KONTEXT:Wochenzeitung
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Was vom Spruche übrig blieb

Was vom Spruche übrig blieb
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Bäume verpflanzen, keine Grundstücksspekulation, ein zehntes Gleis, barrierefreie Fluchtwege – was ist aus Geißlers Empfehlungen geworden? Kontext dokumentiert den aktuellen Stand.

Als Heiner Geißler am 30. November 2010 seinen sogenannten Schlichterspruch im Stuttgarter Rathaus verlas, hatte er selbst seinen Empfehlungen vorangestellt, dass aus ihnen keine "rechtliche Bindung entstehen" könne. Zugleich äußerte er die Hoffnung, dass das Schlichtungsverfahren eine "psychologische und politische Wirkung" haben könne. Wie sieht es, knapp fünf Jahre danach, mit dieser Wirkung aus? Von den Forderungen ist nicht allzu viel übrig geblieben, wie eine Gegenüberstellung von Geißlers Originaltext mit den seither geschehenen Entwicklungen zeigt.

Nachbesserungen bei S 21: Stiftung für neue Grundstücke

Heiner Geißler am 30. 11. 2010: "Für die Fortführung des Baues von S 21 halte ich aus den genannten Gründen folgende Verbesserungen für unabdingbar:
1. Die durch den Gleisabbau frei werdenden Grundstücke werden der Grundstücksspekulation entzogen und daher in eine Stiftung überführt, in deren Stiftungszweck folgende Ziele festgeschrieben werden müssen:
– Erhaltung einer Frischluftschneise für die Stuttgarter Innenstadt.
– Die übrigen Flächen müssen ökologisch, familien- und kinderfreundlich, mehrgenerationengerecht, barrierefrei und zu erschwinglichen Preisen bebaut werden.
– Für notwendig halte ich eine offene Parkanlage mit großen Schotterflächen."

Geißler ging hier auf die Befürchtungen vieler S-21-Gegner ein, auf den frei werdenden Grundstücken werde vor allem klotzige und kalte Investorenarchitektur entstehen. Die Idee einer Stiftung scheint zwar noch nicht endgültig vom Tisch, doch gab es <link http: www.rosenstein-stuttgart.de _blank external-link-new-window>seit der Präsentation zweier Stiftungsmodelle im März 2011 hierzu von der Stadt nichts Neues zu hören. OB Fritz Kuhn stellt trotzdem eine nicht von Grundstücksspekulanten bestimmte Bebauung der frei werdenden Flächen immer wieder als sein Herzensanliegen dar. Allerdings geht es dabei immer nur um das Rosensteinviertel und nicht das Areal A 2 direkt hinter dem Bahnhof, das in Bezug auf die Frischluftschneisen wichtiger ist.

Im Januar 2015 stimmte der Stuttgarter Gemeinderat Kuhns Vorlage eines "Rosenstein-Dialogs" zu, der die Beteiligung der Bürger bei der Planung des Rosensteinviertels ermöglichen soll. Am 20. Oktober bekam die Berliner Agentur Mediator GmbH den Zuschlag, die informelle Bürgerbeteiligung zu organisieren (<link http: www.stuttgart.de item show external-link-new-window>siehe Pressemitteilung der Stadt).

Bei Zweifeln an der Ernsthaftigkeit dieses Anliegens scheint Kuhn dünnhäutig, selbst wenn sie nur Teil einer Fiktion sind: Auf einen ARD-"Tatort", der die irgendwann zu bebauenden Flächen als Spielwiese korrupter Investoren darstellte, <link http: www.kontextwochenzeitung.de editorial fritz-kuhn-und-der-inder-2978.html internal-link-new-window>reagierte er mit einer Pressemitteilung: "Die Bürger und der Gemeinderat entscheiden, was und wie dort künftig gebaut werden kann. Das wird keine Wiese für Heuschrecken."

