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Schattenboxen und Schienenrealität

Schattenboxen und Schienenrealität
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Kefer lächelt und schwächelt. Grube wackelt und dackelt. Weber wabert und labert. Pofalla lauert und dauert. Wenn das mal nur alles wäre. Bahnexperte Winfried Wolf beschreibt, was sonst noch im Argen liegt beim Schienenkonzern.

Das Schattenboxen in der Führungsetage der Deutschen Bahn AG bestimmt die aktuellen Berichte über die Deutsche Bahn AG. Doch diese sind nicht bestimmend für die Schienenwelt. Die Schienenwirklichkeit wird im "Manager-Magazin" beschrieben, wenn es dort heißt, wir hätten eine Bahn, "die den Staat ständig mehr Geld kostet, [die] aber immer weniger leistet". Das ist hart, aber wahr und wird bei einer Besichtigung der fünf offenen Großbaustellen der Deutschen Bahn AG deutlich.

Da ist erstens die seit gut eineinhalb Jahrzehnten vernachlässigte Infrastruktur, für die im Übrigen Bahnvorstand Kefer verantwortlich zeichnet. Die Deutsche Bahn AG erweist sich als strukturell unfähig, Instandhaltungsarbeiten durchzuführen, die mehr als 150 Jahre lang bei Eisenbahnen Standard waren. Als in diesem Frühjahr pünktlich zur Hannover Messe die Hochgeschwindigkeitsstrecke Kassel–Hannover mehrere Wochen lang gesperrt werden musste, behauptete die DB, man habe erst kurzfristig durch ein Gutachten Kenntnis vom "dringenden Sanierungsbedarf" erhalten. Das war schlicht unwahr. Tatsächlich hatte das Eisenbahn-Bundesamt seit gut vier Jahren in immer dringenderer Form die Grundsanierung gefordert. Es ist banal: Die DB AG praktiziert eine fortgesetzte Unterfinanzierung der Infrastruktur. Sie generiert so kurzfristige Gewinne bei der Netz-Tochter, die langfristig katastrophale Folgen haben.

Da ist zweitens ein (vor allem aufgrund der beschriebenen Infrastrukturmisere) notorisch unpünktlicher Fernverkehr, der zudem immer weniger flächendeckend präsent und der mit vielfach unzureichendem Wagenmaterial bzw. im Fall neuer Wagen meist mit deutlich reduziertem Komfort (reduzierte Beinfreiheit, kein Bordrestaurant, unzureichende Ablagen) unterwegs ist. Dieser Schienenpersonenfernverkehr wird mit einem grotesk intransparenten Preissystem angeboten, das bei den Fahrpreisen zwischen den Extremen Billigheimer und Apothekerpreis changiert.

Da ist  eine Güterbahn, bei der zwei Jahrzehnte lang der Regionalverkehr abgebaut und 80 Prozent der Gleisanschlüsse gekappt wurden. Inzwischen stellt man überrascht fest, dass die Konzentration auf Ganzzüge und auf lange Distanzen nur zeitweilig erfolgreich war. Güter, die einmal auf der Straße sind, rollen auf dem Rest des Transportwegs meist weiter auf Asphalt. Die Gesamtverkehrsleistung im Schienengüterverkehr ist seit Jahren rückläufig. Die Sparte inzwischen insgesamt defizitär.

Geld fließt in die falschen Löcher und versickert

Auf der vierten Baustelle türmen sich die Infrastruktur-Großprojekte, auf die sich Bund und Bahn fälschlich konzentrieren. Diese verschlingen Milliarden (vor allem öffentliche) Gelder. Gleichzeitig haben sie in der Regel kontraproduktive Rückwirkungen auf das Gesamtsystem Schiene, unter anderem, weil die hier in Beton verwandelten Euromilliarden anderswo fehlen und weil sich diese Projekte nicht an der Zielsetzung eines deutschlandweiten, transparenten Taktverkehrs orientieren ("Integraler Taktfahrplan"). Hier sind die Neubaustrecken Nürnberg–Erfurt und Wendlingen–Ulm, die Y-Trasse in Norddeutschland, die Mottgers-Spange im Spessart, die feste Fehmarnbeltquerung und insbesondere Stuttgart 21 zu nennen. Irgendwann schlägt bei all diesen absurden Großprojekten die Stunde der Wahrheit. Kefer verging hier inzwischen das Lächeln; er setzt sich rechtzeitig ab. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" weiß, dass der damit verbundene "Wechsel in der Vorstandsposition gravierend für Stuttgart 21 ist".

