KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Warum nicht zu Ende gebaut wird

Warum nicht zu Ende gebaut wird
|

 Fotos: Joachim E. Röttgers 

|

Datum:

Seit 20 Jahren beschäftigt sich unser Autor kritisch und kenntnisreich mit Stuttgart 21. Die Zahlen des Bundesrechnungshofs werden noch einen richtigen Knall geben, prophezeite er bei der S-21-Kundgebung am vergangenen Samstag. Hier seine gekürzte Rede.

Vor ziemlich genau drei Jahren, am 22. Juli 2013, sprach ich hier von der "Sickerwirkung der Wahrheit" , die es dann gibt, wenn man weiterkämpft und diese Wahrheit immer neu untermauert und aktualisiert. Das war ein Grundgedanke, wie er auch von Peter Conradi, ebenfalls hier auf diesem Platz vor rund zwei Jahren, formuliert wurde. Er sprach damals von dem einen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen würde. Aber auch davon, dass das Fass überlaufen werde.

Jetzt gab es ja viele Krisen beim Projekt S 21. Und die Beton-Mafia und die Spätzle-Connection haben sie alle überstanden. Ich zähle im letzten Jahrzehnt, seit es eine relevante Bewegung gegen Stuttgart 21 gibt, fünf solcher Krisen.

Diejenige von Ende 2007, als 67 000 Unterschriften für den Bürgerentscheid gegen S 21 übergeben wurden. Und als dann im Dezember der Stadtrat mit 45 zu 15 einen Antrag auf Zulassung eines Bürgerentscheids ablehnte.

Diejenige vom November 2009, als eine große Kostenexplosion auf 4,9 Milliarden Euro bekannt wurde. Die Bahn setzte einen neuen Infrastrukturvorstand mit Namen Volker Kefer ein. Die Kosten wurden weggelächelt und schöngerechnet. Am Ende wurde der "Kostendeckel" von 4,5 Milliarden Euro verkündet.

Die dritte Krise ist eine Dauerkrise, die es in den Jahren 2010 und 2011 gab: mit dem Aufleben der Montagsdemos, mit der Polizeiaggression am 30. September 2010 und einem halben Dutzend Massendemos. Diese Krisensituation wurde im Sinne der Tunnelbaumafia durch die Geißler-Schlichtung, mit der Landtagswahl und den dann gewendeten Grünen und mit dem manipulativen Volksentscheid befriedet.

Es gab sodann die vierte Krise Anfang 2013. Als der Kostendeckel gesprengt und wie aus heiterem Himmel zwei Milliarden Euro Mehrkosten bekannt gemacht wurden. Jetzt bekamen die Bahnaufsichtsräte erstmals kalte Füße und volle Hosen. Diese Krise wurde durch massiven, gesetzwidrigen Druck auf die Aufsichtsräte gemeistert. Die Kostenerhöhung wurde durchgewinkt. Derjenige, der im Auftrag der Kanzlerin die Drecksarbeit gemacht hatte, wurde kurz darauf in den Bahnvorstand gehievt. Seine Name: Roland Pofalla.

Und jetzt also nach dieser Zählweise im Sommer 2016 Krise Nummer fünf. Sie wird definiert mit der Juni-Aufsichtsratssitzung. Mit dem dort beschlossenen neuen Auftragsgutachten zu S 21. Und mit dem Abgang von Volker Kefer.

Es gibt in dieser jüngsten Krise zunächst eine enorme Zunahme dieses Tröpfchen-ins-Fass-Kullerns: Der Bundesrechnungshof hat nun bereits acht vertrauliche "Prüfmitteilungen" zu S 21 erarbeitet. Das gibt es meines Wissens bei keinem anderen Projekt der letzten Jahrzehnte. Fünf Prüfmitteilungen wurden bislang vorgelegt und weitgehend öffentlich gemacht. Aktuell laufen drei weitere parallel. Ich weiß aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen, dass das noch einen richtigen Knall geben wird.

Nun stehen ja für uns bei der S-21-Kritik natürlich die sachlichen und die für Stadt und Menschen wichtigen Aspekte im Zentrum: der Abbau der Kapazität, der Schrägbahnhof, der Brandschutz, die ungeklärte Lage auf den Fildern, die Gäubahn, das Grundwasser und die Zerstörung von Park und Stadtzentrum. Die S-21-Betreiber kümmert das alles wenig. Sie wissen nur zu gut, dass rein technisch das Projekt zerstörerisch und am Ende nicht durchführbar ist. Doch das wird weggedrückt; diese Ereignisse treten außerhalb des Job-Horizonts dieser Herren ein.

