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Grün-schwarze Früchtchen

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Thomas Strobl muss sich laufend bohrende Fragen gefallen lassen, wie viel CDU denn eigentlich im Koalitionsvertrag steckt. Die grüne Basis dagegen ist zahm wie noch nie in der Geschichte der Partei. Dabei könnte auch sie bei näherem Hinsehen so manchen Stolperstein finden.

Die Szene erinnerte an einen Kindergeburtstag, wenn der Schenkende unbedingt die dankbare Begeisterung des Beschenkten über den großen, bunten Bagger erleben will. "Jetzt müssen Sie aber noch sagen", stupste Winfried Kretschmann den schwarzen Strobl an, als alles ausverhandelt war, "welche Ministerien Sie haben". Folgsam zählte der designierte Vize-Regierungschef auf: Innen, Kultus, Wirtschaft, Agrar, Justiz. Vor fünf Jahren war die Verblüffung groß, weil der größere dem kleineren Partner SPD nicht weniger als sieben Ministersessel zugestanden hatte. Diesmal dürfen sich die Grünen als Sieger im Verteilungspoker sehen. Selbst wenn viele ihrer neuen direkt gewählten Abgeordneten aus dem ländlichen Raum es gerne gesehen hätten, wenn das publikumswirksame Agrarministerium nicht zur CDU gewandert wäre. Allerdings kann der alte und neue Regierungschef darauf verweisen, dass es vergleichsweise abgespeckt wurde: Der Naturschutz wandert in Franz Unterstellers Umweltministerium.

Überhaupt der Landesübervater. Als zum Auftakt der förmlichen Gespräche das ZDF Kretschmann im "Politbarometer" zum beliebtesten Politiker der Republik ausrief, fragte der mit großen Augen: "Und was bringt mir das jetzt in den Verhandlungen?" Inzwischen kann er sich die Frage selber beantworten: Vor lauter Liebe und Bewunderung für den Triumphator des 13. März ist die Stimmung im eigenen Laden so, dass kritische Stimmen praktisch nicht mehr vorkommen. "Saßen überhaupt Grüne in den Verhandlungsrunden innere Sicherheit am Tisch?", klagt einer auf Facebook. Alle wichtigen Punkte im Polizeibereich (zweigeteilte Laufbahn, die Abschaffung von freiwilligem Polizeidienst und mittlerem Dienst) seien über Bord geworfen. Solche Kritik versandet sich spur- und folgenlos, was an ihrer Richtigkeit nichts ändert.

Im Wahlprogramm war jedenfalls beschlossen, der Videoüberwachung klare Grenzen zu setzen und der Polizei das neue Leitbild der Bürgernähe zu verordnen – dank "dialogorientierter Polizeikultur". Und natürlich sollte – endlich – die anonymisierte Kennzeichnung bei Großeinsätzen kommen, der Apparat insgesamt "multikulturell geöffnet" und Lesben und Schwule im Dienst vor Diskriminierung geschützt werden. Außerdem hätte die Partei gern den Verfassungsschutz "auf der Basis einer umfassenden Aufgabenkritik von Grund auf neu aufgestellt" gesehen. Im Koalitionsvertrag findet sich davon nichts mehr wieder. Stattdessen dürfen sich die Schlapphüte freuen, als ein "Frühwarnsystem der Demokratie" gerühmt zu werden, das "bedarfsgerecht" ausgestattet werden soll. V-Leute, auf die die Grünen angesichts der trüben Erkenntnisse aus dem NSU-Ausschuss "weitgehend verzichten" wollten, bleiben im Koalitionsvertrag unerwähnt, dürfen also mit Sicherheit weiterarbeiten.

Es gehört nicht viel Fantasie zu der Prognose, dass die 1500 von der CDU erkämpften neuen Stellen bei der Polizei noch so manchen Streit auslösen werden in der neuen Regierung. Denn entgegen anderslautender Behauptungen des Ministerpräsidenten, man habe sich viel konkreter als vor fünf Jahren mit der SPD in Finanzierungsfragen festgelegt, bleibt der Vertrag hier bemerkenswert vage. Wie auch im großen Ganzen: "Die Koalition verpflichtet sich, strukturelle Einsparungen in Höhe von rund 1,8 Milliarden Euro in der Endstufe bis 2020 zu realisieren." Wie das genau geschehen soll, behalten die beiden Parteien wohlweislich für sich – sie wissen es selber noch nicht.

Um des lieben Friedens willen haben sich die Grünen auf einige seltsame sprachliche Kompromisse eingelassen. Der Kostendeckel für Stuttgart 21 soll zwar nach wie vor gelten, darf aber auf dringenden Wunsch der Union nicht mehr beim Namen genannt werden. "Das Land hält in den Sprechklauselgesprächen am Ziel fest, dass über die im Vertrag genannten Kostenanteile in Höhe von 930,6 Millionen Euro hinaus vonseiten des Landes keine Zahlungen zu leisten sind", heißt es jetzt. Auch der Begriff Gender kommt nicht vor, weil er vor allem in der Jungen Union absichtlich als Kampfbegriff missverstanden wird, weshalb die Gender- jetzt umgetauft wird in Geschlechterforschung.

