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Die linke Sünde des roten Gottesmanns

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Als er Mitte der Siebzigerjahre die Fraktion seiner Partei im Stuttgarter Gemeinderat führte, da hielt die SPD dort 27 Sitze. Heute sind es neun. Heute gehört auch Siegfried Bassler, 82, nicht mehr zur SPD. Das Urgestein der hiesigen Sozialdemokratie wurde nach 55 Jahren – heimlich, still und leise – rausgeschmissen.

Fälle wie der seine seien in der Partei eindeutig geregelt. Das gab der Stuttgarter SPD-Kreisvorsitzende Siegfried Bassler schriftlich. Nach "§ 6 Abs. 1 lit b)" des Organisationsstatus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, schrieb Dejan Perc im Februar 2014, gelte: "Unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der SPD ist die Tätigkeit, Kandidatur oder Unterschriftsleistung für eine andere konkurrierende Partei oder Wählervereinigung." Und wenn es einer trotzdem tut, dann – man ist ja stets per Du unter Sozialdemokraten – "schließt nicht die SPD Dich aus der Partei aus, sondern Du erklärst Deinen Austritt".

Und so hat Bassler, der pensionierte Pfarrer, der rote Gottesmann, alsdann gesündigt: Er blieb dabei, kandidierte als Unabhängiger bei der Gemeinderatswahl im Mai 2014 für noch rotere als die Roten, auf dem (letzten) Listenplatz Nummer 60 für die Linken, wurde von den Wählern hinaufkumuliert und -panaschiert auf Platz zehn und – von der SPD rausgeschmissen. Er nennt das heute noch "einen Weckruf für meine Partei", einen letzten Versuch.

Siegfried Bassler ist nie ausgetreten aus der SPD und wurde nie ausgeschlossen, sein Parteibuch hat er heute noch. Dem automatischen Ausschluss hat er schriftlich widersprochen und "ein förmliches Parteiordnungsverfahren" verlangt, "in dem ich meine Gründe darlegen kann". Schließlich ist ein Thilo Sarrazin auch immer noch in der SPD. Antwort gab es darauf keine. Und seit März 2014 werden tatsächlich keine Mitgliedsbeiträge mehr abgebucht. Ende der Durchsage.

"Die SPD", sagt Bassler, "ist eine Partei mit einer großen Vergangenheit. Und mit großen Verdiensten." Mehr fällt ihm allerdings nicht ein auf die Frage, warum einer heute tun sollte, was für ihn 1959 schwierig, aber dennoch notwendig war: in die SPD einzutreten. Schwierig, weil es damals so gar nicht üblich war, dass sich Pfarrer politisch engagieren; zumindest nicht links. Und Bassler kriegte mit 26 als Jüngster in der Evangelischen Landeskirche eine eigene Pfarrei im Hohenlohe-Kreis, gründete einen SPD-Ortsverein, brachte sechs Mitglieder zusammen und kandidierte 1964 für den Landtag. "Später", sagt der Türöffner Bassler, "gab es viele Pfarrer in der SPD." Heute sind Pfarrer wieder eher unpolitisch. Oder halt nicht in der SPD.

1966 wird er nach Stuttgart versetzt, immer noch jung, an die Matthäuskirche, den Dom des Stuttgarter Südens. Es ist die Heimkehr nach Heslach. Die Basslers stammen von dort, Georg Bassler, der Großvater, hat dereinst – 1887 zusammen mit dem Arbeiterführer Karl Kloß – den SPD-Ortsverein Heslach gegründet. Und just dieser Ortsverein wird 2014 maßgeblich Basslers Parteiausschluss betreiben.

Dort nämlich dient er sich im Herbst 2013 an, als es um die Kandidatenliste für die Gemeinderatswahl 2014 geht. Er, mit seinen 79 Jahren längst ein Politpensionär, möchte auf dem letzten Platz Nummer 60 für die SPD kandidieren, um ein Zeichen zu setzen: Dass es in der SPD auch noch Menschen gibt, die gegen Stuttgart 21 sind. Ein Zeichen auch, dass die SPD solche und ihre Ansichten akzeptiert und überhaupt zu Wort kommen lässt.

Der Bahnhofsbau, der Anfang von Basslers SPD-Ende

Es geht bitter aus für Bassler. Kommt nicht in Frage, bescheidet ihn die Partei, denn man kenne ihn ja. Schon 1994 hat er auf Platz 60 kandidiert, wurde auf Platz 18 hochgewählt und saß plötzlich – wieder – im Gemeinderat, wo doch eigentlich Jüngere hingehören. Allerdings hatte die Partei damals keine 60 Leute zusammengebracht und gehofft, mit seinem guten Namen ganz unten auf der Liste noch ein paar Stimmen mehr zu machen. Bassler, der Menschenfänger.

1968 erstmals in den Gemeinderat gewählt, macht ihn die – 27 Mann starke – Fraktion bereits 1972 zu ihrem Chef. Für gewöhnlich ist das ein Sprungbrett: Macht man den Job gut, macht einen die Partei entweder zum Bürgermeister in Stuttgart oder sie macht einen gesicherten Wahlkreis für Landtag oder Bundestag frei. Bassler will keines von beidem. Und wählt einen anderen Weg.