Was ihnen jetzt jedoch krass zu schaffen macht, ist dies: dass bereits 2017 das Geld, das für S 21 ausgegeben werden muss oder für das Aufträge zu erteilen sind, alle ist. Dass die zu erwartenden Mehrkosten bei plus fünzig Prozent(!) liegen. Sie liegen bei der Hälfte über dem März-2013-Betrag von 6,8 Milliarden Euro. Es ist zugleich doppelt so viel wie der Betrag, der bei der Volksabstimmung als S-21-Obergrenze, als "Kostendeckel" definiert wurde. Und es ist rund fünf Mal so viel, wie 1995 in der ersten S-21-Machbarkeitsstudie veranschlagt wurden.

Diese Herren sind jetzt extrem beunruhigt, weil – dank unserer Wachsamkeit, dank des Engagements unserer Juristen, allen voran desjenigen von Eisenhart von Loeper – die Landesregierung und die Stadt Stuttgart nicht so einfach wie unter Teufel-Oettinger-Mappus neues Geld locker machen können.

Und diese Herren haben Angst, selbst belangt zu werden. Es waren Grube und Kefer, die sagten: Der Kostendeckel beträgt 4,5 Milliarden Euro. Sie sagten: Jenseits von 4,5 Milliarden Euro wird S 21 unwirtschaftlich. Jetzt geht es um einen Betrag, der um 115 Prozent über diesem Kostendeckel-Betrag liegt. Mehr als das Doppelte. Es gibt eigentlich keine Steigerung von "unwirtschaftlich". Doppelt unwirtschaftlich macht kaum Sinn – ist aber der Fall bei Stuttgart 21.

Und dann gibt es bei dieser Krise Nummer fünf diese außerordentliche Personalie, die diese Krise zur exquisiten macht: Das Lächelmonster dankt ab.

Die Liste der Abgänge von S-21-Topleuten ist ja zweifellos lang und illuster. Doch der Abgang von Kefer ist etwas Besonderes: Der Mann ist 60 Jahre alt. Er sollte Grube beerben und Bahnchef werden. Er hätte, wenn seine Angaben hinsichtlich der S-21-Fertigstellung auch nur annähernd zutreffend wären, als Bahnchef den Tiefbahnhof Stuttgart 21 mit Eintritt ins eigene Rentneralter – 2021, 2022, 2023 – eröffnet.

Doch Kefer wusste: Das wird nichts mehr. Und er dürfte vor allem auch Angst gehabt haben – und er muss weiterhin Angst haben! –, dass er juristisch belangt wird: dafür, dass er ein Projekt wider besseres Wissen – und bei Verstoß gegen das Aktiengesetz! – hauptverantwortlich betrieben hat, ein Projekt, das unwirtschaftlich ist und das die Steuerzahler unnötigerweise mehrere Milliarden Euro gekostet haben wird. Dieser Mann macht sich jetzt vom Filder- und Gipskeuper-Acker. Er spekuliert darauf, dass, wenn er jetzt geht, er noch "Möhrchen" bekommt, er noch eine Millionen-Abfindung erhält. Die er dann gewissermaßen – im Wortsinn: gewinnbringend lächelnd – entgegennehmen würde.

Wenn all das so wie dargestellt ist, warum gibt es dann weiter diesen grotesk anmutenden Durchhaltewillen bei den S-21-Betreibern? Warum ziehen die im Bahntower und im Bundeskanzleramt nicht gemeinsam den Stecker oder, um im Bild zu bleiben, die Notbremse?

Meine Antwort lautet zunächst: Natürlich werden diejenigen, die seit 22 Jahren dieses Monsterprojekt betreiben, nicht umgehend kapitulieren. Es geht schließlich um ein gigantisches Bauvorhaben; S 21 ist das größte Bauvorhaben in dieser Republik. Deutlich größer als der Berliner Airport und die Elbphilharmonie zusammengenommen.

Es geht sodann um ein enges Geflecht von Finanz-, Industrie-, Politik- und Medieninteressen, das im Fall einer Aufgabe von S 21 tiefe Risse bekommt oder gar zerreißt. Dieses Geflecht mit seinen Verästelungen und Verankerungen wurde vielfach beschrieben in Kontext und von Josef-Otto Freudenreich.