Die fünfte und wohl entscheidende Großbaustelle betrifft schließlich die Struktur der Deutschen Bahn AG selbst: Seit der Bahnreform im Jahr 1994 gibt es im Inland immer neue Aufteilungen, Ausgliederungen, Umbenennungen und Umlackierungen. Die Halbierung des Personals im produktiven Bereich ist von der Aufzucht eines immer größeren, unproduktiven Wasserkopfs begleitet. Die Kompetenz des Top-Personals in Sachen Schienenverkehr ist erbärmlich. Der bis vor Kurzem für den Fernverkehr, und damit auch für die Nachtzüge, verantwortliche Bahnvorstand, Ulrich Homburg, musste im Januar 2015 am Rande einer Bundestagsanhörung zu den Nachtzügen zugeben, "noch nie" mit einem solchen gefahren zu sein. Der Personalvorstand Weber äußerte jüngst, die "Fahrscheinkontrolle stirbt aus", weil man in Bälde "elektronisch einchecken" und dabei "seine Karte in seinem Smartphone an ein Lesegerät am Einstieg hält". Beim offiziellen Stuttgar-21-Fahrplan wird etwa für ICEs von einem Fahrgastwechsel in 1,5 Minuten ausgegangen. Und überhaupt: Die DB schafft es nicht, dass die elektronischen Anzeigen auf ein paar Hundert Bahnhöfen wenigstens zu 90 Prozent funktionieren. Sie lässt es zu, dass bei rund fünf Prozent aller Rolltreppen ein Maulwurf-Comic das "außer Betrieb" signalisiert. Doch sie setzt darauf, dass die jährlich 130 Millionen Fernverkehrsreisenden alle mit Smartphone verkehren und dass die Geräte alle fehlerfrei funktionieren.

Vor allem wird das Gesamtsystem Schiene systematisch "entkernt"; es erfolgt ein fortgesetzter Abbau von Systembestandteilen: Aufgabe des Postverkehrs und der Gepäck- und Stückgutbeförderung Mitte der 1990er-Jahre, Einstellung der Interregio-Zugattung (2002), fortgesetzte Reduktion des Servicepersonals und Aufgabe von 90 Prozent aller Bahnhöfe, Einstellung der Autoreisezüge (2016); geplante Einstellung aller Nachtzüge (Ende 2016). Dieser Abbau im Kerngeschäft ist begleitet von einer Expansion im Ausland und in bahnfremde Bereiche hinein, sodass inzwischen mehr als die Hälfte des Umsatzes außerhalb des Kerngeschäfts Schiene erzielt wird. Die fehlende Kompetenz und der chaotische, ständig neue Umbau der Konzernstrukturen haben massive Rückwirkungen auf das Grundverständnis des gesamten Führungspersonals. Wie ist erklärbar, dass derzeit mit Ronald Pofalla ein CDU-Politiker im Bahnvorstand darauf lauert, Grube zu beerben, obgleich dieser ausgebildete Sozialpädagoge und zugelassene Rechtsanwalt, der ein Vierteljahrhundert Bundestagsabgeordneter und Berufspolitiker war, nie etwas mit Bahn und Schiene zu tun hatte? Pofalla nahm von 1991 bis 2014 im Kreis Kleve führende Positionen in der dortigen CDU ein. Es ist nicht bekannt, dass er sich für den Erhalt oder gar für eine Reaktivierung der Bahnstrecken Kleve–Nijmegen (Schienenverkehr 1991 eingestellt, Stilllegung 1999) oder Kleve–Xanten (Einstellung des Schienenverkehrs 1989/90, Rückbau der Strecke 2003 mit anschließender Entwidmung) eingesetzt hätte.

Es gibt Dutzende Beispiele für eine Politik des Top-Bahnmanagements, die für die Schiene geschäftsschädigend sind. Warum wird die Auslandsexpansion vorangetrieben, obgleich die Renditen dort erbärmlich sind? Warum sollen jetzt sogar ausländische Investoren bei den Bahntöchtern Arriva und Schenker Logistics einziehen, die damit erheblichen Einfluss auf den Gesamtkonzern nehmen können? Warum werden die Auslandstöchter Arriva und Schenker Logistics nicht komplett verkauft und der Erlös von acht bis zehn Milliarden Euro nicht für eine Grundsanierung genutzt? Warum weigert sich das Bahnmanagement seit mehr als einem Jahrzehnt, die Strecke Lindau–München zu elektrifizieren, sodass ein durchgehender, elektrisch betriebener Schienenfernverkehr von Zürich (über Bregenz und Lindau) nach München realisierbar wäre, obgleich die Schweizer Seite sogar eine Vorfinanzierung für diese Investition anbot?

Warum setzt die DB AG auf derselben Strecke seit zwei Jahren eigene Fernbusse ein, die schneller als die eigenen Eurocity-Züge sind und dann noch deutlich weniger kosten? Warum manipuliert die DB systematisch die Fahrgastzahlen beim Nachtzugverkehr nach unten (unter anderem werden die Fahrgäste in den Sitzwagen dieser Züge nicht mehr mitgezählt)? Warum behauptet die DB, die Nachtzüge seien defizitär, und berücksichtigt dabei nicht, dass ein Wegfall dieser Zuggattung zu einem erheblichen Einnahmerückgang bei DB Netz aufgrund entfallender Trassengebühren führen muss? Und warum investiert die Deutsche Bahn enorme Summen und einen Großteil ihres Potenzials an Ingenieurswissen in das Projekt Stuttgart 21, wenn damit unter anderem die Kapazität des strategischen Schienenverkehrsknotens im Südwesten abgebaut wird?

