KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Der alte Kombi

Der alte Kombi
|

Datum:

Es ist wenig realistisch, dass die Deutsche Bahn wieder abzieht aus dem Talkessel und die schon gebohrten Tunnelkilometer zuschüttet. Deshalb müssen Alternativen zum Ausstieg aus Stuttgart 21 betrachtet werden. Eine liegt seit mehr als 20 Jahren auf dem Tisch: die Kombilösung.

Womöglich schreibt der Antrag mit der Nummer 6292 doch noch Landesgeschichte – mit ziemlicher Verspätung. Gestellt haben ihn die Grünen am 26. Juli 1995, verlangt wurde eine "Prüfung von Alternativen" zum Projekt Stuttgart 21, samt einer Gegenüberstellung der Vor- und Nachteile. Eine Gruppe von Abgeordneten rund um Fritz Kuhn, Mitte der 1990er Jahre Fraktionschef, und den heutigen Verkehrsminister Winfried Hermann hatte das Finanzierungskonzept als "auf tönernen Füßen" stehend bewertet: "Das Pferd wurde von hinten aufgezäumt, am Anfang stand die Idee, und anschließend wurde dessen technische und finanzielle Machbarkeit untersucht."

Basis der Überlegungen war auch ein bis dato nur Fachleuten bekannter Begriff. Zum "Integralen Taktfahrplan Südwestraum" lag für die Länder Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz eine Pilotstudie auf dem Tisch. Der Mitautor trägt einen längst nicht nur in Fachkreisen klingenden Namen: Werner Stohler. Im Sommer 2011 sollte der renommierte Schweizer SMA-Chef gemeinsam mit Schlichter Heiner Geißler seine Kombilösung präsentieren. Die Retroperspektive zeigt: Wäre der Integrale Taktfahrplan schon Mitte der 1990er Eckpfeiler der Überlegungen gewesen, hätte kein anderer Weg weiterverfolgt werden dürfen als eben jene Kombilösung. Denn: Der Tiefbahnhof mit seinen acht Gleisen ist und bleibt einfach zu klein dimensioniert für einen funktionierenden Knoten in Stuttgart.

Ohnehin kann der Tief- gar nichts besser als der Kopfbahnhof. Nach 100 Stunden Schlichtung und verbürgt durch zahlreiche Untersuchungen ist die Beweislage für diese These erdrückend. Gerade mit dem Thema Integraler Taktfahrplan hat sich unter vielen anderen der Münchener Professor Wolfgang Hesse mehrfach befasst. Für notwendig hält er statt acht mindestens 14 Gleise. "Viele vergleichbare Stationen halten ähnliche Kapazitäten vor", schreibt Hesse im Winter 2011. Nürnberg mit drei Vierteln des hiesigen Verkehrsaufkommens hat 21 Durchgangsgleise. Zürich mit einem 35 Prozent höheren Verkehrsaufkommen hat 22 Gleise im Kopfbahnhof sowie vier Durchgangsgleise und bietet ideale Verkehrsverknüpfungen mit einem in Europa einzigartigen Knoten.

Womöglich schreibt der Antrag 6292 verspätet Landesgeschichte

An der Maximalvariante wird in Stuttgart dennoch immer weiter gebuddelt, derzeit bis Ulm in insgesamt 26 unterschiedlichen Abschnitten. Aktuell mit den schon üblichen Behinderungen im Nah- und Regionalverkehr – seit Mitte Mai sind die Stadtbahnlinien U1, U2 und U4 für mindestens ein Jahr umgeleitet – und den Belastungen der Anwohner etwa in Ober- und Untertürkheim. Bisher wurden die DB-Verantwortlichen nicht müde zu betonen, es sei alles Plan. Selbst intern, gegenüber den Projektpartnern, wurde bisher diese Version aufrechterhalten. Es habe, so Minister Hermann, in den vergangenen Monaten keinen einzigen Hinweis auf neue Zeit- und Geldprobleme geben. Offiziell unterrichtet über die neuen Entwicklungen ist die neue Landesregierung bis heute nicht. "Wir waren mit der Informationspolitik der Bahn", sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann, "noch nie wirklich zufrieden." Da sei "wirklich Luft nach oben".

Erst recht, seit nach der Landtagswahl die Karten neu gemischt sind. Viele der Stuttgart-21-Fans spekulierten auf ein anderes Ergebnis. Wäre Guido Wolf Ministerpräsident in einer schwarz-grünen oder gar in einer CDU/FDP-Landesregierung geworden, hätte sich die Lage entscheidend verändert. Das Gezerfe um den Kostendeckel während der grün-schwarzen Koalitionsverhandlungen ist ein starkes Indiz dafür, dass die Union als größerer Partner auf jeden Fall versucht hätte, eine Zusage zur Übernahme von Mehrkosten zu erzwingen. Stattdessen fochten die Grünen als eindeutige Wahlsieger einen Satz durch, der dem DB-Management wie -Aufsichtsrat schwer im Magen liegen muss: "Dabei hält das Land in den Sprechklauselgesprächen am Ziel fest, dass über die im Vertrag genannten Kostenanteile in Höhe von 930,6 Millionen Euro hinaus von Seiten des Landes keine Zahlungen zu leisten sind."