Es geht selbstverständlich, wie von mir bereits 1996, wie von Joe Bauer in seiner Rede dargestellt, um ein riesiges Immobilien- und Spekulationsprojekt, an dem man in Stuttgart noch jahrzehntelang verdienen will – und das auf andere Stadtzentren in finanzieller Hinsicht ausstrahlen soll.

Winfried Hermann hat diese Genesis mal ganz gut beschrieben, bevor er auf dem Ministersessel Platz nahm und seine Gesinnung an der Garderobe abgab. In einer Rede, die Hermann hier im Stuttgarter Raum 2010 hielt und die auf seiner eigenen Website wiedergegeben wurde, berichtete er davon, dass der Bahnchef der 1990er-Jahre, Heinz Dürr, Anfang der 1990er-Jahre in New York gewesen sei, dass es dort zwar Eisenbahnen gebe, dass man diese aber nicht sehe. Er sei dann in Tokio gewesen. Auch dort gebe es zwar Eisenbahnen. Doch man könne sie nicht sehen. Und dann, so Winfried Hermanns Bericht weiter:

"Dann ist dem Herrn Dürr ein Licht aufgegangen – das hat er mir eines Tages erzählt. Ja, das hat er mir erzählt: Herr Hermann, da ist mir ein Licht aufgegangen, da sind wir mit dem Hubschrauber über Stuttgart geflogen, über die Gleise. Dann ist mir klargeworden: Das sind ja Filetstücke, mitten in der Stadt! Wenn wir den Bahnhof unterirdisch machen, wie in New York, dann verkaufen wir das Gelände zu den besten Preisen, den Quadratmeter zu 10 000 Mark oder mehr ... Das war das Konzept, das Dürr für Stuttgart und viele andere Orte als genial angesehen hat. Und fortan war er der Treiber."

Womit belegt ist: Der Verantwortliche im Stuttgarter Verkehrsressort weiß sehr genau, dass Stuttgart 21 dem Bahnverkehr nichts bringt, diesen schädigt; dass es sich um ein reines Projekt der Immobilienspekulation handelt.

Es geht sodann auch um Psychologie – um die Durchsetzung dieses männlichen Machbarkeitswahns, dieser Manie, nicht nur Menschen zu beherrschen und diese zu manipulieren, sondern auch die Natur zu beherrschen, sie nach Herrenknechts Maschinenart zu formen, zu pressen, zu durchbohren, zu richten: sie hinzurichten. Ein Wahn, der sich in immer absurderen Großprojekten materialisiert und der doch so peinlich banal und dumpf ist.

Kefer sprach hier in Stuttgart vor der STUVA e. V. im November 2013. Diese Gesellschaft ist ebenso unterirdisch wie sie übersetzt heißt: Studiengesellschaft für unterirdische Verkehrsanlagen. Das klingt wie ein kleiner, konspirativer Laden. Doch Kefer sprach dort auf dem STUVA-Kongress vor 1600 Leuten. Er führte aus, dass es aktuell im deutschen Schienennetz 692 Tunnel mit einer Gesamtlänge von 492 Kilometer Länge gebe. Und dass man nunmehr in den nächsten 15 bis 20 Jahren weitere 184 Tunnelkilometer im Volumen von 25 Milliarden Euro bauen werde.

Man muss sich diese Proportionen mal zu Gemüte führen: In 179 Jahren deutscher Eisenbahn wurden also knapp 500 Tunnelkilometer gebaut. Doch in den nächsten eineinhalb bis zwei Jahrzehnten sollen nochmals 40 Prozent hinzukommen. Und das bei schrumpfendem Netz. Ohne dass sich zwischenzeitlich neue Mittelgebirge aufgetürmt hätten. Auch hat sich die Endmoränenlandschaft nicht neu sortiert.

Vor allem aber geht es jetzt den S-21-Betreibern um das ganz große große Ganze. Bereits 2011 hatte die Kanzlerin die Richtung vorgegeben und gesagt: Stuttgart 21 müsse kommen, "sonst ist Deutschland unregierbar". 2013 stellte Finanzminister Wolfgang Schäuble fest: "Es gibt jetzt ein gesamtstaatliches Interesse an dem Projekt Stuttgart 21."

