KONTEXT:Wochenzeitung
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Angst vor Mitmachfalle

Angst vor Mitmachfalle
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Am Rosensteinviertel, dem größten zukünftigen Baugebiet Stuttgarts, soll sich zeigen, was die Stadt aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat. Doch die Vergangenheit wirft ihre Schatten voraus – und die Zukunft ist noch weit weg.

Das Misstrauen in einem aktiven Teil der Stuttgarter Stadtgesellschaft sitzt tief. Bürgerbeteiligung zum Rosensteinquartier: wieder nur eine Alibi-Veranstaltung, wo die Bürger ein bisschen mitreden dürfen, nur damit der Gemeinderat am Ende ganz anders entscheidet? Viel Zeit zum Palavern, bis die Gleisflächen in frühestens sechs Jahren frei werden – was ernsthaft kaum einer glaubt. Und wer sagt, dass der städtische Grund und Boden dann nicht doch wieder meistbietend an Investoren verscherbelt wird?

Umgekehrt ist die Stadtverwaltung fast ängstlich bemüht, diesmal alles richtig zu machen. Oberbürgermeister Fritz Kuhn hat nichts überstürzt, wollte sich jedoch auch nicht von der Opposition zum Jagen tragen lassen. Bürgerbeteiligung ist schließlich ein Kernanliegen der Grünen, die seit rund fünf Jahren in Stuttgart den Ton angeben. Von den Agenturen, die sich 2015 um das Beteiligungsverfahren bewarben, erhielt die Berliner Mediator GmbH den Zuschlag. Nun läuft das Verfahren.

Forum Rosenstein – Bürgerbeteiligung oder Mitmachfalle?

Am 15. März tagte erstmals das Forum Rosenstein. Beteiligt sind rund 50 Vertreter von Institutionen und Interessengruppen, ein <link https: www.stuttgart-meine-stadt.de file external-link-new-window>breites Spektrum von Stiftungen, Bürgervereinen, Architekten, Mieter- und Grundbesitzervereinen, Gewerkschaften, Kinder- und Jugendorganisationen. Das Forum soll die Beteiligung vorbereiten und in die Bürgergesellschaft hineintragen. Auch Vertreter der Gemeinderatsfraktionen sind dabei – außer die von SÖS-Linke-Plus, die von einer "Mitmachfalle" reden.

Das Misstrauen sitzt tief. Vor 19 Jahren hatte Kuhns Amtsvorgänger Wolfgang Schuster erstmals eine "offene Bürgerbeteiligung" ausgerufen. Die Bürger sollten ihre Ideen zu ebendem Quartier einbringen, um das es auch heute geht. Damals war allerdings das Projekt Stuttgart 21 noch nicht beschlossen. Durch Beteiligung sollten die Bürger vereinnahmt werden. Doch die Bürger protestierten gegen den Umbau des Bahnhofs.

Kritische Fragen waren auch in der ersten Forumssitzung zu hören: zu Ausgleichsflächen, Bebauungsdichte, Frischluftschneisen oder auch, ob die Gleisanlagen angesichts einer Klage der Stuttgarter Netz AG überhaupt entwidmet und überbaut werden können. Die Antwort: Es ist noch zu früh, um darauf zu antworten. Von einer Bebauung der heutigen Gleisanlagen ist auszugehen. Sollte sich daran etwas ändern, muss eben umgeplant werden. Auch wenn die Schienenstrecken erhalten bleiben, ist noch viel Platz zur Bebauung übrig. Darauf haben gerade die Kopfbahnhof-Anhänger immer hingewiesen.

Bürger wünschen, der Gemeinderat entscheidet

"Zunächst geht es darum, herauszuarbeiten und aufzunehmen, was den Bürgerinnen und Bürgern wichtig ist", sagt das Mediator-Team. OB Kuhn sprach auf der ersten großen öffentlichen Veranstaltung im Rathaus am 9. April von einer "informellen Bürgerbeteiligung": Die Bürger sind aufgerufen, ihre Wünsche einzubringen. Am Ende entscheidet der Gemeinderat.

Aber wie Kuhn sagt: "Informell heißt nicht beliebig." Der Gemeinderat unterliegt einer "besonderen Erklärungsverpflichtung", wenn er den Wünschen der Bürger nicht folgt. "Wenn man genau hinschaut, dann merkt man sehr schnell, dass es eigentlich um die Frage geht, wie wir in Stuttgart leben wollen", so Kuhn weiter. Der ist sich der Hypothek seines Vorgängers bewusst, wenn er anmerkt: "Wir werden nicht nach Cannes fahren" – wie Schuster dies getan hat – "und schauen auf der Immo-Messe, welcher Investor da welchen schönen Vorschlag hätte, und der kriegt dann den Zuschlag."

