KONTEXT:Wochenzeitung
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Man darf halt nicht auf fremde Dächer klettern

Man darf halt nicht auf fremde Dächer klettern
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Was ist schlimmer: Ladendiebstahl oder unbefugtes Betreten fremden Geländes? Für die Staatsanwaltschaft Stuttgart ist das klar. Fünfeinhalb Jahre nach der "Stürmung des Grundwassermanagements" verfolgt sie mit aller Härte Menschen, die 2011 dabei waren. Ladendiebe haben dagegen die erste Tat frei.

Der 20. Juni 2011 war ein schöner Frühsommertag, an dem sich gegen 18 Uhr ein paar Tausend Menschen vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof versammelten, um wie jeden Montagabend gegen Stuttgart 21 zu demonstrieren. 347 solche Demos hat der Protest gegen das Bahnprojekt bisher auf die Beine gestellt; alle verliefen friedlich – bis auf diese eine.

Gegen 19.10 Uhr treten plötzlich schwarz gekleidete Vermummte in Erscheinung, die in der Straße am Schlossgarten, die es damals noch gibt, einen Bauzaun aus den Angeln heben, der das Gelände des ehemaligen Busbahnhofs vor unbefugtem Betreten schützt. Die Fläche gehört zum benachbarten Grundwasser-Management (GWM) und wird von der Betreiber-Firma Hölscher als Lagerplatz genutzt. Die Vermummten fordern die Menge auf, den Platz zu besetzen. Auf 120 Meter Länge wird der Zaun niedergetrampelt, "mehrere hundert, möglicherweise tausend" Menschen, so heißt es später im Polizeibericht, betreten daraufhin – widerrechtlich, aber ungehindert – das Gelände. Und schauen sich um. Die meisten jedenfalls.

Die kleinere Gruppe stellt auch Dummheiten an, lässt Luft ab aus Autoreifen, begeht Sachbeschädigungen, klettert aufs Dach des GWM. Auch ein Silvesterknaller geht in die Luft. Doch die ist bald draußen aus der "Party": Um 22 Uhr ist das Gelände beinah geräumt, gegen Mitternacht haben sich alle getrollt. Mit keinem Wort hat die Polizei, die von Anfang bis Ende mit Hundertschaften vor Ort ist, in ihren Lautsprecherdurchsagen aufgefordert, das Gelände zu räumen. Mit keinem Wort wurde erwähnt, dass die "Besetzer" gerade Landfriedensbruch begehen.

Unglaublich – anderthalb Millionen Euro Sachschaden

Beides gehört mit zu den zahlreichen Ungereimtheiten, die – bis heute unaufgeklärt – jenen "Sturm aufs Grundwassermanagement" begleitet, zum Teil überhaupt erst möglich gemacht haben. Kontext hat darüber im Juni 2013 ausführlich berichtet; die darin aufgeführten Sachverhalte blieben bis heute ebenso unwidersprochen <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik haeusslers-schwerstes-geschuetz-1234.html external-link-new-window>wie die aufgeworfenen Fragen unbeantwortet. Und weder die Stuttgarter Polizei noch die lokalen Medien haben jemals offiziell richtig gestellt, wie übertrieben und falsch ihre offiziellen Verlautbarungen und die Berichterstattung über den Vorfall am nächsten Morgen und in den Tagen danach waren. Anderthalb Millionen Euro Sachschaden, hieß es in den Schlagzeilen, und von Polizisten war die Rede, die um ihr Leben rangen. Nichts davon war auch nur annähernd zutreffend.

Für die Staatsanwaltschaft Stuttgart und deren politische Abteilung 1, damals noch unter dem berüchtigten Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler, war der Vorgang dennoch ein gefundenes Fressen. Auf Häußlers Weisung hin bildet sich bei der Stuttgarter Polizei die "Ermittlungsgruppe Grundwasser", die alsbald mehrere hundert Täter identifiziert, die am 20.6.2011 unbefugt das GWM-Gelände betreten haben. Gegen 168 davon beantragt die Staatsanwaltschaft Strafbefehle. Wegen Landfriedensbruchs und schweren Hausfriedensbruchs. Die ganz große Keule: Minimum Geldstrafen zu 90 Tagessätzen, also drei Nettogehälter, bis hin zu mehrjährigen Haftstrafen. Auch wenn den Betroffenen nichts anderes nachgewiesen werden kann, als dass sie eben dort waren.