Solche Worte hört man heute eher nicht mehr. Dennoch werden aktuell die Herren Schäuble und Gabriel und die Kanzlerin in Berlin und in der Schäuble-Schwiegersohn Strobl und die Grünen Kretschmann und Kuhn in Stuttgart überlegen, wann ein Abrücken von Stuttgart 21 mit dem geringsten Gesichtsverlust verbunden sein würde: jetzt? Noch vor der Bundestagswahl? Oder am besten nach derselben? Wobei sie sich bei der letztgenannten Option die Frage stellen werden: Halten wir das so lange durch? Gibt es für 2017 "Zwischenfinanzierung", getarnt als Optimierungen da und dort: Gäubahn, Fildern usw.? Vor allem wollten sie gern, dass das klammheimlich erfolgen kann. Angesichts der heutigen Demonstration ist das nicht möglich.

Und es geht um die Frage, ob ein Ausstieg ohne Gesichtsverlust, als Umstieg stattfinden kann. Für diese letztgenannte Option gibt es seit gestern neue höchst praktische Vorschläge seitens der Gegnerinnen und Gegner von Stuttgart 21.

Warum glaube ich persönlich an den Sieg unserer Bewegung gegen Stuttgart 21? Zunächst einmal die beeindruckend lange Liste der politischen Leichen aufseiten der S-21-Betreiber: Schuster, Drexler, Mappus, Gönner, Garber, Azer, Kefer ... Sie haben alle wegen des Widerstands der Bewegung gegen S 21 und aus "objektiven" Gründen wie Nichtfinanzierbarkeit und technische Nichtdurchführbarkeit schlapp gemacht. Diese Liste wurde bislang fast von Jahr zu Jahr um einen Aussteiger-Promi angereichert.

Sodann gibt es diese bundesweit einmalige Anzahl von Aktivitäten gegen Stuttgart 21: mehr als ein Dutzend Großdemos, Dutzende Konferenzen, Kongresse, Seminare, Veranstaltungen, Tagungen zu und gegen Stuttgart 21. Dann die Kontinuität der Montagsdemos – darunter übermorgen die stolze Zahl der 330. Montagsdemo. Und es gibt in Stuttgart diesen kreativ-originellen Beitrag zur Optimierung des deutschen Postwesens: eine Adresse, bei der die Zustellung von Post, Päckchen und Paketen rund um die Uhr gewährleistet ist: Arnulf-Klett-Platz, 70173 Stuttgart, Adressat. Mahnwache. Heute seit sechs Jahren aktiv.

Besonders wichtig ist: Im Fall von Stuttgart 21 gibt es eine völlige Umkehr beim Thema Zukunftsfähigkeit. Gut eineinhalb Jahre lang reklamierten die Proler, die S-21-Befürworter, die Zukunft für sich. Die Rede war von der gewaltigen "Magistrale Paris–Stuttgart–Bratislava–Budapest". Immer wieder ging es um Zeitgewinne, die alle Bahnfahrenden im Raum Stuttgart mit S 21 erzielen würden. Die Bundeskanzlerin hatte im Bundestag erklärt: "Ohne Stuttgart 21 werden wir den Anschluss an die Zukunft verlieren." Oder auch: "Bei Stuttgart 21 geht es um die Zukunftsfähigkeit Deutschlands."

Solche Zitate gibt es heute so gut wie nicht mehr. Es ist dann nur der 150-Prozent-Konvertit Fritz Kuhn, OB dieser Stadt, der jüngst noch keck feststellte: "Die Stadt Stuttgart hat ein elementares Interesse, dass das Bahnprojekt bestens verwirklicht wird."


Der gebürtige Horber Winfried Wolf (67) beschäftigt sich seit 1996 mit Stuttgart 21. Er ist Sprecher von Pro Bahn Berlin-Brandenburg, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac und beriet bis 2014 die Linke in verkehrspolitischen Fragen.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


14 Kommentare verfügbar

  • by-the-way
    am 26.07.2016
    Antworten
    @ Gela

    Zitat:
    "(...) und daß wir trotzdem in einem Staat leben, in dem Freiheit, Gerechtigkeit und Friedlichkeit in einem Maße verwirklicht werden, von dem andere Länder nur träumen können."

    Das klingt mir zu sehr nach Vergleichen von "schlecht mit schlechter", da ist gar nichts gewonnen.
Kommentare anzeigen  

Neue Antwort auf Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!