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Der Deckel wackelt

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Grün-Schwarz hat ein Problem: Stuttgart 21. Während Kretschmann & Co. auf dem Kostendeckel sitzen, will die CDU ihn offenbar lupfen. Ein Kabinettsbeschluss aus grün-roten Zeiten, nicht mehr als 931 Millionen Euro für den Tiefbahnhof zu zahlen, soll nicht im neuen Koalitionsvertrag stehen.

Oft wird aus Wünschen keine Wirklichkeit. Das musste auch Steffen Bilger erfahren. Ende Februar hatte der Ludwigsburger CDU-Abgeordnete im Bundestag die Opposition noch in Sachen Stuttgart 21 vorgeführt. "Ich würde mich wirklich freuen, wenn alle politisch Verantwortlichen endlich für den Erfolg des Projekts arbeiten und nicht immer Sand ins Getriebe streuen würden", bügelte der 37-jährige Abgeordnete die Linke ab, die den Stopp des Tiefbahnhofbaus forderte. Um die Deutsche Bahn AG vor einem finanziellen Desaster zu bewahren.

Bilger nahm damals ebenso die Grünen aufs Korn. "Wer wirklich eine konstruktive Begleitung des Projekts will, der sollte dafür sorgen, dass die Grünen der nächsten Landesregierung nicht mehr angehören", postulierte der Stuttgart-21-Berichterstatter seiner Partei im Verkehrsausschuss. Bekanntlich ist es anders gekommen.

Ans ungewohnte Rollenspiel musste sich auch Bilger in Stuttgart erst gewöhnen, wo er mangels Fachkompetenz vor Ort die CDU-Abordnung in der Koalitionsarbeitsgruppe Verkehr und Infrastruktur anführte. Mit dem grünen Landesverkehrsminister Winfried Hermann als kundigem Gegenüber. "Die Schwarzen haben sich als Sieger aufgespielt, denen musste man deutlich sagen, dass sie es nicht sind", heißt es aus grünen Verhandlungskreisen.

Guido Wolf hat noch Straßen wie Rollrasen versprochen

Dass die Sitzungen der Verkehrsgruppe nicht lustig werden, ließ sich schon anhand der Wahlplakate der CDU erahnen. Auf einem entrollte Spitzenkandidat Guido Wolf neue Straßen wie Rollrasen, ziemlich quer zur Mobilität grüner Prägung, die nachhaltig Feinstaub, Klimaerwärmung und Schlaglöcher eindämmen will. Zwar sprach am vergangenen Freitag Ministerpräsident Winfried Kretschmann von einem "durch und durch erfreulichen Ergebnis". Doch das ist wohl nur die halbe Wahrheit.

Richtig geknirscht hat es gerade in der Verkehrsgruppe. Einen "gemeinsamen Spirit" zu entwickeln sei sehr schwierig, erzählte Verkehrsminister Hermann seinen Parteifreunden. "Ich habe viel Empathie und Toleranz gebraucht, mehr als in den vergangenen fünf Jahren. Wir ringen um jedes Wort, um jeden Satz", gab er im Stuttgarter Kreisverband Einblicke, wie es hinter den Kulissen tatsächlich lief. Zwar habe man sich auf eine nachhaltige Mobilität geeinigt, auch was den Straßenneubau anbelangt. Doch als Knackpunkt blieb: Stuttgart 21. Letzter Stand: Die CDU besteht darauf, den Kostendeckel nicht zum Vertragsgegenstand mit der Bahn zu machen.

Es bleibt also offen, ob sich das Land weiter gegen die Bauherrin Bahn wehrt. Im Dezember 2012 war bekannt geworden, dass das große Buddeln statt 4,5 Milliarden doch mindestens 6,5 Milliarden Euro kosten soll. Wer die fehlenden zwei Milliarden bezahlt, weiß Bahnchef Rüdiger Grube bis heute nicht. Die Finanzierungsvereinbarung vom 30. März 2009 sieht bei "unerwarteten Mehrkosten" nur die sogenannte Sprechklausel vor: Die Projektpartner sollen Gespräche aufnehmen. Im März 2013 gab der Bahn-Aufsichtsrat zwar grünes Licht für den Weiterbau von Stuttgart 21. Aber nur unter der Bedingung, dass Grube die fehlenden Milliarden notfalls vor Gericht von den Projektpartnern eintreibt.