Rund 300 Bürger waren am 9. April erschienen. Sehr zur Erleichterung der Veranstalter. Schusters "Showroom Rosenstein" in der Kriegsbergstraße hatte keinen Hund hinter dem Ofen hervorgelockt. "Der Erfolg der ersten öffentlichen Veranstaltung hat gezeigt, dass das Interesse an der Bürgerbeteiligung Rosenstein groß ist", konstatiert Baubürgermeister Peter Pätzold. Doch schon bei der zweiten Sitzung des Forums am 3. Mai bleiben viele Plätze leer. Zehn Tische im Großen Sitzungssaal des Rathauses sind für je acht Personen bestuhlt. Gerade die Hälfte gelingt es mit fünf oder mehr Teilnehmern zu besetzen. Von den rund zwanzig Zuschauern dürfte die Hälfte aus Mitarbeitern der Verwaltung bestehen.

Glückliche Orte zum Wohlfühlen

Mediatorin Beate Voskamp fasst die Ergebnisse der öffentlichen Veranstaltung zusammen – die sich ebenso gut auf dem Mitmachportal <link https: www.stuttgart-meine-stadt.de content bbv details external-link-new-window>"Stuttgart meine Stadt" nachlesen lassen: Themen wie "Wohlfühlen", "Anziehungspunkte", "Liebenswertes", "Atmosphäre" oder "Glückliche Orte" wurden auf acht "Dialoginseln" diskutiert. Vorschläge, zu Stichworten komprimiert und auf bunte Zettel geschrieben, sind nun abfotografiert im Netz zu finden.

Aber 300 Personen sind nicht "alle Stuttgarterinnen und Stuttgarter", die, wie das Portal verkündet, angesprochen werden sollen. Der Weg ins Rathaus ist mit Hemmschwellen verbunden. Daher sollen jetzt vermehrt <link https: www.stuttgart-meine-stadt.de file external-link-new-window>"offene Formate" ins Spiel kommen. "Offene Formate können von jeder Bürgerin und jedem Bürger durchgeführt und gestaltet werden", definiert die Stadt Stuttgart auf ihrer Homepage: "Sie sind das zentrale Element, das die Beteiligung in die gesellschaftliche Breite bringen kann. Jede Zusammenkunft von Personen kann ein offenes Format sein: ein Treffen, ein Rundgang, eine Fahrradtour, ein Stammtisch, eine Mitgliederversammlung, ein Vortrag mit Diskussion und vieles andere mehr."

20 000 Euro will der Gemeinderat dafür bereitstellen. Erste Programmpunkte haben bereits stattgefunden, etwa eine Exkursion zur Heidelberger Bahnstadt. Am 13. Mai führt der Gartenarchitekt Christoph Luz durch den Schlossgarten, vom Neuen Schloss bis zum Rosensteinpark. Am 21. findet ein Rundgang durch das Rosensteinviertel statt, Treffpunkt 14 Uhr am Eckartshaldenweg. Besichtigungen des Bahnpostamts und des alten Lokschuppens sind vorgesehen.

Bleibt der Lokschuppen erhalten? Fast als Einziger stellt Frank Schweizer vom Verein zur Förderung und Erhaltung historischer Bauten konkrete Forderungen. Der Förderverein kinderfreundliche Stadt hat dagegen im Moment für offene Formate keine Ressourcen zur Verfügung. Der Stadtjugendring bietet seine Unterstützung an. Gleichwohl kommt die Diskussion nur schleppend in Gang. Aktivster Redner ist der ehemalige Stadtplaner Uwe Stuckenbrock, den sein Metier offenbar auch im Ruhestand nicht loslässt.

Wo viel gebaut wird, sind Architekten nicht weit

Doch zunächst gibt es einige Fragen: Sind mit Rosensteinquartier nur die neu zu bebauenden Flächen gemeint, will Jupp Klegraf, der frühere Bezirksvorsteher von Stuttgart-Nord wissen, oder auch das bestehende Viertel auf der Prag? Wie verhält sich die Bürgerbeteiligung zur IBA-Plattform, fragt Gerhard Pfeifer vom BUND.

