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Rot und ratlos

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Nils Schmid, der baden-württembergische Spitzengenosse, hat es bis in Stefan Raabs "TV total" geschafft. Nicht als Gast, sondern als Witzfigur: Acht Prozent der Bürgerschaft würde ihn derzeit direkt zum Ministerpräsidenten wählen. Dass seine persönlichen Werte "stabil" seien, freue ihn sehr, hatte er in eine Kamera gesagt. Und musste sich dafür vom grinsenden Raab veralbern lassen: "Das ist wie beim Arzt, der mitteilt, leider ist der Patient tot, aber sein Zustand ist stabil."

An den Grünen läge es nicht, würde die Macht im kommenden März verspielt. Da kann Ministerpräsident Winfried Kretschmann noch so lange als King oft the Road Kaffee trinkend auf dem Beifahrersitz des ersten autonom fahrenden 500-PS-Riesenlasters sitzen und nicht nur die besonders ökologisch gesinnte Anhängerschaft irritieren. Sein Ansehen in der Bevölkerung ist weiter riesig, der im Südwesten schon lange stark gestutzte linke Flügel der Partei hat sich das Aufmucken längst abgewöhnt. Und in Stuttgart ist fünf Jahre nach dem Schwarzen Donnerstag die Akzeptanz des Tiefbahnhofs abermals weiter gewachsen, was die Chance auf eine Wiederholung des historischen Wahlerfolgs in der Landeshauptstadt jedenfalls nicht schmälert.

Dem Höhenflügen der einen steht ein Absturz der anderen gegenüber. Nach dem jüngsten Baden-Württemberg-Trend, der auch Schmids acht Prozent zu Tage förderte, antworten auf die Sonntagsfrage gerade noch 17 Prozent, sie würden SPD wählen. So schlecht standen die Sozialdemokraten noch nie da. Ist der aktuelle Tiefstand nicht tatsächlich die Talsohle, wie schon bei 32,4 Prozent (1980), 29,4 Prozent (1992) oder bei 25,1 Prozent (1996) flehentlich erhofft, dann wird es nichts mit der zweiten Legislaturperiode. Der einzige Ausreißer im Sinkflug der vergangenen vier Jahrzehnte waren 2001 jene 33,3 Prozent der ungeliebten Landesvorsitzenden Ute Vogt. Die illustrieren allerdings zugleich den Niedergang. Vor 14 Jahren wählten 1,5 Millionen Baden-Württemberger rot, vor viereinhalb Jahr waren es noch 1,1 Millionen, zurzeit wären es – die Wahlbeteiligung von 2011 unterstellt – weniger als 900 000.

Die Auswirkungen für Grün-Rot sind dramatisch. Vor allem, weil die Profilierungsbereitschaft auf Kosten des Koalitionspartners die gemeinsame Basis unterminiert, im Landtag und vor allem auf kommunaler Ebene. In vielen Räten sind die Roten der Grünen größte Feinde. In Stuttgart muss sich OB Fritz Kuhn regelmäßig ankoffern lassen. Gerade wurde in Wiesloch ein promovierter Wieslocher mit bester Reputation und grünem Parteibuch entgegen der über Monate weit verbreiteten Erwartung nicht Oberbürgermeister, weil sich die SPD mit dem bürgerlichen Lager gegen ihn verbündete. "Die schlagen um sich", sagt einer aus der Landtagsfraktion, "als wären sie wirklich im Überlebenskampf."

Wichtige Themen auf die lange Bank

Überleben wird sie schon, die alte Tante, fragt sich nur in welchen Aggregatzustand. Seit Mitte der Achtziger ist aus der Sicht maßgeblicher Genossen und Genossinnen nie der richtige Zeitpunkt, die immer misslichere Lage zu analysieren. Das wird am kommenden Wochenende nicht anders sein beim Landesparteitag in Mannheim. 230 Seiten im Antragsbuch spiegeln zwar auf den ersten Blick durchaus Diskussionsfreunde wider. Wer aber genauer hinschaut, erkennt schnell, dass nur eine Handvoll Kreisverbände wirklich aktiv ist: Stuttgart und Böblingen, Ulm, Zollernalb oder Mannheim. Und vor allem – wie die Strippen in der von karrierebewussten Netzwerkern dominierten Landesspitze so gezogen werden –, dass heikle, der Basis aber wichtige Themen sicher auf der langen Bank landen.