Bislang konnte Grube nicht darauf bauen, dass Land (Finanzierungsanteil: 931 Millionen Euro), Landeshauptstadt (292 Millionen), Flughafen Stuttgart (227 Millionen) und der Verband Region Stuttgart (100 Millionen) freiwillig weiteres Geld für den Tiefbahnhofbau rausrücken. "Der Kostendeckel bei Stuttgart 21 gilt", lautete das Mantra der alten grün-roten Regierung. Jetzt will der neue Verhandlungspartner die heilige Kuh offenbar schlachten.

"Wir hätten von der CDU gern eine klare Aussage, dass der Kostendeckel weiter gilt", betonte Hermann gegenüber den Stuttgarter Parteifreunden, sehend, wie sich die Union sträubt. Man habe sich juristische Bewertungen eingeholt, was zu diesem Thema im Koalitionsvertrag stehen darf, um der Bahn keine Munition für spätere Prozesse zu liefern. "Da muss man sich gut wappnen und vorsichtig sein", so Hermann am vergangenen Freitag. Die CDU habe das bisher nicht verstanden, sondern gehe "eher in die Richtung, der Bahn mehr zu zahlen".

Razavi will von einem Kostendeckel nichts wissen

Am nächsten Morgen bestätigte sich Hermanns Befürchtung. In den "Stuttgarter Nachrichten" plädierte die Geislinger CDU-Landtagsabgeordnete Nicole Razavi dafür, den Kostendeckel-Beschluss der alten Landesregierung nicht erneut aufzulegen. "Die CDU hält sich an den Finanzierungsvertrag mit der Bahn aus dem Jahr 2009, darin steht nichts von einem Kostendeckel", sagte Razavi, die in der Verkehr-Arbeitsgruppe sitzt. Dass das Land nun doch mehr Geld in den umstrittenen Tiefbahnhof pumpt, ist nach Razavis Wortmeldung zwar nicht gesagt. Eine strikte Weigerung klingt jedoch anders. Da macht's auch nichts, wenn die künftige Landesregierung auf jeden Cent achten will, den sie ausgibt: Ab 2020 gilt das Neuverschuldungsverbot.

Razavis Statement schreckte auch das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 auf. In einem offenen Brief an die potenziellen Koalitionäre appellierten die Projektgegner, sich durch bahnunabhängige Gutachter eine Einschätzung des jetzigen Kostenstands und möglicher weiterer Kostensteigerungen einzuholen. Zugleich solle die künftige Regierung das Bekenntnis der Vorgänger fixieren, keine weiteren Kosten über die im Rahmen des Kostendeckels zugesagten hinaus zu tragen. Ebenso solle Grün-Schwarz Leistungsfähigkeit und Brandschutz durch unabhängige Gutachten überprüfen lassen.

Dass ausgerechnet die CDU-Abgeordnete Razavi die Büchse der Pandora öffnet, verwundert kaum: Die verkehrspolitische Sprecherin ihrer Fraktion gilt als glühende S 21-Befürworterin – und Intimfeindin von Winfried Hermann. In der vergangenen Legislaturperiode nutzte die diplomierte Skilehrerin jede Gelegenheit, um gegen den Grünen zu keilen. Etwa <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik giftpfeile-aus-geislingen-2202.html internal-link-new-window>im Mai 2014, als sie grünen Filz im Verkehrsministerium bei der Vergabe von Beratungsaufträgen entdeckt zu haben glaubte. 

