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Im neoliberalen Käfig

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Ein halbes Jahrhundert Mitglied bei der SPD und viel erlebt. Wie geht es einem Genossen, der seine Partei im Südwesten bei "lumpigen" 12,7 Prozent sieht? Unser Autor erzählt, wie es dazu kommen konnte.

Auf einer Kreuzfahrt im Mittelmeer. Ein Stratege aus der Berliner SPD-Zentrale ist mit an Bord. Wir reden darüber, dass heute alles viel leichter zu organisieren ist. Eigentlich. Mit Computer und Handy. "Und trotzdem kommen wir an die Menschen nicht mehr richtig ran", frage ich mich. Der Berliner Mitreisende neigt den Kopf, ein Lächeln um die Mundwinkel: "Vielleicht liegt's am Handy?" Das hat sich in meinem Kopf festgesetzt.

In der Tat, die SPD will mit einem ganz modernen Kommunikations-Management Menschen für sich gewinnen. Die sozialen Medien sollen's bringen. Nur wenig Papier verteilen, Mitglieder-Telefonkonferenzen sollen überzeugen. Und die mediengeformten Genossen sollen den Eindruck gewinnen, eingebunden, an der Formulierung der aktuellen Politik beteiligt zu sein.

Wie kommt es aber, dass ich vielen begegne, die nicht überzeugt sind, die in ihrem Alltag andere Erfahrungen machen, auf Antworten warten, keine bekommen – eigentlich gar keine Lust mehr auf Politik haben?

Erklärungen werden von universitär Trainierten angeboten: Die Menschen seien heute weniger politisch interessiert, besonders Jüngere würden von der Unterhaltungsindustrie eingefangen und seien für längere Engagements nicht mehr zu gewinnen. Und dann gebe es ja den typischen Arbeitnehmer nicht mehr, was man endlich mal begreifen müsse. Die SPD müsse sich weiter modernisieren in Inhalt und Management – also noch mehr "Handy".

Das Telefon klingelt und bringt mir die Mitglieder-Telefonkonferenz ins Haus. Ein paar nachdenkliche Fragen, ein Lob, verständnisvolle Antworten. Das war's. Politische Konsequenzen? Die Hoffnung stirbt zuletzt. Wir machen weiter wie gehabt.

Nils Schmid serviert Kaffee – und sonst nichts

Nils Schmid trifft sich wegen vieler "Terminengpässe" erst nach langem Drängen mit Kritikern von Stuttgart 21. Was hören wir über das Gespräch? Der Vorsitzende serviert Kaffee, wenig Zeit fürs Thema; der nächste Termin sitzt im Nacken.

Dieser Tage wurde der frühere SPD-Chef Heinz Bühringer beerdigt. Immer wieder saßen wir am Rande einer Kreistagssitzung, später im Landtag zusammen, um Probleme zu wälzen, um ein Thema zu diskutieren; ein ruhiges Abwägen unterschiedlicher Sichtweisen. Mit ihm holte die SPD bei der Landtagswahl 1972 mit 37,56 Prozent das beste Ergebnis ihrer Geschichte.

Jaja, werden die Netzwerker jetzt sagen: Früher war alles besser. Nein, das war es nicht, aber vergleichende Rückblicke müssen erlaubt sein. Da gab es mal einen Herbert Ehrenberg. Er war von 1976 bis 1982 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung und wusste zusammen mit seiner Staatssekretärin Anke Fuchs nicht nur ein herzhaftes sauerländisches Buffet mit Hausmacher Wurst zu servieren, sondern auch, wie eine verantwortliche Sozialpolitik auszusehen hatte. Damals hatte die SPD zwei Flügel. Sie waren beide stark und hielten die Partei solide im Wind. Heute versucht ein rechter Flügel mit lumpigen 12,7 Prozent in Baden-Württemberg allein den Kurs zu bestimmen.

Mit Schröder wurde die SPD eine andere

In den Jahren 1974 bis 1982 besuchten Gewerkschaftsjournalisten Helmut Schmidt im Kanzleramt. Er räumte uns einen Nachmittag ein, vertrat unmissverständlich seine Position, hörte aufmerksam zu, fand in nachbohrenden Fragen Bedenkenswertes. Nicht anders zuvor bei Willy Brandt. Auch er hatte Zeit, nahm jeden Gesprächspartner ernst und formulierte Antworten. Der nächste Termin musste halt nach hinten geschoben werden. Bei Gerhard Schröder war Schluss damit. Die Vorsitzenden der Gewerkschaften wurden abgekanzelt, die Vertreter des Kapitals hofiert. Es war das Jahr 2002, das Thema Hartz IV. Die SPD war eine andere.