Straßenverkehr und Luftfahrt werden bevorzugt

Ganz offensichtlich trägt die Verkehrspolitik des Bundes wesentlich Verantwortung dafür, dass mit dem Straßenverkehr und der Luftfahrt diejenigen Verkehrsarten, die das Klima, die menschliche Gesundheit und die Umwelt am stärksten belasten, strukturell bevorzugt werden. Seit Jahrzehnten wird das Straßennetz aus- und das Schienennetz abgebaut. Auch werden immer neue Entscheidungen gefällt, die diese grundsätzliche Schräglage des Verkehrsmarkts verstärken (Steuerbefreiung von Kerosin, Liberalisierung des Fernbusverkehrs, Verzicht auf Maut bei Fernbussen, schrittweise Zulassung der Gigaliner und anderes mehr).

Doch seit der Bahnreform gibt es eine neue Situation: Die Spitze der Deutschen Bahn nimmt diese systematische Benachteiligung der Schiene weitgehend kritiklos hin; ja, oft verstärkt sie sie mit eigenen – oben beschriebenen – Maßnahmen. Beschränkt man den Blick auf die Deutsche Bahn selbst, dann ist eine maßgebliche Ursache für den selbstzerstörerischen Kurs bei der Bahn in der Zwitterform begründet, die dieses Unternehmen mit der Bahnreform erhielt: Einerseits handelt es sich um eine Aktiengesellschaft, die auf die – auch kurzfristige – Profiterzielung ausgerichtet ist. Andererseits fordert Artikel 87e Grundgesetz durchaus im Schienenverkehr eine Orientierung am "Wohl der Allgemeinheit" und an den "Verkehrsbedürfnissen", und zwar einerseits beim "Ausbau und Erhalt" der Schienenwege und – was oft geleugnet wird – in gleicher Weise bei den "Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz". Die Anforderungen Profitorientierung und Allgemeinwohlorientierung stehen in direkten Widerspruch zueinander. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) dürfte niemals eine Orientierung am Mittelstand und eine Politik zum Beispiel zur Förderung von Energieeinsparung im Eigenheimbau betreiben, wenn es sich um eine Aktiengesellschaft handeln würde. Tatsächlich wurde bei der KfW die Unternehmensform einer Anstalt des öffentlichen Rechts gewählt. Ausgerechnet bei der Bahn wurde auf Vergleichbares verzichtet – trotz der zitierten Allgemeinwohl-Vorgaben in der Verfassung.

Doch all die monierten Fehler können mittels Strukturveränderungen und einer anderen Politikausrichtung allein solange nicht beseitigt werden, wie das Personal an der Spitze bleibt, wie es ist: inkompetent, bahnfremd und primär auf Eigennutz und Karriere bedacht. Schattenboxen eben. Notwendig wäre ein Personal, das Schiene kann, Eisenbahn lebt und die Belegschaft für nachhaltigen Verkehr und Kundennähe begeistert. Mir fällt zumindest für die Bahnspitze eine Neubesetzung ein, auf die all das zutrifft. Claus Weselsky ist gelernter Lokführer. Er ist Eisenbahner mit Herzblut. Er kann Menschen begeistern und zu großem Engagement bewegen. Er ist bekanntlich durchsetzungsstark. Und er hat dasselbe Parteibuch wie die Kanzlerin. Wenn ein Vorschlag, Weselsky zum Bahnchef zu machen, mit einer Bandbreite von ungläubigem Erstaunen bis entsetzter Abwehr kommentiert werden dürfte, dann deshalb, weil einerseits in der Verkehrspolitik und bei der Bahn die Autolobby dominiert und weil andererseits in unserem Land die Leute in Spitzenpositionen gern schwäbeln, bayerisch oder rheinländisch reden, aber nicht sächseln dürfen.

 

Winfried Wolf ist aktiv bei Bahn für Alle und Bürgerbahn statt Börsenbahn. Er veröffentlichte 2014 gemeinsam mit Bernhard Knierim "Bitte umsteigen! 20 Jahre Bahnreform" (Schmetterling Verlag, Stuttgart).


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3 Kommentare verfügbar

  • Erwin Bosak
    am 24.06.2016
    Antworten
    Alltag

    Am 21.06.2016 von Schorndorf Richtung Stuttart, gedachte Abfahrt um 14.14.Uhr mit RE, angekündigte Verspätung : 5 Minuten, tatsächlich: 8 Minuten, Begründung: keine. Ankunft in Stuttgart nach Fahrplan 14.37 Uhr, tatsächlich: 14.52 Uhr. . Fahrzeit nach Plan 23 Minuten, tatsächlich: 38…
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