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Ulm bleibt Ulm

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Der Patriarch tritt ab, sein Kassenwart kommt. Der Wechsel im Ulmer Rathaus, von Ivo Gönner (SPD) zu Günter Czisch (CDU), wird wenig ändern. Der Neue übernimmt die offenen Baustellen, die der Alte hinterlassen hat.

Groß und mächtig wie der Münsterturm stand Ivo Gönner 24 Jahre lang im Mittelpunkt der Ulmer Stadtgesellschaft. Nun scheint sich die Geschichte zu wiederholen: Wie 1972, als dem parteilosen Theodor Pfizer nach 24 Jahren sein Finanzbürgermeister Hans Lorenzer (CDU) nachfolgte, löst auch jetzt der bisherige Finanzbürgermeister Günter Czisch (CDU/52,9 Prozent) den SPD-Rathauschef ab. Durch seine energische Parteinahme für das Projekt Stuttgart 21 hat Gönner zwar polarisiert, war aber in Ulm beliebt wie kein anderer. Zweimal wurde er mit rund 80 Prozent der Stimmen wiedergewählt. 2007 verzichtete die CDU gar darauf, einen Gegenkandidaten aufzustellen.

Nun ist zwar nicht einmal die Hälfte der Ulmer zur Wahl gegangen. Aber es war auch nicht recht zu erkennen, was die Konkurrenten hätten anders machen wollen. Martin Rivoir (29,9 Prozent) von der SPD nützte seine S-21-Begeisterung nichts, Birgit Schäfer-Oelmayer von den Grünen endete bei 7,8 Prozent, und wunderte sich danach über den "komischen" Wahlkampf, der keine Kontroversen kannte. Also alles wohl geraten in der 120 000-Einwohnerstadt?

In Gönners Amtszeit fielen einige Entscheidungen, die weit über Ulm hinaus für Aufsehen sorgten. So baute die Stadt nach sechsjährigen Beratungen mit der ganzen Stadtgesellschaft von 2000 bis 2007 die Neue Straße zur "Neuen Mitte" um. Ulms größte Nachkriegs-Bausünde, die in die ausgebombte Altstadt geschlagene Autoschneise, wurde auf eine Fahrspur in jeder Richtung zurückgebaut. In der Mitte tat sich genügend Raum auf, um ein Gebäude der Sparkasse und die Kunsthalle Weishaupt aufzunehmen. Mit dem Hans-und-Sophie-Scholl-Platz kam dabei auch der Widerstand gegen das NS-System zu späten Ehren.

Jetzt ist laut ZDF die Stadtbibliothek die "schönste Bausünde Deutschlands." 2004 hatte Gottfried Böhms gläserne Pyramide einen Hauch von Louvre an die Donau gebracht, 2007 der Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë gar mit einer Urheberrechtsklage gedroht. Damals begann auch der Umbau des ehemaligen Magirus-Werks. Statt den profanen Fabrikbau, der die Ulmer Stadtgeschichte stark geprägt hat, einfach abzureißen, wurde aus dem 235 Meter langen Klotz ein vielfach preisgekröntes "Stadtregal": schicke Loft-Wohnungen am Ufer der Blau, zwei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, Radwege, Einkaufsmöglichkeiten, alles was das Herz begehrt in nächster Umgebung.

All dies gilt freilich eher als Verdienst des Baubürgermeisters Alexander Wetzig, der erst im Februar nach ebenfalls 24 Jahren aus dem Amt schied. Er übergab an Tim von Winning, früher Fachbereichsleiter am Tübinger Liegenschaftsamt. Allerdings hat Gönner, das muss man ihm lassen, durch seine Grundstückspolitik aktiv an der Stadtgestaltung mitgewirkt. "Wenn ich ein Wohnbauproblem habe, hilft nur eines", stellte er einmal auf einer Tagung fest: "Wohnungen bauen." Städte müssten "rigoros in die Grundstückspolitik eingreifen": ein Signal auch an die Landeshauptstadt Stuttgart, die seit 2001 Immobilien im Wert von mehr als 650 Millionen Euro verkauft hat. Das Ulmer Stadtregal plante die Projektentwicklungsgesellschaft (PEG), ein städtisches Unternehmen, 1997 gegründet, um Unternehmen bei der Ansiedlung in mittlerweile drei "Science Parks" zu unterstützen.

