sechzigstem. Ersterer wusste den Anlass zu nutzen und würdigte den ehemaligen Bevollmächtigten des Landes beim Bund und in Europa als "Merkels großen Strippenzieher". Der strahlte wie ein Honigkuchenpferd, berichten Parteifreunde, während Strobl die Miene gefror. Und Kretschmann setzt noch ein drauf: "Deine klaren Worte finden Beachtung über die Fraktionsgrenzen hinweg: Warum hat die CDU dich in den letzten fünf Jahren versteckt?"

Von Verstecken kann keine Rede mehr sein. Reinhart schnappte dem von Strobl favorisierten Ex-Finanzminister Willi Stächele den Fraktionsvorsitz weg, hat gleich in den ersten Wochen ein Vertrauensverhältnis zur Grünen-Fraktion und seinem Pendant Andreas Schwarz aufgebaut. Und er hat sich Kretschmanns Anerkennung erworben mit klaren Ansagen an die Adresse der Rechtpopulisten von der AfD. Aber der Ministerpräsident kann ja schlecht mit dem zweiten starken Mann in der CDU gemeinsam die erste Bilanz ziehen.

Auch in Sachen 100 Tage ist Reinhart, der den Fraktions- sogar höher als den Parteivorsitz bewertet, vorgeprescht. Seine eigene Bilanz hat er schon öffentlich präsentiert, verbunden mit warmen Worten an die Adresse der Grünen im Landtag: Es sei sehr schnell gelungen, die Zusammenarbeit auf eine gute und vertrauensvolle Basis zu stellen und jedem die nötige Beinfreiheit zu lassen. "Wir haben sehr konstruktiv begonnen", sagt er und weiß genau, dass das angesichts der vielen Nickligkeiten bei so zentralen Themen wie Haushalt, Flüchtlinge oder Ablösung der Regierungspräsidenten von Tübingen und Stuttgart bestenfalls die halbe Wahrheit ist. Immerhin räumt Strobls Gegenspieler im eigenen Lager indirekt ein, dass der Landesregierung die eine große Zukunftsvorstellung fehlt – indem er sie fordert. "Wir müssen ein Bild von Baden-Württemberg 2025 entwerfen."

Da hilft ein Blick über den Tellerrand. Die, die davon zumindest eine Skizze im Kopf haben müssten, der Ministerpräsident und sein Stellvertreter, gehen mit ihren Gattinnen zumindest schon mal gemeinsam auf Reisen: zwei kurze Tage, aber immerhin. Strobl darf Kretschmann zur Privataudienz bei Papst Franziskus begleiten. Von dessen Ausstrahlung und der Fähigkeit, die richtigen Worte zu finden, zeigte sich jüngst nach ihrem Besuch im Vatikan auch die Kanzlerin beeindruckt. "Er hat uns Politiker aufgefordert", berichtete sie danach, "drei Dinge zu beachten: die Fähigkeit zum Dialog, die Fähigkeit zur Integration und die Fähigkeit, etwas hervorzubringen." Diese Ansprache könnte der auf Umwelt und Bescheidenheit großen Wert legende Pontifex glatt recyceln und den Baden-Württembergern mit auf den Heimweg geben.


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5 Kommentare verfügbar

  • Kornelia
    am 16.08.2016
    Antworten
    Kann mir mal jemand erklären, warum "unsere" Politprominenz ( oft incl. Wirtschafts- Medien-, Wissenschaftsverteter oder sogar finanz- und investiheuschrecken) dauernd zum Papst müssen?
    War nicht mal ein Ziel unserer Staatsverfassung: Trennung Kirche-Staat?

    Gibt der Papst wie im Mittelalter…
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