Er bleibt Pfarrer und wird 1980 ehrenamtlicher Bezirksvorsteher von Stuttgart-Süd. In den 14 Jahren, in denen er den Job macht, wird der Heslacher Tunnel geplant, gebaut und eröffnet. Und Heslach, seit je her die Arbeitervorstadt, jetzt aber befreit von hunderttausend Pendlerautos täglich, wird wieder wohnlich. Und lebenswert. Siegfried Bassler, der Workaholic, ist nie einem Ehrenamt aus dem Weg gegangen. Er hat Kriegsdienstverweigerer begutachtet, RAF-Häftlinge in Stammheim besucht und diverse Bücher geschrieben. Eigentlich ist er zufrieden mit sich und der Welt, als er 1999 aus dem Gemeinderat ausscheidet und in Ruhestand geht.

Bis Stuttgart 21 kommt, der Tiefbahnhof, der ein sinnloser Rückbau ist und vermutlich nie funktionieren wird. Bassler, der mit dem Rückgrat, steht noch einmal auf, mit Mitte 70, stellt sich hin und hält Reden auf Montagsdemonstrationen. Bös beäugt wird er von seiner Partei, die für das Projekt ist, nach dem alten SPD-Motto: "Die Schlote müssen rauchen!" Er muss feststellen: "Eine vernünftige und erst recht eine demokratische Diskussion darüber hat es in der Partei nicht gegeben."

2009, bei der Gemeinderatswahl, verliert die SPD weitere vier Sitze, stellt nur noch zehn Stadträte. Für ihn die klare Reaktion darauf, dass ein Bürgerbegehren mit 67 000 Unterschriften eben auch von der SPD abgebügelt wurde. 2010 der Schwarze Donnerstag in Stuttgart, 2011 wird die CDU abgewählt nach 58 Jahren an der Regierung. Aber Grün-Rot an der Regierung kümmert sich um alles Mögliche, sagt Siegfried Bassler, nur nicht um das, wofür sie gewählt worden sind.

Trauer um die alte Tante SPD

Zusammen mit dem langjährigen Bundestagsabgeordneten Peter Conradi und dem Architekten Roland Ostertag bringt Bassler 2012 einen offenen Brief unter die Leute, der kurz vor dem 150. Geburtstag der Partei für Aufsehen sorgt. Zusammen haben die drei mehr Jahre an Mitgliedschaft vorzuweisen, als die Partei alt ist. Sozialdemokratisches Urgestein, das sich zu Wort meldet. "Trauer um die alte Tante SPD" ist das Flugblatt überschrieben, das tausendfach unter die Leute kommt und das die Medien aufgreifen.

Siegfried Bassler geht es nicht nur um Stuttgart 21. Es erzürnt ihn mindestens genauso, dass Schmidt und Schmiedel, der "Super"minister und der Fraktionsvorsitzende einer von der SPD mitgetragenen Landesregierung, als Verwaltungsratsmitglieder der Landesbank dem Verkauf Tausender Sozialwohnungen an eine Heuschrecke zugestimmt haben. Wenn jetzt, in der Flüchtlingskrise, gerade die SPD den Bau von Sozialwohnungen fordert, nennt er das den "Gipfel der Heuchelei".

Deshalb wird er im März bei der Landtagswahl sein Kreuzle anderswo machen.

Selber wohnt auch Bassler, der soziale Demokrat, zur Miete. Alle vier Kinder haben studiert. Eigentum erwerben zu können, dafür hat das Gehalt der Landeskirche nicht ausgereicht. Und dann sitzt er da an seinem Wohnzimmertisch, in der Wannenstraße hoch über Heslach auf der Hasenbergseite, das weiße Haar wallend, die Geste so groß wie das auch mit 82 Jahren immer noch eindrucksvolle Mannsbild an sich. 80 Treppenstufen, bis man dort ist, aber die halten ihn fit, und die Aussicht ist es sowieso wert: unten erst Hofbräu, dann Heslach, gegenüber der Waldfriedhof. Die Straße dort hinauf ist nach Karl Kloß benannt, nach dem Klassenkampfkameraden vom Opa.

Nach ihm, nach Siegfried Bassler, der so viel getan hat für Stuttgart, wird vielleicht eines Tages auch ein Weg oder ein Stäffele benannt werden, womöglich am Heslacher Friedhof. Den kennt keiner besser als er, auf dem beerdigt er seit 1966 Evangelische aller Art, solche mit Parteibuch und solche ohne, Rote wie Schwarze.

Zuletzt hat er etwas Privates beerdigt, etwas das ihm stets besonders nah am Herzen lag.

Ruhe in Frieden, hat sich Pfarrer Bassler gesagt, und: Ade, SPD!


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21 Kommentare verfügbar

  • Stuttgarter Bürger
    am 29.02.2016
    Antworten
    Armes Deutschland, arme SPD, arme Menschen,
    überall Armut.
    Geistige Armut- ohne Obergrenze- ein Armutszeugnis.

    Die Minderheiten haben auch ihre Qualitäten.

    Jedenfalls setzen sie mehr auf Wahrheit als auf Mehrheit in
    Propagandamanier.

    Hochachtung für die Rückgratmenschen !
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 9 Stunden
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