Ganz abgesehen davon, bleibt die Erhaltung der Frischluftschneisen ein kritischer, schwer zu erfüllender Punkt – Experten wie der ehemalige Stuttgarter Stadtklimatologe Jürgen Baumüller gehen davon aus, dass jegliche Bebauung auf dem ehemaligen Gleisfeld hinter dem Bahnhof das Stadtklima verschlechtere und die Frischluftschneisen beeinträchtige.

Nachbesserungen: Bäume und Park

Geißler: "2. Die Bäume im Schlossgarten bleiben erhalten. Es dürfen nur diejenigen Bäume gefällt werden, die ohnehin wegen Krankheiten, Altersschwäche in der nächsten Zeit absterben würden. Wenn Bäume durch den Neubau existenziell gefährdet sind, werden sie in eine geeignete Zone verpflanzt. Die Stadt sollte für diese Entscheidungen ein Mediationsverfahren mit Bürgerbeteiligung vorsehen."

Der von vornherein wohl realitätsfernste Punkt des Schlichterspruchs. Kleinere Bäume lassen sich zwar vergleichsweise problemlos verpflanzen, bei großen, alten Parkbäume hingegen ist eine Verpflanzung zwar technisch möglich, aber wenig aussichtsreich. Ihre Überlebenschancen am neuen Standort tendieren gegen null. Dem Protest kam Geißler damit ohnehin nicht entgegen, denn der zielte auf Erhalt der Bäume an ebendieser Stelle in der Innenstadt.

Das ebenfalls geforderte Mediationsverfahren hierzu gab es nie, und die Bahn kümmerte sich bei der Abholzung des Schlossgartens ab dem 15. Februar 2015 auch <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik ein-garten-ohne-baeume-1200.html internal-link-new-window>nicht groß um die Forderungen des Schlichterspruchs. Wobei sie durch eine Verpflanzung eines kleinen Teils der Bäume immerhin vorzugeben schien, sich bemüht zu haben: 177 Bäume wurden gefällt (ein einziger davon war krank), darunter alle eindrucksvollen Baumriesen, 60 vorwiegend jüngere, kleinere Bäume wurden an andere Stellen des Parks verpflanzt. Etwa an Stellen des Rosensteinparks, wo im Vergleich zum früheren Standort auch davor <link http: baumpaten-schlossgarten.de external-link-new-window>kein Mangel an Bäumen bestand.

Um die Abholzungen zu vermeiden, reichte das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 im Februar 2012 einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht in Stuttgart ein, in dem es auf den Schlichterspruch verwies, und auch Geißler meldete sich zu Wort und erinnerte an seine Forderungen. Ohne Erfolg – am 13. Februar entschied das Verwaltungsgericht, dass der Schlichterspruch rechtlich nicht bindend sei.

Nachbesserung: Bahnhof, Streckennetz, Sicherheit

Geißler: "3. Die Gäubahn bleibt aus landschaftlichen, ökologischen und verkehrlichen Gesichtspunkten erhalten und wird leistungsfähig, z. B. über den Bahnhof Feuerbach, an den Tiefbahnhof angebunden. 
4. Im Bahnhof selber wird die Verkehrssicherheit entscheidend verbessert. Im Interesse von Behinderten, Familien mit Kindern, älteren und kranken Menschen müssen die Durchgänge gemessen an der bisherigen Planfeststellung verbreitert werden, die Fluchtwege sind barrierefrei zu machen. 
5. Die bisher vorgesehenen Maßnahmen im Bahnhof und in den Tunnels zum Brandschutz und zur Entrauchung müssen verbessert werden. Die Vorschläge der Stuttgarter Feuerwehr werden berücksichtigt. 
6. Für das Streckennetz sind folgende Verbesserungen vorzusehen:
– Erweiterung des Tiefbahnhofs um ein 9. und 10. Gleis.
– Zweigleisige westliche Anbindung des Flughafen-Fernbahnhofs an die Neubaustrecke.
– Zweigleisige und kreuzungsfrei angebundene Wendlinger Kurve.
– Anbindung der bestehenden Ferngleise von Zuffenhausen an den neuen Tunnel von Bad Cannstatt zum Hauptbahnhof.
– Ausrüstung aller Strecken von S 21 bis Wendlingen zusätzlich mit konventioneller Leit- und Sicherungstechnik."