Die Sedelhöfe bleiben ein wunder Punkt

Aber was ist mit den Sedelhöfen? Das Areal direkt gegenüber dem Bahnhof hatte die sonst so vorbildliche Ulmer Stadtplanung einem Investor überlassen, um dort eine Shopping Mall zu errichten: mit Wohnungen darüber wie im Europaviertel in Stuttgart. Ähnlich wie bei Wolfgang Schusters "Galeria Ventuno" warf aber der Entwickler MAB Development, eine Tochter der niederländischen Rabobank, Mitte 2014 das Handtuch. Ende einer Pannenserie: Zuerst war übersehen worden, dass die Besitzer eines Bürogebäudes, mit der Sparkasse Ulm als Hauptmieter, dieses nicht verkaufen wollten. Das Grundstück war aber Teil der Planungen, ebenso wie die Lieferantenzufahrt eines Sportgeschäfts. Einzelhändler fühlten sich benachteiligt. Der Zugang zur Stadt sollte verlegt werden, über das private Gelände der Mall.

Inzwischen hat sich ein neuer Investor gefunden, die in Hamburg ansässige Gesellschaft DC Commercial. Deren Angebot haben die Eigentümer des Bürohauses nun angenommen. Die Fußgängerzone bleibt vollständig auf städtischem Grund. Dafür mussten Zugeständnisse gemacht werden. Der Investor darf mehr Wohnungen und Büros bauen. Das Volumen des Projekts ist von 130 auf 170 Millionen gestiegen. Noch steckt der Schreck der Blamage allen Beteiligten in den Knochen, sie sind deshalb des Lobes voll. Dennoch bleibt die Frage, inwieweit die Stadt Ulm privaten Investoren die Planungshoheit überlässt.

Ulm hat aber auch eine lange Tradition bürgerschaftlichen Engagements. Robert Scholl, der Vater von Hans und Sophie Scholl war unmittelbar nach dem Krieg sogar Oberbürgermeister. Der 1968 gegründete <link http: www.ulmer-verein.de external-link-new-window>Ulmer Verein ist der linke Verband der Kunst- und Kulturwissenschaftler. Heute gibt es eine große Anzahl von Initiativen, von denen sich mehr als 30 im <link http: www.anders-ulm.de external-link-new-window>Verein anders-ulm zusammengeschlossen haben. Auch eine Sedelhof-Initiative gibt es, die sich neuerdings auch für Wohnraumförderung einsetzt. <link https: www.openpetition.de petition online wohnen-ist-menschenrecht-soziale-wohnraumfoerderung-als-fester-bestandteil-ulmer-stadtentwicklung external-link-new-window>Eine Petition soll demnächst an Baubürgermeister Tim von Winning übergeben werden.

Wegen der Flüchtlinge muss auch Ulm hier größere Anstrengungen unternehmen. Im Wahlkampf hatte sich vor allem der SPD-Kandidat Martin Rivoir für Sozialwohnungen stark gemacht, sodass Czisch sich genötigt sah nachzulegen: "Die Mieten in Ulm dürfen nicht durch die Decke schießen und wer von der Stadt ein Grundstück für Geschosswohnungsbau bekommt, muss noch mehr bezahlbare Wohnungen anbieten." Czisch hält sich zugute, er habe erreicht, dass in den Sedelhöfen 100 Wohnungen zusätzlich gebaut würden. Das sind aber nun gerade nicht Sozialwohnungen. "Windelweich und nichtssagend", kommentiert die <link https: www.facebook.com sedelhof-initiative-ulm-602393336519830 external-link-new-window>Sedelhof-Initiative vernichtend auf ihrer Facebook-Seite.

Durch das Debakel der Sedelhöfe hat auch das "nächste Jahrhundertprojekt" (Ivo Gönner), der Umbau des Bahnhofsgeländes, an Glanz verloren. Wenn es auch seit Juli einen neuen Info-Pavillon gibt. Ohnehin wird die Magistrale Paris-Budapest, an die Ulm so dringend angebunden sein will, noch ein wenig auf sich warten lassen. Und was nützt der schönste Bahnhof, wenn sich dort uralte Diesel-Züge unter grässlichem Lärm und Gestank auf die Südbahn-Route begeben? Noch immer steht die Elektrifizierung in den Sternen. Aber vielleicht wird ja Verkehrsminister Alexander Dobrindt dem CDU-Mann auf dem OB-Sessel den Gefallen tun, das Projekt endlich in Gang zu bringen.


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2 Kommentare verfügbar

  • Klaus
    am 02.12.2015
    Antworten
    Sehr treffender Kommentar!
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