KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Wasser im Kessel

Wasser im Kessel
|

Datum:

Nach den katastrophalen Überschwemmungen wird im Schwabenland über hausgemachte Hochwassergefahren diskutiert. Der mächtige Bahnhofstrog von Stuttgart 21 versperrt extremen Regenfluten den Abfluss aus der Innenstadt, sagen Projektkritiker*innen. Die Bahn widerspricht.

Es war eine Woche der Unwetterkatastrophen. Deutschlandweit lösten Gewitter mit Starkregen katastrophale Überschwemmungen und Schlammlawinen aus. Betroffen war vor allem der ländliche Raum. Mit am schlimmsten traf es das bayerische Simbach am Inn, wo sieben Menschen ihr Leben in schmutzigen Fluten verloren. Nur durch viel Glück gab es keine Toten und Verletzten in Braunsbach im Landkreis Schwäbisch-Hall, wo am letzten Maisonntag Wassermassen Hunderte Tonnen von Geröll, Erde und Baumstämme durch den Ortskern wälzten.

Doch welche Folgen hätten derartige Extremunwetter in Stuttgart, wo eine große Baumaßnahme mitten in der Innenstadt derzeit in das Niederschlagsmanagement eingreift? Die riesige Bahnhofshalle des Tiefbahnhofs Stuttgart 21 entsteht quer zur Hauptabflussrichtung des Regenwassers Richtung Neckar. Wenn das Trogbauwerk fertiggestellt ist, wird es wie ein Wall den Abfluss aus der Innenstadt weitgehend versperren. Bis zu knapp sechs Meter überragt der schräg abfallende Bahnhofstrog an seiner höchsten Stelle am alten Bahnhofsturm das bisherige Geländeniveau. Nur am Südkopf soll die Dachoberkante bis auf die vorhandene Geländehöhe herunterreichen, damit Jahrhundertfluten in tiefer gelegene Flächen abfließen können. Ob dies im Unwetterfall auch tatsächlich so passiert, daran haben Stuttgart-21-Kritiker große Zweifel.

"Die Bahnpläne nennen zwei verschiedene Höhenniveaus an dieser Stelle", sagt Christoph Engelhardt, der aus aktuellem Anlass die verfügbaren Unterlagen nochmals akribisch unter die Lupe genommen hat. Im 14. Planänderungsantrag der Bahn sei die Höhe des Tiefpunkts des Bahnhofswalls einmal mit 241,35 Metern über Normalnull (m NN) angegeben. An anderer Stelle werde für diesen Geländetiefpunkt jedoch eine Geländeoberkante von 242 m NN genannt. "Somit ist der tatsächliche Geländetiefpunkt für einen Überlauf unklar", schlussfolgert Engelhardt, der das Faktencheck-Portal <link http: www.wikireal.org external-link-new-window>www.wikireal.org betreibt.

Die wenigen Zentmeter Differenz sind im Überflutungsfall jedoch entscheidend. Denn sicher ist, dass der Wall des Bahnhofsdachs die bisherige Überlaufbreite für Starkregenfluten im Stuttgarter Talkessel extrem einengt. Im Notfall konnte das von den Hängen zu Tal schießende Regenwasser bislang auf einer Breite von rund 230 Metern zwischen dem Bahnhofsturm und dem Planetarium in den tieferliegenden Schlossgarten abfließen. Nach Errichten des Tiefbahnhofs bleibt nur noch ein Durchlass von ungefähr dreißig Metern, hat Engelhardt berechnet. Schon in der Planfeststellung für Stuttgart 21 wurde dieser Engpass erwähnt ("Sollte bei stärkeren Niederschlagsereignissen das Abwasserkanalsystem überlastet sein, erfolgt ein Einstau vor dem Trogbauwerk und der Ablauf in den Mittleren Schlossgarten über die Engstelle zwischen dem südlichen Bahnhofshallendach und dem Zugang Staatsgalerie").

Was das Eisenbahn-Bundesamt nicht erwähnt, sind mögliche Hindernisse an dieser Stelle. Sollte die Öffnung durch Schlamm oder Geröll verstopfen, würde sich vor dem Bahnhofsdamm schnell ein See aufstauen – der bei entsprechendem Wasserandrang in die unterirdische Klett-Passage abfließt, deren Abgang auf Geländeniveau 242,2 m NN liegt. "Bei einem Hochwasserereignis, das die Abflussleistung der Kanalisation übersteigt, besteht somit eine erhebliche Gefahr für die Flutung der Klettpassage", warnt Engelhardt.

Hohe Sachschäden wären das kleinste Übel

Im schlimmsten Szenario würden sich die Fluten über das Ladenzwischengeschoss der Klett-Passage in die darunterliegende Stadtbahn-Haltestelle und die S-Bahn-Station ergießen. Hohe Sachschäden an Ladeninventar und technischen Anlagen und wochenlange Sperrung einer zentralen Nahverkehrsdrehscheibe wären die Folgen – mindestens. Denn es könnte auch wesentlich schlimmer kommen: Wenn es nämlich nicht gelingt, Passant*innen und Pendler*innen aus dem unterirdischen Bauwerk im Notfall schnell in Sicherheit zu bringen. Wie gefährlich Überschwemmungen unterirdischer Passagen sind, zeigte sich während der jüngsten Unwetterserie in Schwäbisch Gmünd. In einer überfluteten Bahnhofsunterführung ertranken zwei Menschen, ein Passant und der Feuerwehrmann, der ihn retten wollte.