Zu Punkt 3 (Gäubahn): Was aus der Gäubahn werden soll – wobei sich Geißler vor allem auf den Streckenabschnitt durch den Stuttgart Westen bezog – ist momentan noch unklar, ebenso wie sie leistungsfähig an den geplanten Tiefbahnhof angeschlossen werden soll. Während ihr Schicksal lange besiegelt schien, machte sich im März 2015 der S-21-Miterfinder Gerhard Heimerl für ihren Erhalt stark.

Zu Punkt 4 und 5: (Fluchtwege und Brandschutz): Kaum ein Bereich macht die Planungsmängel von S 21 augenfälliger als dieser. Für die als zu schmal kritisierten Fluchtwege auf den Bahnsteigen wurden die Durchgänge neben den Treppen immerhin um fünf Zentimeter verbreitert, um genau so viel wurden im Gegenzug die Treppen schmaler – letztlich also fast ein Nullsummenspiel, das durch den seitlich limitierten Platz für den Tiefbahnhof bedingt ist.

Beim Brandschutz herrscht momentan wieder einmal Konfusion: Nachdem zuerst Fluchttreppenhäuser in die Planungen eingefügt worden waren, um den Brandschutzanforderungen Genüge zu tun, sind diese <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik fluchtweg-verbaut-3191.html internal-link-new-window>in den neuesten Planungen wieder verschwunden. Doch schon davor wies das <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik es-brennt-beim-brandschutz-2785.html internal-link-new-window>Brandschutz-Konzept immer noch eklatante Mängel auf.

Zu Punkt 6 (neue Gleise etc.): Ob der Tiefbahnhof zur Steigerung seiner Leistungsfähigkeit überhaupt um ein neuntes und zehntes Gleis erweitert werden kann, ist wegen der seitlich limitierten Baufläche fraglich. Schon vor dem Schlichterspruch gingen darüber die Meinungen weit auseinander, unter anderem wies der Grünen-Stadtrat Peter Pätzold auf eine seitliche Begrenzung durch das LBBW-Gebäude im Norden und die Verteilerebene des Bahnhofs im Süden hin. Letztlich wurde diese Maßnahme aber ohnehin nach dem Faktencheck nie ernsthaft diskutiert.

Eine bessere Anbindung des Flughafen- bzw. Filderbahnhofs wurde immerhin im März 2015 beschlossen – nach langjähriger Variantensuche, unter anderem im Rahmen des "Filder-Dialogs" mit betroffenen Bürgern 2012 und eines chaotischen und für die Bahn recht blamablen Erörterungsverfahrens im Herbst 2014. Was beschlossen wurde, ist laut Kontext-Autor Jürgen Lessat aber <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik mit-dem-dritten-faehrt-man-besser-2777.html internal-link-new-window>nur die "Sparversion unter allen Optimierungsvarianten". Verkehrsminister Winfried Hermann rechtfertigte dennoch <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik es-gibt-ein-leben-mit-und-nach-stuttgart-21-2811.html internal-link-new-window>in Kontext diese Lösung, während Steffen Siegel von Schutzgemeinschaft Filder <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik ihr-unterstuetzt-diese-faule-option-2828.html external-link-new-window>sie als "faulen Kompromiss" bezeichnete.

Der Stresstest

Geißler: "Die Deutsche Bahn AG verpflichtet sich, einen Stresstest für den geplanten Bahnknoten Stuttgart 21 anhand einer Simulation durchzuführen. Sie muss dabei den Nachweis führen, dass ein Fahrplan mit 30 Prozent Leistungszuwachs in der Spitzenstunde mit guter Betriebsqualität möglich ist. Dabei müssen anerkannte Standards des Bahnverkehrs für Zugfolgen, Haltezeiten und Fahrzeiten zur Anwendung kommen. Auch für den Fall einer Sperrung des S-Bahn-Tunnels oder des Fildertunnels muss ein funktionierendes Notfallkonzept vorgelegt werden. Die Projektträger verpflichten sich, alle Ergänzungen der Infrastruktur, die sich aus den Ergebnissen der Simulation als notwendig erweisen, bis zur Inbetriebnahme von S 21 herzustellen. Welche der von mir vorgeschlagenen Baumaßnahmen zur Verbesserung der Strecken bis zur Inbetriebnahme von S 21 realisiert werden, hängt von den Ergebnissen der Simulation ab."