Bestes Beispiel ist die Reform der Erbschaftssteuer. Der Landesparteitag im März in Singen hatte mit großer Mehrheit per Resolution eine Reform verlangt, die "in einer zweiten Stufe unseren Anforderungen an den Beitrag einer Erbschaftssteuer für ein verteilungs- und leistungsgerechtes Steuersystem in Hinblick auf unsere nächsten Regierungsprogramme" gerecht wird. Immerhin war schon 2011 beschlossen worden: "Die Erbschaftssteuer in Deutschland muss reformiert werden. Es kann nicht sein, dass große Vermögen von Generation zu Generation weitergegeben werden, ohne dass in bedeutendem Maße Steuern gezahlt werden. Die vielen Ausnahmen bei der Erbschaftssteuer müssen beseitigt werden." Seit Jahren stapeln sich Analysen, wonach in der Republik in der kommenden Dekade zwischen zweitausend und viertausend Milliarden Euro vererbt werden. Nach Schätzungen der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung besitzen in zwischen zehn Prozent der Bevölkerung zwischen 63 und 74 Prozent der deutschen Privatvermögen, Tendenz stark steigend.

Nachdem im Juli eine sozialdemokratische Fachtagung sich jedweder Empfehlung zu dem heißen Eisen enthielt, liegen jetzt in Mannheim wieder einschlägige Anträge auf dem Tisch. Besonders ausführlich haben sich der Kreisverband Stuttgart und die nimmermüden Jusos damit befasst, dass "Deutschland immer ungerechter wird". Der Kreisverband Heidelberg erinnert ausdrücklich an die Beschlüsse von 2011. "Wir müssen endlich handeln", schreiben die Jusos und machen beim Titel ihres Antrags sogar bei Georg Büchners revolutionären Visionen eine Anleihe: "Friede den Hütten, Steuern den Palästen." Was aber plant die Parteispitze? Auf keinen Fall den offenen Schlagabtausch, die ehrliche Debatte, sondern die Durchführung einer Fachkonferenz.

"Die Folge dieses politischen Eskapismus ist ein langer Marsch in die Bedeutungslosigkeit", formuliert Landeschef Nils Schmid. Der Doppelminister für Wirtschaft und Finanzen weiß zwar, wovon er spricht, hat aber nicht, wie von so vielen seiner Genossen und Genossinnen erhofft, endlich einmal zur Feder gegriffen, um schonungslos die Lage der Südwest-SPD zu analysieren. Sondern er watscht die britische Labour Party und deren neuen Vorsitzenden Jeremy Corbyn ab, und das auch noch in Springers "Welt". Nur zwei Tage nachdem der 66-jährige Linke per Mitgliederentscheid gekürt wurde, werden ihm ausgerechnet aus Stuttgart die Leviten gelesen. Schmid nennt die Wahl "das abschreckende Beispiel einer Partei auf dem Weg ins politische Nirvana". Prinzipientreu seien nicht jene, die eine vermeintliche goldene Vergangenheit beschwören, sondern jene, die sich der schwierigen Aufgabe stellen, die ewigen Werte einer Partei auf die Gegenwart zu übertragen: "Deshalb ist das Prinzip Corbyn keine Blaupause für andere Länder."

In den Wochen des Basisvotums gewann Labour 160 000 ordentliche Mitglieder, weitere 240 000 Menschen bekannten sich zu den neuen alten linken Werten. Davon können Rote hierzulande nicht einmal mehr träumen. Lediglich zwei der 43 Kreisverbände – Mannheim und Pforzheim – schreiben zwischen 2013 und 2015, Regierungsbeteiligung hin oder her, kein Minus in der Mitgliederentwicklung. "Wir werden in den nächsten Jahren erhebliche Anstrengungen unternehmen müssen, um als Mitgliederpartei weiterhin finanziell und organisatorisch handlungsfähig zu bleiben", steht im Geschäftsbericht zu lesen.