Der Tiefbahnhof selbst bliebe vermutlich trocken. "Sämtliche Eingänge des neuen Hauptbahnhofes liegen über dem Höhenniveau der umliegenden Straßen- und Verkehrsflächen", betont ein Sprecher der Bahn. Eine plötzliche Überflutung des Hauptbahnhofs innerhalb weniger Minuten sei nicht zu besorgen, hatte das Eisenbahn-Bundesamt im betreffenden Planfeststellungsbeschluss von 2005 erwähnt.

Dabei beeinflusst nicht nur der Bahnhofswall den Weg des Wassers durch Stuttgart. Das Trogbauwerk liegt auch dem Abwasserkanalsystem der Landeshauptstadt im Weg. Der größte Kanal, durch den auch der Nesenbach abfließt, muss unter der Bahnhofshalle hindurch geleitet werden. Derzeit baut die Bahn das aufwendige Dükerbauwerk, in dem das Abwasser auf der westlichen Bahnhofsseite zunächst nach unten und auf der anderen Seite wieder nach oben umgeleitet wird. Der neue Verlauf des Hauptsammlers verringere die Abflussleistung des Kanals, befürchten die projektkritischen Ingenieure 22. "Überflutungen durch Rückstau im Abwasserkanalnetz werden dann häufiger und bereits bei geringeren Sturzregen auftreten, die heute von den Kanälen noch sicher abgeführt werden", sagt deren Sprecher Hans Heydemann.

Auch dem widerspricht die S-21-Projektgesellschaft. "Der Nesenbach bleibt auch durch seine neue Führung in einem Düker unter dem neuen Hauptbahnhof hindurch vollständig kanalisiert und kann mit Überschwemmungen bei offenen Gewässern nicht verglichen werden", betont der Sprecher. "Die Führung im Düker mit einhundert Kubikmetern pro Sekunde ist mindestens so leistungsfähig wie der heute bestehende Kanal", ergänzt er. Die Stadt sieht ebenfalls keinen Grund zur Beunruhigung. Der Nesenbach-Kanal erfülle seine Aufgabe weiterhin, lässt das zuständige Tiefbauamt mitteilen.

Verschärft der neue Tiefbahnhof die Überschwemmungsgefahr in der Stuttgarter Innenstadt also nicht? "Das waren Mengen, die kann man sich nicht vorstellen, die sind mit Menschenhand nicht zu bändigen", beschreibt Frank Harsch, der Bürgermeister des zerstörten Braunsbach, welche Naturgewalten den Ort im Kochertal trafen. Innerhalb weniger Minuten hatte sich ein kleiner Bach während des Gewitters zur rasenden Schlamm- und Gerölllawine verwandelt, der weder Autos noch Häuser standhielten.

Die Region ist besonders unwettergefährdet

In wenigen Stunden waren über 100 Liter Regen pro Quadratmeter vom Himmel geprasselt. Wassermassen, die unaufhaltsam von den umgebenden Hängen zu Tal schossen und alles mitrissen. "Über dem Kochertal hatte sich eine Gewitter-Superzelle gebildet, die nicht weiterzog, sondern vor Ort abregnete", erklärt Uwe Schickedanz, leitender Meteorologe vom Deutschen Wetterdienst in Stuttgart. Derartige Ereignisse sind relativ selten, schwer vorhersagbar, aber in der warmen Jahreszeit jederzeit möglich.

"Südwestdeutschland ist besonders exponiert", erläutert der Experte. Wie ein Fön bläst die burgundische Pforte zwischen Jura und Vogesen feuchtwarme Luft aus dem Mittelmeerraum nach Baden-Württemberg, wo sie zusätzlich Feuchtigkeit aufsaugt. "Solch ein Starkregenereignis kann natürlich auch in Stuttgart auftreten", sagt der Meteorologe. Der Klimawandel heizt der Unwetterküche zusätzlich ein. Je höher die Temperatur, desto mehr Wasser kann gasförmig in den Wolken gebunden werden und wieder ausregnen. "Wir müssen uns leider darauf einstellen, dass solche Extremunwetter künftig häufiger auftreten", so Schickedanz.

Das letzte derart verheerende Unwetter traf Stuttgart am 15. August 1972. Innerhalb von nur einer Viertelstunde stand die Landeshauptstadt unter Wasser. Tennisballgroße Hagelkörner bombardierten Talkessel und Neckarvororte, regenschwere Sturmböen peitschten durch die Straßen. Die unbändigen Naturgewalten deckten Dächer ab und entwurzelten Bäume. Schnell schossen meterhohe Fontänen aus den Gullys der überlaufenden Kanalisation. In den Straßentunnels der B 14 stapelten sich die Fahrzeuge in tiefen Hagel-Eisseen. Durch eingedrückte Fenster drangen Wassermassen in tausende Keller. In den dramatischen Minuten der Katastrophe starben sechs Menschen, erstickt unter Hagelmassen, ertrunken in vollgelaufenen Souterrains, zerquetscht von reißenden Sturzfluten. Der Deutsche Wetterdienst registrierte damals an seiner Messstation am Cannstatter Schnarrenberg 63,2 Liter Regen auf den Quadratmeter während des Unwetters. Die Klett-Passage wurde erst vier Jahre nach der Katastrophe eröffnet.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


7 Kommentare verfügbar

  • Müller
    am 14.06.2016
    Antworten
    In der gleichen Ausgabe wird für den Kombibahnhof getrommelt der auch einen Bahnhofstrog hat.
    Ihr müsst euch besser abstimmen. Es ist doch peinlich, wenn die Wrltuntergangsszenarien auf die eigenen Projekte zielen. Es hat was von Trump. Der nutzt auch jede Tragödie für seinen Wahlkampf.
    PS: tolle…
Kommentare anzeigen  

Neue Antwort auf Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!