Bemerkenswert ist dabei zweierlei: Zum ersten der Umstand, dass die Polizei, die an jenem Abend angeblich nicht genug Personal hatte, um den GWM-Zaun – wie bei jeder anderen Demo zuvor – von innen zu schützen, doch so viel "Dokumentations- und Beweissicherungskräfte" und noch mindestens <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik kurz-vorm-schusswaffengebrauch-1274.html external-link-new-window>ein Dutzend zivile Ermittler vor Ort hatte, dass die Staatsanwaltschaft hernach aus Beweismitteln schöpfen konnte, die sage und schreibe 7889 Fotos, 251 Videos und 137 Youtube-Filme umfassten. (Um letztere im Original zu kriegen, wurden mehrere Wohnungen durchsucht. Auch von Menschen mit Presseausweisen).

Kein Promi-Demonstrant wurde je behelligt

Zum zweiten der Umstand, wen die Polizei und die ihr vorgesetzten Staatsanwälte auf diesen Fotos erkannten – und vor allem wen nicht. Reichlich Demo-Prominenz war nämlich unbefugt mitmarschiert aufs GWM-Gelände an jenem Abend, darunter Abgeordnete von Stadt-, Land- und Bundestag sowie reichlich Leute, deren Konterfei regelmäßig in den Medien aufscheint. Kein Promi wurde von der Staatsanwaltschaft deshalb je behelligt. In diesem Licht sei <link http: www.kontextwochenzeitung.de debatte steinfest-denkt-1379.html external-link-new-window>der Text von Heinrich Steinfest empfohlen, der sofort nach seiner Begehung zur Feder griff.

Für viele der Beschuldigten war es der erste Kontakt mit der Justiz im ganzen Leben. Einige reagierten panisch und wollten die Sache so schnell wie möglich vom Tisch haben. Von fünfstelligen Beträge, erzählen Anwälte, die bezahlt worden seien, obwohl man dringend davon abgeraten hatte. Denn schnell wurde auch klar: Nicht alle Amtsrichter Stuttgarts folgten der Sichtweise des Oberstaatsanwalts Häußler, keiner konnte den angeklagten Landfriedensbruch erkennen, mitunter nicht mal Hausfriedensbruch, wenn tatsächlich nichts anderes vorlag, als dass jemand das Gelände betreten hatte.

Dann blamierte sich auch noch gnadenlos das Amtsgericht Stuttgart, das <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik voellig-unbefangen-233.html external-link-new-window>eine Richterin für befangen erklären musste, auf deren Schreibtisch allein 48 solche Verfahren lagen. Und dann ging Häußler vorzeitig in Rente und dem ein oder anderen bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart ging langsam ein Lichtlein auf: Ob es denn wirklich gescheit gewesen war, diesen besessenen Strafverfolger so fuhrwerken zu lassen?

Mit Häußlers Nachfolgerin jedenfalls haben Anwälte in 2014 und 2015 viele dieser Verfahren vom Tisch gekriegt. Wegen geringer Schuld und gegen geringfügige Bußen wurden 78 Verfahren eingestellt, darunter nicht wenige, bei denen anfangs Geldstrafen bis zu 8000 Euro gefordert waren. Es sah so aus, als nehme die Sache am Ende dann doch noch einen vernünftigen Ausgang.

Und plötzlich wird wieder abgestraft – wegen der Staatsanwaltschaft

Doch es waren nicht alle Verfahren erledigt.