Schwaikheim, sieben Jahre später: Es ist kurz vor 24 Uhr, mein Telefon klingelt. Hermann Scheer erzählt, es gebe Bestrebungen, die Bahn zu privatisieren. Das soll auf dem SPD-Parteitag 2009 beschlossen werden. Er sei aufgefordert worden, dies zu verhindern, habe aber keine Zeit, weil ihn gerade wieder die Energiewende beschäftige. "Hermann, das musst du machen, du schaffst das", sage ich ihm, "das ist momentan das Wichtigste." Denk- und Verschnaufpause. "Na ja, ich mach's." Auf dem Parteitag hält Scheer eine flammende Rede und verhindert das Schlimmste. In Hessen tritt er an, um eine neue Energie- und Wirtschaftspolitik durchzusetzen. Und was passiert? Aus den eigenen Reihen – vorneweg Wolfgang Clement – wird er torpediert. In Baden-Württemberg wird ihm gedroht, einen sicheren Listenplatz für die Bundestagswahl 2013 zu streichen. Hermann Scheer ist 2010 gestorben. Er brauchte ihn nicht mehr.

In Katrin Altpeter hatten wir eine engagierte Sozialpolitikerin, die viel gearbeitet hat. Nach dem desaströsen Wahlergebnis ist sie erst einmal abgetaucht, aus Frustration und Enttäuschung, verständlicherweise. Sie hatte keinen leichten Stand und wenig Rückhalt bei Nils Schmid, dem stellvertretenden Ministerpräsidenten. Aber vielleicht taucht sie als Hoffnungsträgerin wieder auf, nach einem Großreinemachen in der Landes-SPD. Sie wäre geradezu prädestiniert, die soziale Gerechtigkeit wieder zum Markenzeichen einer runderneuerten SPD zu machen. Nicht nur, weil sie im Wahlkampf 2000 Gläschen selbst gekochte Erdbeermarmelade verteilt hat. Sondern weil sie zwischen arm und reich noch unterscheiden kann und klare Positionen hat. Aber das passt halt nicht, wenn das große Lied ein anderes ist.

Wer hat 2016 noch Flugblätter verteilt?

Oder schauen wir uns die Stimmung an der Basis an. Ja, früher haben wir um 4.30 morgens bundesweit Handzettel verteilt, die die Fernsehdiskussion vom Vorabend kommentierten und mit Fakten untermauerten. Eine Art "Faktencheck". Angeboten zur Diskussion, gut lesbar. Plakate kleben, Flugblätter in die Briefkästen stecken, vor Ort selbst gebastelte Einladungen für Veranstaltungen, Orts- oder Stadtteilzeitungen schreiben und vervielfältigen – so gut wie nie gab es Probleme, Menschen zu finden, die anpackten und sich auch öffentlich zur SPD bekannten. 2016 war es schwierig, wenigstens einige für das Wenige, das diesmal zu tun war, zu finden.

Was hätten sie sagen sollen, an den Info-Ständen 2016? Etwa beim Thema Flüchtlinge, wenn sie gefragt wurden, warum die Sozialdemokraten nicht über die Ursachen sprechen, Parteichef Siegmar Gabriel stattdessen Waffen an die Saudis liefert? Wenn sie gefragt wurden, warum so wenig für den sozialen Wohnungsbau getan wird? Was hätten sie dem Griechen sagen sollen, der vorbeikommt und sagt, dass die rücksichtslose Austeritätspolitik der schwarz-roten Regierung den "kleinen Mann" stranguliere, die Milliarden an die Banken fließen? Vielleicht seien die südeuropäischen Länder nur neoliberale Übungsfelder? Unser griechischer Freund vermisst die Solidarität der SPD.

Und so sind wir mittendrin in dem großen Thema soziale (Un-)Gerechtigkeit in Deutschland. Warum sinken die Renten, warum müssen wir Altersarmut fürchten? Warum zahlen die Unternehmer weniger in die Krankenversicherung? Warum sind die Kindergartengebühren so hoch? Warum ist der Hort am Samstag geschlossen? Warum holt man das Geld nicht bei den Superreichen? Wo bleibt die Steuerreform; warum Angst vor der Erbschaftssteuer? Was bringt uns TTIP? Welche Antworten können wir geben?

Jetzt analysiert und diskutiert die SPD. Wahrscheinlich via Handy in ihrem neoliberalen Käfig.

 

Hermann Zoller, 76, seit 50 Jahren SPD-Mitglied, Gewerkschaftsjournalist, zuletzt als Pressesprecher beim Verdi-Bundesvorstand. Heute beim Bürgerprojekt Die AnStifter aktiv.


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19 Kommentare verfügbar

  • Georg H.
    am 03.07.2016
    Antworten
    Leider kann ich dem Artikel in keiner Weise widersprechen. Wirklich vorwärts gerichtete Politik in der SPD hervorheben? Unmöglich. Unauffindbar. Leider. Die zaghaften Versuche durch Einzelministerien, beispielsweise Arbeitsministerium, werden im Vorfeld oder noch vor der Verwirklichung verwässert, …
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