KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

"Wie Feuer"

"Wie Feuer"
|

Datum:

Der Schwarze Donnerstag ist fünf Jahre her, beschäftigt aber immer noch zwei Staatsanwaltschaften und ein Gericht. Auch weil "Ermittler" Dieter Reicherter keine Ruhe gibt. Eilig hat es dabei allerdings niemand. Eine Übersicht.

Die Staatsanwaltschaft Heidelberg: Dorthin, ins Badische, hat das Justizministerium die Anzeige gegen den ehemaligen Stuttgarter Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler verwiesen – und damit dem Wunsch des Anzeigeerstatters entsprochen. Der pensionierte Strafrichter Dieter Reicherter hatte den langjähriger Leiter der politischen Abteilung 1 der Staatsanwaltschaft Stuttgart angezeigt <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik krieg-der-pensionaere-3163.html external-link-new-window>wegen falscher uneidlicher Aussage und Strafvereitelung im Amt und darum gebeten, eine andere als ebendie Stuttgarter Staatsanwaltschaft mit den Ermittlungen zu betrauen.

Dass Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) die Sache ausgerechnet nach Heidelberg delegierte, verheißt indessen nichts Gutes: Genau diese Ermittlungsbehörde hatte im Spätsommer 2014 schon einmal den Auftrag zu prüfen, ob gegen Häußler ein Anfangsverdacht besteht. Den hatte – im Verlauf des Wasserwerferprozesses vor dem Stuttgarter Landgericht – der württembergische Generalstaatsanwalt Achim Brauneisen selber gehegt und dem Minister vorgeschlagen, eine "neutrale" Staatsanwaltschaft in Baden mit der Prüfung zu betrauen. Damals waren die Heidelberger im Rekordtempo von nicht mal drei Wochen <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik weder-zeichen-noch-wunder-2493.html external-link-new-window>zu dem Ergebnis gekommen, dass nichts gegen Häußler vorliegt.

Nach sechs Wochen kommen die Akten in Heidelberg an

Diesmal geht in derselben Abteilung derselben Staatsanwaltschaft derselbe (für Amtsdelikte zuständige) Dezernent die Angelegenheit vielleicht gründlicher, auf jeden Fall aber langsamer an. Reicherters Anzeige, die auf Häußlers Zeugenauftritt im Wasserwerferprozess fußt, stammt vom 24. September. In den sechs Wochen seither ist gerade mal so viel passiert: Die bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart angeforderten Akten sind in Heidelberg eingetroffen – am 5. November. Gesichtet werden konnten sie noch nicht. Und weil sich der ganze Vorgang noch im Stadium der Prüfung eines Anfangsverdachts befinde, wurden bisher weder Zeugen gehört, noch wurde "an den Angezeigten herangetreten".

Derweil hat Reicherter nachgelegt und der Staatsanwaltschaft Heidelberg schriftlich Zeugen benannt, die sich nach einem Zeugenaufruf bei ihm gemeldet hatten und bestätigen wollen, dass am Schwarzen Donnerstag im Stuttgarter Schlossgarten Menschen durch den Einsatz von Pfefferspray verletzt worden sind, die jünger waren als 18 Jahre. Oberstaatsanwalt a. D. Häußler hatte im Wasserwerferprozess ausgesagt, davon seien ausschließlich Erwachsene betroffen gewesen.

Nach Reicherters "Ermittlungen" schildert beispielsweise eine damals 16-Jährige: "Gegen 12 Uhr bekam ich, als ich in einer Menschenmenge abseits des Hauptweges stand, aus etwa drei bis fünf Meter Entfernung Pfefferspray in die Augen gesprüht." Ein damals 15-Jähriger, der unter einer Plane Schutz gesucht hatte: "Doch plötzlich brennen meine Augen wie Feuer und ich muss husten. Sie haben Pfefferspray und Reizgas unter die Planen gesprüht!" Ein damals 16-Jähriger: "Dort bekam ich dann auch um ca. 14.30 Uhr aus einer Entfernung von ca. 50 cm Pfefferspray in die Augen und in den Mund." Und ein Zeuge berichtet, unter den ersten Patienten des provisorisch von Freiwilligen ("Demosanitäter") errichteten Lazaretts (entgegen den Vorschriften hatte die Polizeiführung keine Rettungskräfte verständigt) seien "zahlreiche mit Pfefferspray kontaminierte Jugendliche, vielleicht sogar Kinder" gewesen.

Die Staatsanwaltschaft Stuttgart: Auch dort ist eine Anzeige Reicherters anhängig, in dem Fall <link http: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft pfeffer-in-die-augen-3152.html external-link-new-window>gegen unbekannt wegen "Verabredung eines Verbrechens". Wie in einem vom Magazin "Stern" veröffentlichten internen Polizeivideo zu erkennen war, hatten am Schwarzen Donnerstag Polizeibeamte verabredet, sich Pfefferspray auf die Handschuhe zu sprühen und den Reizstoff dann Demonstranten ins Gesicht zu reiben. In diesem Zusammenhang hatte Reicherter aus der Schilderung eines damals 14-Jährigen, dessen Eltern sich bei ihm gemeldet hatten und den er zur Anonymisierung "Richard" genannt hatte, über einen entsprechenden Einsatz gegen den Jugendlichen zitiert.