Gender- heißt jetzt Geschlechterforschung

In Aussicht stellten die Wahlsieger schriftlich und verbindlich die Zustimmung zu den drei weiteren, seit Monaten diskutierten sicheren Herkunftsstaaten in Nordafrika – "falls die entsprechenden hohen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen vorliegen". Die von der CDU im Wahlkampf so scharf kritisierte Geldkarte für Flüchtlinge kommt allerdings, nur heißt sie jetzt Sachleistungskarte. Sogar von einer Verschärfung der Abschiebungsregelungen haben die ungleichen Partner Abstand genommen. Ganz im Gegenteil: Flüchtlinge in Ausbildung und danach in Arbeit bekommen ein Bleiberecht.

Eingepackt hat Kretschmann seine Mitte Februar in einer Grundsatzrede ausgebreitet Idee von einer "Agenda 31" für Baden-Württemberg. Sie sollte das ganze Land mit Bürgerforen überziehen, um Zukunftsvorstellungen zu entwickeln. Aus dem Wortschatz der neuen Koalitionäre verschwunden ist sogar die "Politik des Gehörtwerdens". An Gisela Erler, seiner Staatsrätin für Zivilgesellschaft mit Stimmrecht im Kabinett, ließ der Ministerpräsident aber nicht rütteln. "Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie ist eine unerlässliche Ergänzung und Bereicherung der repräsentativen Demokratie", heißt es im Koalitionsvertrag. Und weiter: "In diesem Sinne wollen wir Bürgerinnen und Bürger umfassend in die Willensbildung einbeziehen und staatliches Handeln so bürgernah und transparent wie möglich gestalten."

Die Grünen sehen sich aber auch als Hüter anderer Errungenschaften aus der abgelaufenen Legislaturperiode, weit über die Schulpolitik hinaus. Der Ministerpräsident spricht von einer neuen bürgerlichen Koalition, in der seine Partei für den sozial gesinnten Teil der Bürgerschaft steht. Tatsächlich aber haben er und die Seinen das Tariftreue-, das Mindestlohn- und das Bildungszeitgesetz in diesem Tauziehen mit der CDU tapfer verteidigt. Sogar auf das Glatteis einer neuen Steuererhöhungsdebatte ließ sich die Union führen: Nach 2011 könnte es zum zweiten Mal zu einer Erhöhung der Grunderwerbsteuer kommen. Umso unverständlicher sind die Verbalattacken des scheidenden Finanzministers Nils Schmid, der von einem Vertrag "ohne jede Ambition, ohne Esprit, ohne eine übergreifende Idee für unser Land" spricht. Allerdings schon bevor die 140 Seiten mit dem Titel "Verlässlich. Nachhaltig. Innovativ." online oder in gedruckter Form verfügbar waren.

Zerplatzt sind, das wird die grüne Basis freuen und jene der CDU ärgern, alle Blütenträumen zum Abstimmungsverhalten im Bundesrat. Seit dem Wahldesaster vom 13. März kursieren zahlreiche Forderungen im Netz, die Union dürfe überhaupt nur als kleinerer Partner in eine Koalition gehen, wenn im Bundesrat immer mit den B-, also den schwarz-geführten Ländern votiert wird. Stattdessen enthält der Vertrag die jetzt seit Jahrzehnten übliche Reglung, dass sich Baden-Württemberg im Streitfall seiner Stimme enthält.

Überhaupt werden Mitglieder und Anhänger in beiden Parteien in den kommenden Tagen und Wochen noch so manches Detail finden, das Debatten auslöst. Der Ministerpräsident hat, um die Stabilität der neuen Konstellation zu illustrieren, schon mal vorsorglich das Bild von der Trockenmauer geprägt, für die der Mörtel angerührt sei. Führende Grüne sehen ihre neuen Freunde in einem landes- und/oder einem gesellschaftspolitischen "Schnellkochtopf". Dabei gibt auch Passagen im Vertrag, die eher der Metapher aus dem Jahr 2011 von den so lange gebohrten dicken Brettern entspricht. Zum Beispiel auf Seite 85. Da ist die "dauerhafte Absicherung der Frauenhausfinanzierung" festgeschrieben und, dass der Zugang zur Beratung und zur Unterkunft in Frauenhäusern unabhängig von Einkommen, Wohnort und Aufenthaltsstatus überall im Land sichergestellt werden muss.

Es ist drei Legislaturperioden her, da soll es noch Männer in der CDU-Fraktion gegeben haben, die häusliche Gewalt nicht einmal unter Strafe stellen wollten und Frauenhäuser für überflüssig hielten.


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9 Kommentare verfügbar

  • Klaus
    am 10.05.2016
    Antworten
    Also ich kann seit geraumer Zeit keinen Unterschied zwischen "GrünInnen" und "Schwatten" feststellen.

    Bei allem, was früher 'heilig' war, macht man sich nun ungeniert - m.E. mit - schuldig: Daten, Verkehr, Natur, Lebensmittel, Flüchtlinge, Asylverfahren, Ausländerpolitik im Stuttgarter Raum,
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 4 Stunden
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