Und so finden seit einigen Wochen vorm Stuttgarter Amtsgericht wieder Verhandlungen statt in Sachen "Sturm aufs Grundwassermanagement". Fünfeinhalb Jahre danach werfen Mitglieder der politischen Abteilung 1 der Staatsanwaltschaft Stuttgart Beschuldigten wieder Landfriedensbruch vor, weisen Amtsrichter diesen Vorwurf wieder zurück und verknacken trotzdem zu schmerzhaften Geldstrafen, begleitet vom hilflosen Hinweis, die Staatsanwaltschaft werde sich so und so nicht auf eine Einstellung einlassen. Das habe die Staatsanwaltschaft signalisiert.

Was ist da passiert?

Erstmal nichts oder zu wenig. "Die Masse der Beschuldigten und die Masse der Beweismittel", sagt eine Amtsrichterin in einer Urteilsbegründung, habe eben dazu geführt, dass es so lang gedauert hat, bis endlich verhandelt werden konnte. Fünfeinhalb Jahre leben müssen mit der Bedrohung, in den Knast zu kommen, wenn's dumm läuft, während andere fürs gleiche Vergehen ohne alle Auflagen davongekommen sind?

Stefan S., 39 Jahre alt mittlerweile, Speditionskaufmann von Beruf, verheiratet, derzeit Vater werdend, unbescholten und nicht vorbestraft, hat genau das durchgemacht. Zu 25 Tagessätzen à 50 Euro hat ihn das Amtsgericht dieser Tage schließlich verurteilt, zudem hat er die Kosten des Verfahrens zu tragen. "Man darf einfach nicht auf fremde Dächer klettern!", hat ihm die Richterin ins Stammbuch geschrieben.

Was hat sich Stefan S. zu Schulden kommen lassen? Er hat das GWM-Gelände betreten, so wie gut 1500 andere auch. Er hat nichts kaputt gemacht, niemanden bedroht oder belästigt und das Gelände freiwillig wieder verlassen. Aber: Er ist aufs Dach des GWM geklettert. Um zu filmen. Besser gesagt: um überhaupt Empfang zu haben oder zu kriegen und live ins Internet streamen zu können, was da grad passiert in Stuttgart. Denn auch das ist eine der Merkwürdigkeiten des 20.6.2011: Nirgends in unmittelbarer Nachbarschaft des Stuttgarter Hauptbahnhofs gibt es ein Netz in dieser Nacht. Und Stefan S. ist ehrenamtlich für Cams 21 tätig, einer Plattform für Livestreams. Amateurjournalisten sind das, aber sauber aufgestellt als eingetragener Verein und mit Presseausweis in der Brieftasche. Für ihn ist Großalarm an dem Abend.

Mit der ganzen Härte wird gegen Cams 21 vorgegangen

Seine und die Arbeit seiner Kollegen ist äußerst wertvoll im Sinne der Wahrheitsfindung, aber – und vermutlich gerade deswegen – sehr unbeliebt bei der Polizei. Gegen sieben weitere Cams-21-Rechercheure, die an dem Abend auf und rund ums GWM-Gelände unterwegs sind, hat die Staatsanwaltschaft ermittelt, in fünf Fällen Wohnungsdurchsuchungen anberaumt und Fotos und Videos beschlagnahmt, die teils schon Tage lang im Internet zu besichtigen waren, andernteils rausgerückt worden wären, wenn die Ermittler auf normalem zwischenmenschlichem Wege darum gebeten hätten.

Aber nein, um Zusammenarbeit ging es den Ermittlungsbehörden da nicht, sondern um Einschüchterung. Der Verdacht jedenfalls liegt nahe, denn Kamerateams von SWR und ZDF waren zeitgleich von freundlichen Polizisten übers Gelände geführt worden, um die angeblich millionenschweren Zerstörungen zu dokumentieren. Und auch Berichterstatter und Fotografen der Stuttgarter Zeitungen hatten das Gelände betreten dürfen, ohne hinterher von Häußler belangt zu werden.