Häußlers ehemalige Abteilung hat mit der Prüfung dieses Vorgangs die Stuttgarter Polizei beauftragt und dort den Leiter der "Ermittlungsgruppe Park", Andreas Dorer. Der hatte schon dazumal im Auftrag von Häußler und dem ehemaligen Stuttgarter Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf die Ermittlungen in eigener Sache geleitet und so manches übersehen, was auf einmal eine Rolle spielt. Reicherters Recherchen gegenüber war Dorer anfangs skeptisch und deutete an, "Richard" samt seinen Eltern könne auch erfunden sein. Erst auf Reicherters Hinweis, ihm sei bekannt, dass Anzeigen wegen der Verletzung von Kindern erstattet worden sind, räumte Kripomann Dorer ein, sich "missverständlich ausgedrückt" zu haben. Gern wolle er nunmehr Reicherters Zeugen "mit unseren Fällen abgleichen".

Auch in Sachen Pfefferspray auf Polizeihandschuhen gibt es weitere Aussagen. Ein damals 46-Jähriger meldete sich bei Dieter Reicherter und schrieb: "Da nahm mir eine Polizistenhand mit dem großen, groben Handschuh die Brille ab und kurz darauf rieb mir solch ein Handschuh über das Gesicht und die Augen ... Vielleicht war zu wenig Pfefferspray hineingesprüht worden, es roch nur und schmeckte unangenehm."

Weitere Pfefferspray-Opfer melden sich bei Reicherter

Überhaupt gingen nach Reicherters Aufruf jede Menge Hinweise auf brutale polizeiliche Übergriffe bei ihm ein, die auch Stoff für das Verfahren beim Verwaltungsgericht Stuttgart liefern könnten. Von der Schilderung einer Großmutter, ihre damals 13-jährige Enkelin sei mit ihren Klassenkameraden eingekesselt und am Weggehen gehindert worden, der Empörung einer Mutter, deren 13-jährige Tochter von einem Polizisten mit der Faust ins Gesicht und dann noch mit dem Schlagstock auf den Hinterkopf geschlagen worden sei, bis zu einem damals 53-Jährigen, der berichtet, er habe im Schlamm gelegen. "Daraufhin kamen zwei oder drei Polizisten auf mich zu, hielten mich am Boden fest, und ein weiterer sprühte aus circa 50 cm Abstand gezielt Pfefferspray in mein Gesicht." Gleich von mehreren Zeugen wird auch die Methode geschildert, gezielt Pfefferspray hinter Brillengläser zu sprühen. Und deprimierend die Zusammenfassung eines Verletzten: "Die psychischen Beschwerden betreffen den Glauben an den Rechtsstaat, den Verlust der demokratischen Ordnung, die Unsicherheit etc."

Vor der 5. Kammer des Verwaltungsgerichts geht es nach 14-tägiger Pause in dieser Woche (11. 11., 10 Uhr, Augustenstraße 5) um die Frage,<link http: www.kontextwochenzeitung.de politik schmerzensgeld-fuer-die-verletzten-3204.html external-link-new-window> ob am 30. 9. 2010 eine grundrechtlich geschützte Versammlung stattfand. Denn diese hätte vor dem polizeilichen Einschreiten erst einmal vom anwesenden Leiter des Amts für öffentliche Ordnung aufgelöst werden müssen, was unstreitig nicht geschah. Und so <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik reicherter-ermittelt-3235.html external-link-new-window>wurde am ersten Verhandlungstag diskutiert, ob die angemeldete Schülerdemo in der Lautenschlagerstraße beendet oder einfach – wie für den Nachmittag vorgesehen – im Schlossgarten fortgesetzt wurde. Oder ob sich im Schlossgarten eine neue Versammlung, eine sogenannte Spontanversammlung, die nicht angemeldet werden musste, gebildet hatte. Denn – so der Kammervorsitzende Walter Nagel – wenn die Menschenansammlung im Park eine vom Grundgesetz geschützte Versammlung war, dann waren sämtliche polizeilichen Maßnahmen rechtswidrig.

Zu diesem Ergebnis war auch Ralf Poscher von der Universität Freiburg in seiner "sachverständigen Stellungnahme" für den Untersuchungsausschuss "Schlossgarten I" des Landtags gekommen. Darüber hinaus hatte Poscher folgendes Resümee gezogen: "Nach den Indizien des Polizeiberichts war die Anwendung des unmittelbaren Zwangs unter Verwendung der eingesetzten Hilfsmittel und Waffen, von denen eine erhebliche Verletzungsgefahr ausging, zwar erforderlich, aber nicht mehr angemessen." Der Einsatz von Wasserwerfern und Reizgas sei "danach unverhältnismäßig und damit auch rechtswidrig gewesen".

 

Info:

Die weiteren Termine am Verwaltungsgericht: 11. 11., 18. 11., 25. 11., jeweils 10 Uhr, Augustenstraße 5, Saal 5) an. Die nächsten Leseabende von Jürgen Bartle und Dieter Reicherter ("Unerhört. Ungeklärt. Ungesühnt."): am 12. 11. in Bad Cannstatt (19 Uhr, Marktplatz 2, Bezirksrathaus, Sitzungssaal), am 17. 11. in Heilbronn (19 Uhr, Nikolaikirche, Sülmer Straße 72) und am 24. 11. in Mössingen (19.30 Uhr, Kulturscheune, Brunnenstraße 3/1).


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


8 Kommentare verfügbar

  • Klaus
    am 19.11.2015
    Antworten
    @PeterPan

    Danke für die Schilderung.

    Das Rechtsstaatliche Verständnis der Behörden in Stgt ist offensichtlich gering.

    Da fehlt es an Bildung und an menschlicher Stärke.

    Da sind wir ein echtes Entwicklungsland.
    Und die GrünsundRots machen keinen Unterschied.

    Was gibt es da noch alles…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!