In der Tat hatte die Wirtschaftsförderung Region Stuttgart (WRS) nur vier Tage vor der Forumssitzung zu einer Auftaktveranstaltung für eine <link https: wrs.region-stuttgart.de aktuell pressemitteilungen artikel die-iba-2027-rueckt-naeher.html external-link-new-window>Internationale Bauausstellung in die Wagenhalle geladen. Die IBA soll 2027, zum 100-jährigen Bestehen der Weißenhofsiedlung, auf ihren Höhepunkt zusteuern, die gesamte Region einbeziehen, aber mit Stuttgarts größten Baugebiet, dem Rosensteinquartier, im Zentrum. Mit 250 Teilnehmern war auch die IBA-Auftaktveranstaltung gut besucht. Wo viel gebaut werden soll, stehen Architekten und Planer in den Startlöchern.

Entstehen hier etwa schon die Pläne für die Zukunft des Quartiers, während die Bürger noch über Wohlfühlprogramme diskutieren? Um ja keinen falschen Eindruck zu erwecken, beeilen sich alle Beteiligten zu versichern, dass sie keine Entscheidungen vorwegnehmen wollen. In den Worten des Architektenkammerpräsidenten Markus Müller: "Im Moment stellen wir Fragen und geben noch nicht Antworten." OB Kuhn erklärt: "Die Arbeit der IBA-Plattform und die Bürgerbeteiligung für das Rosensteinviertel führen wir am Jahresende zusammen."

Am Ende der Forumssitzung am 3. Mai platzt dem Cannstatter Bezirksvorsteher Bernd-Marcel Löffler der Kragen. "Zwei Stunden hier sitzen, ohne konkret was besprochen zu haben", dazu fehle ihm die Geduld, und er sei nicht der Einzige, der jetzt bald gehen werde. Baubürgermeister Pätzold steht bereits seit geraumer Zeit am Rand und bespricht sich mit seinen Mitarbeitern. Konkret soll es bei der zweiten öffentlichen Veranstaltung am 18. Juni werden. Es soll "schwerpunktmäßig darum gehen, in die einzelnen Themen (wie bspw. Mobilität, Wohnen, Kultur u. v. m.) vertiefend einzusteigen."

Viel Lärm um nichts? Eigentlich ist längst klar, welche Bedeutung dem größten zukünftigen Baugebiet Stuttgarts zukommt. "Stuttgart hat einen eklatanten Wohnungsmangel", hat OB Kuhn auf der Versammlung am 9. April festgestellt, und zwar "sicher nicht an überteuerten Wohnungen." Er fragt sich, wie auf einer "hochpreisigen Fläche bezahlbarer Wohnraum" entstehen kann.

Bezahlbarer Wohnraum auf hochpreisiger Fläche?

Walter Rogg, der Geschäftsführer der Wirtschaftsregion, meint, eine Bauausstellung müsse "keine akute Krise lösen". Aber einen akuten Mangel an bezahlbaren Wohnungen und eine Verkehrs- und Feinstaubkrise, ausgelöst durch die Pendlerströme aus dem Umland, gibt es durchaus. Diese Probleme sind allerdings nicht durch eine Bürgerbeteiligung zu lösen, sondern nur durch intelligente Planung und signifikante Investitionen.

Misstrauisch sind auch die Bewohner des Nordbahnhofviertels, die befürchten, dass durch die Aufwertung des Quartiers die Mieten weiter steigen. Junge Menschen hingegen, die erst vor Kurzem zum Studium nach Stuttgart gekommen sind, haben vom Verkauf der LBBW-Wohnungen oder den Konflikten um Stuttgart 21 wenig mitbekommen. Das <link http: www.stadtluecken.de _blank>Netzwerk Stadtlücken etwa hatte am 9. April zum gemeinsamen Rathausbesuch aufgerufen. Die Architekturstudenten fordern "mehr Recht auf Stadt!".


Info:

Das Netzwerk Stadtlücken präsentiert sich vom 11. bis zum 15. Mai im Fruchtkasten: Eröffnung Mi 19 Uhr; Do, Fr 16–21 Uhr, Sa, So 11–21 Uhr.


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13 Kommentare verfügbar

  • Horst Ruch
    am 17.05.2016
    Antworten
    Potsdamer Studenten haben uns mit ihrer Ausstellung im Stuttgarter Rathaus vom 14.03.-26.04.2012 bereits vorbereitet: "Ideen und Entwürfe zur Gestaltung des künftigen Rosensteinquartiers -Ausstellung die schöne Stadt- Stuttgarter Block." Es waren realistische Entwürfe im Hinblick auf Stuttgarts…
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