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Chaostruppe

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Im NSU-Ausschuss wird die Kollegin von Michèle Kiesewetter gehört. Von der Polizeieinheit der Ermordeten zeichneten Zeugen und - innen ein arg retuschiertes Bild.

Yvonne Münning, ist Polizeiobermeisterin, 35 Jahre alt und geschlagen mit einem schlechten Gedächtnis. Sie kann sich an viele Einzelheiten im April und Mai 2007 nicht mehr erinnern. Nicht einmal daran, welche Kollegen am Tag nach der brutalen Ermordung ihrer Freundin zu deren Familie nach Thüringen gefahren sind. Oder mit wem sie Wochen später die Habseligkeiten aus der gemeinsamen Nufringer Wohnung nach Oberweißbach transportiert hat. Wer neben ihr im Auto gesessen sei, will die Grünen-Abgeordnete Petra Häffner wissen. Ein angedeutetes Schulterzucken und ein leises "Weiß ich nicht mehr" sind die Reaktion.

In dem Auftritt gibt die schmale Frau mit den blonden langen Haaren von sich aus fast gar nichts preis. Nur einmal hebt sie den Vorhang, nennt Kiesewetters Einheit "eine Chaotentruppe". Ihr eigener Einheitsführer – Andreas Rieß, Chef der Beweissicherungs- und Festnahme-Einheit (BFE) 522 – habe "auf viele Kleinigkeiten Wert gelegt", alles sei "sehr geordnet" abgelaufen. In der BFE 523 habe dagegen "die Ernsthaftigkeit gefehlt", immer wieder seien Kollegen "unvollständig vorbereitet gewesen".

Wovon sie nicht erzählt, sind die "Wettbewerbssituationen", die "Konkurrenzkämpfe", die "Starallüren der Einheitsführer" und vor allem der "übertriebene Corpsgeist", den einzelne Beamte, wie aus den Akten hervorgeht, beschrieben haben. Sabine Rieger, jene LKA-Kriminalhauptkommissarin, die die Heilbronner Ermittlungen nachgearbeitet hat, hält dem Einheitsführer der BFE 523, Thomas Bartelt, diese Aussagen 2011 auch vor. Der bestätigt zumindest die "Wettbewerbssituation", beschreibt Rieß als den dafür Verantwortlichen. Dem sei er, Bartelt, angesichts seiner dienstlichen Vita "ein Dorn im Auge" gewesen.

Nichts gewusst von rechten Tendenzen?

Aber es gibt noch ganz andere interne Schilderungen, die allesamt nicht öffentlich auf ihren Wahrheitsgehalt abgeklopft wurden: Berichte, dass in Böblingen radikale Musik auf internen Festen gang und gäbe war, das einschlägige Grußformeln verwendet wurden, über Dresscodes, T-Shirts mit bestimmten Symbolen unter der Uniform und Springerstiefel, über ausländerfeindliche Äußerungen und Glatzenschneiden im Schlaf. Bekanntlich war Timo Hess, einer der bisher ermittelten baden-württembergischen Beamten mit Ku-Klux-Klan-Vergangenheit, der Gruppenführer am 25. April 2007 in Heilbronn.

Im vergangenen Juni machte der frühere Landespolizeipräsident Wolf-Dieter Hammann als Zeuge im Landtag jedenfalls eine bemerkenswerte Aussage zur rechten Fama: "Ich habe die feste Überzeugung und Hoffnung, dass es in der baden-württembergischen Polizei keinen strukturellen Rassismus gibt – das wäre furchtbar." Hoffnung? Immerhin hat Hammann schon in einem 2012 vorgelegten Bericht 25 Vorgänge in zehn Jahren belegt. "Das hätte ich mir niemals vorstellen können", bekannte er damals.

Die Kiesewetter-Freundin will im Ausschuss von rechten Tendenzen nichts wissen. Ohnehin sei über Politik kaum geredet worden. Sie antwortet immer in kurzen Sätzen. So, als wollte sie sich auf keinen Fall verplappern. Ähnlich wie Romy Stricksner, die Mitte Oktober auch einigermaßen verhuscht für eine 32-jährige Frau auf dem Zeuginnenstuhl saß und ebenfalls so wenig wie möglich preisgeben mochte. Der SPD-Obmann im Ausschuss, Nik Sakellariou, führt die Performance treuherzig auf die Erschütterung zurück. "Hautnah" sei der Kummer zu spüren, sagt der Sozialdemokrat nach Münnings Vernehmung. Tatsächlich brechen beide Frauen in Tränen aus, Stricksner, als die danach gefragt wird, wie es dazu kam, dass sie Kiesewetter am Tattag ihre Schutzweste geliehen hatte. 

Die Bereitschaft fehlt, nachzufragen

Am Umgang der Abgeordneten mit den beiden Zeuginnen zeigt sich wieder einmal, wie den Ausschussmitgliedern die Zeit zur Vorbereitung – angesichts der Aktenberge – und die Bereitschaft, nachzufragen, gleichermaßen fehlt. Denn: Laut zahlreichen Hinweise aus dem Jahr 2011 hatten beide längst kein ungetrübtes Verhältnis mehr zur Ermordeten. Aus den LKA-Vernehmungen geht hervor, wie rau der Ton war unter den Bereitschaftspolizistinnen. Kiesewetter habe sich gekränkt gefühlt und sich geärgert, weil sie von Stricksner schon mal als "Zugschlampe" bezeichnet worden sei. Bartelt wiederum sprach von einem "anfänglich ruhigen, introvertierten Typ", sein Stellvertreter dagegen von einer "sehr lebenslustigen jungen Frau", die "gerne mal Party machte". 

