KONTEXT:Wochenzeitung
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Ein revolutionäres Wochenende

Ein revolutionäres Wochenende
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Willkommen im linken Stuttgart. Wer am Wochenende seinen roten Schal auspacken wollte, wurde bestens bedient. Bei der Linken in der Sängerhalle, bei der MLPD im Arbeiterbildungszentrum und im Literaturhaus bei der Hannah-Arendt-Stiftung. Ein subjektiver Blick in eine Nische.

Freitagabend, Arbeiterbildungszentrum in Stuttgart-Untertürkheim, ochsenblutfarben, die schmucke Heimstatt der marxistisch-leninistischen Partei Deutschland (MLPD). Die strengen Kommunisten laden zum Unterstützerfest für Kobanê, für jene syrische Stadt, die zum Symbol für den Kampf gegen den "Islamischen Staat" (IS) geworden ist. Seit Januar befreit, fast komplett zerstört, aber die Menschen kommen wieder zurück, um zwischen Betonskeletten und Minen ihre Heimat neu aufzubauen. Die "Brigadisten" der MLPD waren dabei, und an diesem Abend werden sie dafür geehrt.

Es sind Schreiner, Elektriker, Erzieherinnen, die alle vier Wochen Urlaub genommen haben. Einer ist sogar schon 72 Jahre alt und strahlt. Franziska, 21, erzählt, sie habe gelernt, wie wichtig es sei, sich "für eine bessere Welt" einzusetzen. Sie alle haben ein Gesundheitszentrum gebaut, 750 Quadratmeter groß, was noch fehlt, ist die Solaranlage. Ehrenbürger von Kobanê sind sie bereits.

Frau Schmidt sagt, die Partei wisse, was sie tue

<link http: www.spiegel.de politik ausland kobane-in-syrien-so-arbeiten-die-deutschen-helfer-vor-ort-a-1040766.html _blank external-link>Der "Spiegel" hat geschrieben, sie hätten wohl keine Ahnung, worauf sie sich hier eingelassen haben, die "guten Deutschen von Kobanê". Im Krieg, im Schutt, im Sommer mit bis zu 45 Grad. Nun ist das Hamburger Magazin auch nicht mehr das, was es einmal war, weshalb es sich anbietet, die Beteiligten selbst zu fragen. Frau Schmidt, die Chefin im Kreis Zollernalb, entgegnet, dass sie das sehr wohl gewusst hätten. Ihre beiden Kinder, 19 und 21 Jahre alt, waren dort, sind wohlbehalten zurückgekehrt und "sehr gereift". Natürlich habe sie Angst um sie gehabt, einerseits, sagt die Musiklehrerin, aber andererseits sei sie sich immer sicher gewesen, dass die Partei wisse, was sie tue und verantworten könne. Ihre Partei, für die sie seit 1983 im Einsatz ist ("Die Alb braucht Rebellen"), hat ein linkes Bündnis geschlossen, das kurz Icor heißt und auf Deutsch "Internationale Koordinierung revolutionärer Parteien und Organisationen". Die Icor hat die "Brigadisten" ausgesandt. Den Schriftzug tragen viele an diesem Abend auf ihrem T-Shirt. Stolz auf das Geleistete. Respekt.

Der "Spiegel" schreibt weiter, da träumten wohl einige von der "sozialistischen Utopie", zusammen mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die in Kobanê Einheiten zur Volksverteidigung gebildet hat und damit im Westen punkten wolle. Oha, denkt der Leser, da sind wieder böse Mächte im Spiel, die einen auf humanitär machen, aber ganz anderes im Schilde führen. Im Arbeiterbildungszentrum, in dem auch schon der Fußballer Cacau getanzt hat (<link http: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft wenn-cacau-bei-den-kommunisten-tanzt-2197.html _blank external-link>Kontext berichtete), ist davon nichts zu spüren. Klar, die "Internationale" muss gesungen werden, aber das war auch mal bei der SPD so. Sonst ist es eher wie nach dem Pfadfinderlager: Weißt du noch, wie mich die türkische Polizei in den Knast gesteckt hat? Wegen illegalen Grenzübertritts? Die Regierung Erdogan blockiert den Korridor nach Kobanê, die PKK ist ihr Feind. 

Vom Aufbau der Revolution, die hierzulande, zum Bedauern der MLPD, nicht stattfindet, ist keine Rede. Von der Diktatur des Proletariats auch nicht. Mehr vom Problem, wie in Kobanê Zement, Stahl, Strom und Stroh zu bekommen waren, und wie es zu verhindern war, dass sich die Krankenschwester mit dem Hammer auf den Daumen haut. Aber wahrscheinlich ist es jetzt politisch naiv, zu sagen: Hauptsache, das Gesundheitszentrum steht.

Die Linke braucht den Klassenstandpunkt im Kessel

Samstagmorgen, Sängerhalle in Untertürkheim, die Linke lädt zu ihrem Landesparteitag. Die Bühne, roter Vorhang, goldene Umrandung, verbreitet einen etwas rückwärtsgewandten Charme. Die Maultaschen zu Mittag sprechen für Regionalität, die Spitzenkandidaten gegen das Kapital und die herrschende Klasse, was völlig in Ordnung ist. Einer muss es ja sagen. Bernd Riexinger, der Parteichef, will die Waffenexporte, die Leiharbeit, Stuttgart 21, die Auslandseinsätze der Bundeswehr sowie die kapitalaffinen Grünen stoppen, die ihm, in Gestalt des Ministerpräsidenten, wie die "Reinkarnation von Erwin Teufel" erscheinen. Gökay Akbulut, Mannheimer Stadträtin, Sozialarbeiterin und von Hause aus Kurdin, bekräftigt, die Grünen seien "keine Menschenrechtspartei" mehr und Kretschmann kusche "vor den Rechtsradikalen".