Kenner der Materie verwundert das nicht. Razavi war um die Jahrtausendwende persönliche Referentin von Staatssekretär Stefan Mappus, der aufseiten des Landes federführend den Großen Verkehrsvertrag 2003 mit der Deutschen Bahn aushandelte. Nach dem Machtwechsel ließ Hermann von seinen Fachleuten die Konditionen überprüfen, zu denen Nahverkehrs- und Regionalzüge bei der Bahn bestellt wurden. Das Ergebnis offenbarte einen lukrativen Deal für den Staatskonzern, mutmaßlich als Kompensation für den Bau des teuren Tiefbahnhofs. Zwei Gutachten bezifferten die Überkompensation bis Vertragsende 2016 zwischen 700 Millionen und 1,25 Milliarden Euro.

Zudem rechnete DB Regio seit 2007 die Infrastrukturkosten "doppelt dynamisiert" ab. Dieser Überzahlungseffekt summiert sich auf 141,5 Millionen Euro, rechneten Hermanns Experten aus. Seit Ende 2012 hielt das Land deswegen Zahlungen an DB Regio zurück. Überraschend verglichen sich beide Seiten vor wenigen Tagen immerhin im "doppelten Dynamisierungsstreit": das Land zahlt der Bahn 67,5 Millionen Euro, die wiederum verzichtet auf 67,5 Millionen Euro aus der Forderung. Außerdem wird der Konzern zehn Millionen Euro für modernes Zugmaterial bereitstellen. Weitere zehn Millionen werden auf die Bestellung zusätzlicher Nahverkehrszüge angerechnet. Außerdem verzichtet die Bahn auf 20 Millionen Euro Zinsen.

Der Filz ist immer noch fest gewirkt

Im Januar 2014 deckte Kontext zudem auf, dass Razavi den holländischen Grontmij-Konzern berät. Dessen deutsche Gesellschaft ist größerer Auftragnehmer bei Stuttgart 21. Auf Nachfrage betonte Razavi damals, <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik neuer-filz-bei-stuttgart-21-1964.html internal-link-new-window>dass ihre Mitgliedschaft im Council der Grontmij GmbH keinen wirtschaftlichen und tatsächlichen Interessenkonflikt auslöse. Seit Juni 2015 ist Grontmij auch in Stuttgart präsent. Bei der Eröffnungsfeier des Büros in der Willy-Brandt-Straße, einen Steinwurf von der Baugrube des Tiefbahnhofs entfernt, zeigte sich, wie eng die Verflechtungen sind. Grontmij-Geschäftsführer Jochen Ludewig konnte unter den zahlreichen Gästen auch Wolfgang Dietrich begrüßen. Der ehemalige Stuttgart-21-Projektsprecher sprach ein Grußwort. Den Konzern willkommen hieß auch Walter Rogg, Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung der Region Stuttgart. Die WRS ist eine Tochter des Regionalverbands, der Stuttgart 21 mit 100 Millionen Euro mitfinanziert.

Als Festredner widmete sich der Münchner Professor Holger Magel den Problemen, die Bürgerbeteiligung mit sich bringt. Das Fazit des Beiratsvorsitzenden der Grontmij GmbH, die seit Oktober 2015 zum schwedischen Sweco-Konzern gehört, gilt mittlerweile als Binsenweisheit: Bürgerinnen und Bürger seien von Anfang an in die Planung von Infrastrukturprojekten einzubinden, um so deren Qualität und Akzeptanz zu erhöhen. Und dies verlange seitens der Entscheider noch mehr Offenheit. Razavi sitzt inzwischen im Sweco-Beirat.


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14 Kommentare verfügbar

  • Leselotte
    am 25.04.2016
    Antworten
    @ chr.

    Da Dein/Ihr Link zum Hauk-Statement blockiert wird (jedenfalls für mich) hier noch ein anderer, der vielleicht besser funktioniert:

    https://www.youtube.com/watch?v=u4fjFNKOCAM&sns=fb

    Hochgeladen am 16.11.2011

    Fraktionsvorsitzender Peter Hauk MdL stellt die Argumente der…
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