Im Ausschuss beschrieben alle inzwischen gehörten Kollegen Kiesewetter als freundlich und umgänglich. Tatsächlich gab es in Böblingen immer wieder Probleme, mit einem aus ihrer Einheit mochte sie nicht mehr zusammenarbeiten, eine anderer nervte mit seinen SMS. Auf jeden Fall wollte sie weg nach Karlsruhe in den Einzeldienst, in der Nähe einer Tante in Philippsburg und mit einem Kollegen eine neue WG gründen, mit dem ihr ein Verhältnis nachgesagt wurde. Alles Gerüchte, wie sie immer entstehen, wenn Menschen in Gruppen zusammenarbeiten? Genauso wie die Bedrohung Bartelts durch die Mafia, die Möglichkeit, dass Kiesewetter getötet worden sein könnte, um ihn zu treffen?

Fragen wie diese belegen, dass in Böblingen noch lange nicht alle Ecken ausgeleuchtet sind. Der Ausschussvorsitzende Wolfgang Drexler (SPD) findet die Tour der Kollegen sofort am Tag nach der Tat nach Thüringen "menschlich verständlich". Wollten Bartelt und die anderen aber wirklich nur kondolieren und helfen? Oder wollten sie sich nicht zügig einen Überblick über das Umfeld verschaffen? Meinungsfreudig gibt der Einheitsführer in seiner Vernehmung zu Protokoll, wie enttäuscht die Familie in Oberweißbach gewesen sei, weil Kontakte zur rechten Szene "in der Berichterstattung hingedreht worden sind". Auch er camoufliert den Umgang mit der Toten, zeichnet im Ausschuss ein deutlich distanzierteres Bild als in früheren Vernehmungen. "Ich habe den Eindruck, dass Sie abblocken", sagt Drexler an einer Stelle, "Sie dürfen nichts weglassen." Letzteres steht für die Hoffnung, dass sich gerade Polizeibeamte in ihren Vernehmungen der Tatsache besonders bewusst sind, gegebenenfalls belangt zu werden. Nicht einmal die Spitze im Landesamt für Verfassungsschutz hat diese Drohung wirklich beeindruckt. Die Präsidentin Beate Bube und ihre Vorgänger müssen im Landtag erscheinen, weil der Vorwurf im Raum steht, nicht die Wahrheit gesagt zu haben. 

Dirk Müller, ein Bekannter aus dem Schlossgarten-Einsatz in Stuttgart

Insidern ist seit Langem bekannt, wie ruppig es zugehen kann bei der Bereitschaftspolizei. Gegen Bartelt laufen ein Disziplinar- und ein Strafverfahren, unter anderem wegen ungeklärter Aktivitäten in Libyen. Sein Nachfolger wurde Dirk Müller, der es – nach seinem Auftritt am Schwarzen Donnerstag im Stuttgarter Schlossgarten – nicht nur zu trauriger Berühmtheit, sondern auch bis auf einen Protest-Button gebracht hat. Gegen dessen Träger ging die Justiz vor.

Das im Januar 2014 präsentierte Papier der von Innenminister Reinhold Gall (SPD) eingesetzten Ermittlungsgruppe Umfeld zu "Bezügen der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) nach Baden-Württemberg" widmet sich dem Thema rechte Tendenzen gar nicht. Verwiesen wird allein auf einen 2013 eingeführten Fragebogen. In dem seien "rund 40 extremistische Organisationen aufgelistet, in denen es laut Verfassungsschutz verfassungsfeindliche Bestrebungen gibt". Interessenten für den Polizeivollzugsdienst würden nur dann zum Auswahlverfahren zugelassen, "wenn sie schriftlich versichern, dass sie weder Mitglied in einer dieser Organisationen sind, noch eine solche unterstützen".

Der bis Anfang Dezember tagende erste NSU-Ausschuss hat seinem Nachfolgergremium bereits einen Zehn-Punkte-Katalog hinterlassen. Darin wird explizit die Rolle rechter Musikgruppen und Musikvertriebsstrukturen als aufarbeitungswürdig anempfohlen und natürlich die Ku-Klux-Klan-Strukturen. Jürgen Filius, der Grünen-Obmann, verlangt, dass der Komplex rechte und rassistische Tendenzen in der Polizei ebenfalls behandelt wird. Denn: "Da sind viel zu viele Fragen offen."


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2 Kommentare verfügbar

  • Blender
    am 16.11.2015
    Antworten
    Wenn es bei der Art des Schießens eine Art "Handschrift" gäbe, dann wäre es doch interessant zu wissen, ob die vorangegangenen mutmaßlichen NSU-Opfer, die Mitbürger mit ausländischer Vita, auch per Kopfschuss getötet wurden. Köpfe sind schließlich, wegen der kleineren Fläche, schwieriger zu treffen…
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