Von den acht beschuldigten Cams-21-Redakteuren wurden die Verfahren gegen vier ohne Auflagen eingestellt, drei weitere einigten sich auf die Zahlung von 150 Euro, 400 Euro sowie 30 Arbeitsstunden. Zum Teil sind die Verfahren bereits seit Jahren erledigt. Stefan S. dagegen stand erst Ende Oktober 2016 vor Gericht. Ihn kostet der (journalistische!) Spaß von damals jetzt – einschließlich Verfahrens- und Anwaltsgebühren – satte zwei Nettogehälter.

Seit Guido Wolf im Amt ist, wird wieder abgeurteilt

Warum? "Es kann doch nicht vom Zeitpunkt der Verhandlung abhängen, ob jemand verurteilt wird oder nicht", sagt der Freiburger Anwalt Frank-Ulrich Mann, der eine Vielzahl von Mandanten in gleicher Sache vertreten und die Verfahren vom Tisch gekriegt hat. Nicht so mit Stefan S., weshalb Mann noch im Gerichtssaal ankündigt, in Berufung zu gehen. Und draußen vor der Tür einen Verdacht zitiert, der halbwegs auf die Sprünge hilft: Seit dem Frühsommer hat Baden-Württemberg wieder einen Justizminister, der der CDU angehört. Guido Wolf heißt der Mann, der eigentlich Ministerpräsident werden wollte.

"Es trifft nicht zu, dass es bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart eine solche Anweisung gibt", antwortete deren Sprecher Jan Holzner auf die Kontext-Anfrage, wonach Gerüchten zufolge die Staatsanwaltschaft weisungsgemäß Verfahrenseinstellungen in Stuttgart-21-Angelegenheiten grundsätzlich nicht mehr zustimmen dürfe. Stattdessen sei es "in den zwölf derzeit noch bei Gericht anhängigen Strafverfahren" im Zusammenhang mit der GWM-,,Erstürmung" so, dass eben grundsätzlich "keine Zustimmung zu Verfahrenseinstellungen erteilt wird". Der Grund dafür liege "in der rechtlichen Wertung, ... im individuellen Tatbeitrag und/oder in der Person der Angeklagten liegende Umstände wie z.B. Vorstrafen".

Bei dem Familienvater Stefan S. waren sich Staatsanwältin und Richterin einig, dass ihm – im Namen des Volkes – sein individueller Tatbeitrag ("Man darf halt nicht auf fremde Dächer klettern!") zwei Monatsgehälter wert sein muss. So weit so gut.

Wäre allerdings Stefan S. nicht beim unbefugten Betreten eines Geländes und Besteigen eines Gebäudes erwischt worden, sondern beim Klauen im Kaufhaus, wäre er diesen beiden Damen nie begegnet, schon gar nicht mit fünfeinhalbjährigem existenzbedrohendem Vorlauf. Denn Ladendiebstahl, solang's der erste ist, geht aufs Haus. "Im Bereich massenhaft auftretender Eigentums- und Vermögensdelikte wie z. B. Ladendiebstahl", teilt auf Kontext-Anfrage die Staatsanwaltschaft Stuttgart mit, "werden die Vorgaben des Kleinkriminalitätserlasses vom 4. Oktober 2012 (Die Justiz 2012, S. 455) berücksichtigt."

Allerdings, schreibt uns Erster Staatsanwalt Jan Holzner, der ja Vertreter ist jener nach eigener Ansicht "objektivsten Behörde der Welt", würden auch hier "die besonderen Umstände des Einzelfalles und in der Person des Angeklagten liegende Umstände" berücksichtigt.


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17 Kommentare verfügbar

  • powerlot
    am 19.04.2017
    Antworten
    Was schreiben Sie da: Ladendiebe haben die erste Tat "frei"? Ich wurde als Ladendieb verurteilt, obwohl ich ( 62 Jahre ) in meinem ganzen Leben noch nie etwas gestohlen habe ausser meiner Mutter einmal 10 Pf., die ich aber später reuevoll zurückgab, da ich streng katholiusch erzogen wurde. Nach…
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