Die vermeintliche Umsetzung dieser Forderung entwickelte sich zu einer veritablen Farce: Tatsächlich führte die Bahn im Sommer 2011 einen Stresstest mittels einer Simulation durch, der die gewünschte Kapazität von 49 Zügen in der Spitzenstunde nachwies. Die renommierte Schweizer Verkehrsberatungsfirma SMA und Partner prüfte im Anschluss diese Simulation, und bereits hier begannen die Ungenauigkeiten und Verwirrungen.

So wurde oft von einem SMA-Gutachten zum S-21-Stresstest gesprochen, schon das war falsch. Was die Ingenieure der Schweizer SMA vornahmen, war lediglich ein "Audit" zum Stresstest. Bei einem Audit wird untersucht, ob in einem Prozess die an ihn gestellten Anforderungen und Richtlinien eingehalten werden. In Falle des Stresstests ging es also darum, ob innerhalb der von der Bahn durchgeführten Simulation die von der Bahn verwendeten Daten bzw. Parameter auch funktionierten – kurz: Ein geschlossenes System wurde geprüft. Ob die Grundannahmen, auf denen die Parameter beruhen, aber plausibel sind, prüfte die SMA nicht.

Doch auch so bescheinigte die SMA der Bahn, wenngleich verklausuliert, einige Mängel und noch zu lösende Probleme. Ganz abgesehen davon, dass die 49 Züge pro Stunde keineswegs 30 Prozent mehr als das Maximum des Kopfbahnhofs bedeuteten – sondern nur 30 Prozent mehr als die 37 Züge, die im damals aktuellen Fahrplan in der Spitzenstunde fuhren. Dass die maximale Leistungsfähigkeit des Kopfbahnhofs bei über 50 Zügen pro Stunde liege, hatten manche Experten, unter anderem der ehemalige Stuttgarter Bahnhofsvorsteher Egon Hopfenzitz, immer wieder betont. Ein vergleichender Stresstest blieb aus.

Bei der Stresstest-Präsentation am 29. Juli 2011 im Stuttgarter Rathaus, wiederum von Heiner Geißler geleitet, <link http: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft bissle-friede-1484.html internal-link-new-window>zerpflückte denn auch der Grüne Boris Palmer detailliert Stresstest und SMA-Audit. Als die daran anschließende Diskussion aus dem Ruder lief und das Aktionsbündnis die Sitzung zu verlassen drohte, zog Geißler völlig überraschend einen Kompromissvorschlag aus der Tasche, den er zusammen mit SMA-Chef Werner Stohler ohne Wissen der versammelten Konfliktparteien ausgearbeitet hatte: eine Kombilösung aus Kopf- und Tunnelbahnhof. Ganz unabhängig davon, ob und wie sinnvoll dieser Vorschlag gewesen wäre – er wurde nie ernsthaft von Bahn oder Landesregierung geprüft.

 

Info:

Schlichterspruch, Schlichtungsprotokolle, Folien, Video-Mitschnitte <link http: www.schlichtung-s21.de external-link-new-window>sind online gut dokumentiert.


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2 Kommentare verfügbar

  • Horst Ruch
    am 29.10.2015
    Antworten
    ..."wenn die Projektträger S21 bauen wollen, müssen sie Geißlers Vorschläge umsetzen....so könnte die Forderung eines 9.und 10 Gleises... Im geplanten Tiefbahnhof zum k.o.- Kriterium werden. Wir haben diesen Forderungen Geißlers zugestimmt in der Erwartung, dass damit S 21 zeitlich und kostenmäßig…
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