Das bringt den Saal nun nicht zum Kochen, weil a) nicht Oskar Lafontaine spricht, b) der Überraschungseffekt begrenzt und c) die Regie rigide ist. Wichtig ist, im Zeitplan zu bleiben und die Disziplin hoch zu halten, die in der Sängerhalle latent gefährdet ist. Es wird zu viel geschwätzt. Das ist nicht gut, denn jetzt gilt es, geordnet in den Wahlkampf zu ziehen, der schwer genug wird. Drei Prozent, unkt die jüngste Umfrage, und Riexinger muss schauen, woher er die fehlenden Punkte holt. Auf der Halbhöhe sucht er nicht, das sei grünes Kerngebiet, sagt er. Ganz oben auch nicht, dort wohnten die richtig Reichen, und die hätten schon immer ein "besseres Klassenbewusstsein" gehabt. Also eher CDU/FDP. Der Gewerkschafter setzt tiefer an, als "Partei des Kessels", in dem die Nicht-Reichen leben. Tja, und dort muss halt noch am Klassenstandpunkt gearbeitet werden.

Draußen vor der Sängerhalle frieren junge Linke, die ihn schon haben. Sie bilden die Antifaschistische Aktion, ballen die Fäuste und würden sie lieber in Weinheim recken, wo die NPD ihren Bundesparteitag abhält. Und wenn schon nicht Weinheim, dann wenigstens ein Hotel mit Pool in Untertürkheim, klagt einer, dessen Glaube an ein gutes Leben keineswegs verwerflich ist. Aber Parteitag muss sein, auch wenn die Revolution nicht mal im Saal stattfindet.

Bei Hannah Arendt beeindruckt ein "ultraliberaler" Philosoph

Samstagnachmittag, Literaturhaus Stuttgart, die Hannah-Arendt-Stiftung in Gründung lädt zu Arbeitsgruppen. <link http: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft arendt-sticht-marx-3264.html _blank external-link>Wie in Kontext berichtet, will die Initiative um "Anstifter" Peter Grohmann und die Philosophin Annette Ohme-Reinicke die Teilhabe der BürgerInnen befördern. Die echte natürlich, nicht die parteigesteuerte. Endlich mehr als Drittmittel einwerben, endlich einmischen. Die Uni wacht auf. Hinter Glas empfängt Grohmann, verweist auf Kaffee und Kuchen und hilft, die richtige AG zu finden. Die Sache mit der "Neuen Bürgerschaftlichkeit und Politisierung", mit den Eliten, deren demokratische Legitimation zu hinterfragen sei, das könnte spannend sein, meint der Politkabarettist. Gerade in Stuttgart.

Ein Philosoph von der örtlichen Uni, Udo Tietz, und ein Soziologe aus Jena, Tilman Reitz, erläutern, dass zunächst geklärt werden müsse, ob der Begriff des "Bürgers" oder des "Citoyen" überhaupt in Anwendung gebracht werden könne. Ihnen erscheint der "politische Akteur" stimmiger, wobei Tietz, früher Karl-Marx-Stadt, einschränkt, dass er sich als Philosoph nicht an die Spitze der Bewegung setzen könne. Er sei "ultraliberal", in der DDR wohl vom Klassenstandpunkt geheilt, und habe auch Zweifel daran, ob diese Akteure korrekt auf der Straße gegen Stuttgart 21 demonstrierten. Im Kant'schen Sinne sei das nicht. 

Dieser Hinweis ist in der Tat neu und könnte von der neuen Stiftung, die eine Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis sein will, aufgegriffen werden. Vorausgesetzt, sie befleißigt sich einer Sprache, die der angepeilte Bürgercitoyenakteur auch versteht. Sonst läuft es so: Laut Tietz gibt es "unterschiedliche Präferenzstrukturen" in der Gesellschaft, die es zu erkennen und in die Sicht der Dinge einzubauen gilt: "Leben Sie mit Dissensen, das müssen Sie aushalten." Daraufhin hat eine S-21-Gegnerin gesagt, es sei ihr "so was von egal", ob er mit Kant, Bürger oder Citoyen komme, beschissen werde sie von allen. Von der Politik, der Bahn oder sonstigen staatlichen Einrichtungen. 

Der Stuttgarter Philosoph Michael Weingarten hat die Lage schließlich entschärft, indem er konstatierte, dass das "Risiko des Rechtsbruchs" eingegangen werden müsse. Und der von allen Seiten geforderte Dialog der Gleichberechtigten, früher einmal "herrschaftsfreier Diskurs" (Habermas 1981) genannt, wurde sogleich von Kontext-Kolumnist Grohmann aufgegriffen. Er ging danach mit Unternehmern Gans essen.

Das Ausmaß des IS-Terrors in Kobanê ist <link http: politikparadox.blogspot.de kobane-und-damaskus-aus-der-luft.html _blank external-link>in diesem CNN-Film zu sehen.


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6 Kommentare verfügbar

  • Stefan
    am 07.12.2016
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    Da fällt mir immer wieder dieser so passende Spruch ein:

    Wer mit 20 nicht links ist hat kein Herz, aber wer mit 40 immer noch links ist hat keinen Verstand.
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