Obendrein hatte die CDU, ohnehin noch amateurhaft agierend in der neuen Rolle, beim Zugriff auf die Ministerien offensichtlich das Thema S 21 aus dem Blickfeld verloren. Das Ergebnis: Nicht nur ging das einflussreiche Finanzressort an die Grünen, sondern es sitzen der Bahn im Lenkungskreis künftig ausschließlich Projektgegner gegenüber. Das vom Merkel-Vize Thomas Strobl geführte Innenministerium wird jetzt informell beteiligt. Er selber will aber nicht in das Gremium – was gerade jetzt als erste Absetzbewegung eines führenden Befürworters interpretiert werden kann. Der Wechsel im Regierungspräsidium wird hinter den Kulissen auch mit Stuttgart 21 erklärt: Johannes Schmalzl (FDP) stand im Sommer 2013 schon einmal kurz vor dem erzwungenen Abgang, als der Erörterungstermin zum Grundwassermanagement unter seiner Verantwortung wegen der Besorgnis der Befangenheit des Verhandlungsleiters platzte. Die DB wünscht sich, um die jetzt zugegebenen zusätzlichen Risiken zu minimieren, mehr Entgegenkommen von den Behörden. Das war schon unter Schmalzl schwer vorstellbar und ist unter seinem Nachfolger Wolfgang Reimer (Grüne) ausgeschlossen.

Kombi-Bahnhof als Friedensangebot

In vielen Gesprächen und Diskussionen war die Kombilösung ohnehin immer ein Thema. Von einer "Option, die man offenhalten sollte", sprach Winfried Hermann im Kontext-Interview vor zweieinhalb Jahren. Und weiter: "Es braucht kluge Menschen, eine interessierte Bürgerschaft und natürlich entsprechende Mehrheiten, um solche Optionen zu diskutieren und zu nutzen. Das letzte Wort ist noch lange nicht gesprochen." Da hatte die Grünen-Fraktion bereits ein Papier mit sieben Gründen für einen kombinierten Kopf- und Tiefbahnhof "als Friedensangebot" präsentiert. Einer der Autor*innen war Andreas Schwarz, und der ist seit wenigen Wochen Fraktionschef.

Auf eine dialektische Art und Weise sind der Pro-Seite zudem mit den sozialdemokratischen Stuttgart-21-Unterstützer*innen deutlich wichtigere Partner abhandengekommen als jene, die sie in der CDU hat. Für die SPD-Spitze war das Milliardenprojekt seit der Zustimmung in der Großen Koalition Mitte der 1990er Jahre und vor allem seit 2011 in der Regierung mit den Grünen ein wichtiges Profilierungsthema. Ohne Claus Schmiedels scharf kalkuliertes Vorpreschen im Juli 2012 wäre der Stresstest niemals als glatt bestanden bewertet worden. Schmiedel und Superminister Nils Schmid taten seinerzeit alles, die Skeptiker*innen schlecht aussehen zu lassen, die beispielsweise die Art und Weise bemängelten, wie die DB die eigenen Prämissen für die Überprüfung verändert hatte.

In eben jenen heißen Wochen vor der Volksabstimmung vom Herbst 2011, in denen das "Herz Europas" doch noch der abermals belegten Mängel wegen hätte scheitern müssen, präsentierten Stohler und Geißler ihre Variante einer Kombilösung. Als "politischen und technischen Kompromiss", sagte der Schweizer damals, als Aufforderung an das Team rund um DB-Vorstand Volker Kefer, doch noch einmal darüber nachzudenken, was die unterirdische Konstruktion wirklich leisten kann und wie schlecht die Ausbaumöglichkeiten in der Zukunft sind. "Dreimal besser als Stuttgart 21", so lautete Stohlers Fazit. Denn technisch bringe die damit verbundene Trennung der schnellen von den langsamen Verkehren nur Vorteile und jede Menge Gestaltungsspielraum bei den Fahrplänen. Selbst um eine Antwort auf die Frage nach den Kosten drückte sich der SMA-Chef seinerzeit nicht herum: "Ganz salopp formuliert, würde sich die Länge der Tunnel etwa um die Hälfte verringern, die Röhren würden schmäler und kürzer und Kombi deshalb nur etwas mehr als die Hälfte kosten."

Vor allem Sozialdemokraten, aber auch der damalige Stuttgarter Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) quittierten Äußerungen wie diese mit homerischem Gelächter. Schmiedel, der inzwischen aus dem Landtag gewählte damalige SPD-Fraktionschef, wollte über solche Pläne nur reden, "um sie endgültig zu beerdigen". Die Bahn lehnte eine ernsthafte Detailprüfung – so knapp vor der durch die Volksabstimmung erhofften Rettung – ohnehin ab. Fast fünf Jahre später sind aus den Risiken, die die DB-Entscheider immer so lange als unrealistisch hinstellen, bis sie eintreten, neue Milliardenlücken geworden. Und deshalb wird die Luft dünn für den hanseatischen Kaufmann Rüdiger Grube. Am 15. Juni tagt erneut der Aufsichtsrat, Anfang Juli der Lenkungskreis erstmals in der neuen Zusammensetzung. Wer würde da die Konferenzräume nicht zu gerne verwanzen.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


10 Kommentare verfügbar

  • D. Hartmann
    am 15.06.2016
    Antworten
    Zur Versachlichung der Debatte könnte ein Blick nach Zürich hilfreich sein. Dort hat man innert 17 Jahren einen Kopfbahnhof für den Zugverkehr im 21 Jhdt. ertüchtigt.
    Siehe auch meinen Kommentar zu:
    http://www.kontextwochenzeitung.de/politik/269/ein-tunnel-blamiert-die-kanzlerin-3663.html)

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!