Realitätsflucht und Friedhofsruhe

Apropos Eskapismus, zu deutsch: Realitätsflucht. Der Bericht des Landesvorstands über die Arbeit der vergangenen zwei Jahre ist überschrieben mit "Der Landesparteitag in Reutlingen führt zu Geschlossenheit". Ebendort hatte aber die Basis der Führungsriege mit extrem schlechten Wahlergebnissen schon die gelbe Karte gezeigt. Von einer "schallenden Ohrfeige" und "voller Breitseite" war anderntags die Rede in Zeitungen, die Delegierten sprachen vom Riesenfrust nach der Bundestagswahl von 2013, vom drohenden Abstieg hin zur 20-Prozent-Marke. Die Führungsriege verhielt sich in der Folgezeit – und verhält sich bis heute –, als wäre nichts geschehen. Nicht einmal interne Kompetenzanalysen, die der SPD die Meinungsführerschaft auf sämtlichen Themenfeldern absprechen, wurden als Weckruf interpretiert. "Wir sind der Motor, der unser Land modern und sozial gerecht gestaltet", schreibt Schmid unverdrossen in der Einladung zum Mannheimer Parteitag – und gerade altgediente Fraktionäre befürchten, dass er das sogar selbst glaubt.

Beleg für die anhaltende Unform einer Landes-SPD, die in den Sechzigern und Siebzigern zu den großen Talentschmieden der Bundespartei zählte und mit Erhard Eppler bedeutende programmatisch-inhaltliche Impulse für eine ökologisch und friedenspolitisch engagierte Sozialdemokratie setzte, ist die Friedhofsruhe. Kein Aufschrei nach Schmids Corbyn-Bashing, kein Aufbegehren, wenn – wie bei der Reform des Landtagswahlrechts oder der Direktwahl der Landräte – nicht einmal versucht wird, Parteitagsbeschlüsse umzusetzen. Aber auch keine Leidenschaft im Umgang mit Erfolgen, die sich der kleinere Koalitionspartner auf die Fahnen schreiben könnte: von der Abschaffung der Studiengebühren, die den Grünen kein Herzensanliegen war, über die Mietpreisbremse, die Bildungszeit oder das neue Gesetz zur Chancengleichheit. Des Ministerpräsidenten Gesicht sprach Bände, als Frauenministerin Katrin Altpeter dieser Tage über die erweiterten Rechte von kommunalen Frauenbeauftragen berichtete und auf das Gebot der Geschlechterparität in allen möglichen Gremien zu sprechen kam: Winfried Kretschmann war noch nie ein Quotenfreund. Dieser Fortschritt, für den so viele Frauen im Land so lange gekämpft haben, könnte also speziell auf dem roten Konto gutgeschrieben werden.

Wird er aber nicht. Nicht zuletzt, weil der SPD jener Mut fehlt, den Platz zu nutzen, den die Grünen links von der Mitte längst lassen. Beim Megathema Digitalisierung spielen Arbeitnehmerrechte keine Rolle. Bei der Testfahrt mit dem Riesenlaster erwähnte Kretschmann mit keinem Wort die massiven Auswirkungen für Fahrer, die nach den Vorstellungen von Fans autonomer Mobilität sich anstelle des Lenkrads der Büroarbeit widmen müssen. Selbst im hoch umstrittenen Freihandelsabkommen TTIP sieht der grüne Regierungschef primär eine dicke Chance "für unsere starke Wirtschaft".

In Mannheim gibt es zu Letzterem zahlreiche Anträge, darunter der des Kreisverbands Stuttgart mit dem Ansinnen, alle Verhandlungen auszusetzen und andernfalls ein Ergebnis der Basis zur Abstimmung vorzulegen. Eigentlich hatte der Landesvorstand seinerseits eine Beschlussvorlage versprochen, eine Arbeitsgruppe, aber auch einzelne Arbeitsgemeinschaften und Foren befassten sich mit TTIP und CETA. Ohne messbare inhaltliche Ergebnisse allerdings. Mehr noch: Im Landesverband von Eppler, von Dieter Spöri und Ulrich Maurer, die stilbildend für die Bundespartei "Arbeit und Umwelt" versöhnen wollten, oder des streitbaren Umweltministers Harald B. Schäfer, konnte sich im Fachbeirat "Umwelt, Verkehr und Energie" niemand für die Diskussion darüber erwärmen. Für ein Treffen zu TTIP-Folgen für die Umwelt seien Referenten von "Naturfreunden" und BUND angefragt worden, heißt es im Geschäftsbericht, "das Verhältnis von Referenten und angemeldeten Teilnehmenden machte leider eine Absage des Termins nötig". Wie bei Raab keine Realsatire, sondern die Lage in der Südwest-SPD.


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12 Kommentare verfügbar

  • Blender
    am 04.11.2015
    Antworten
    Natürlich könnte man Nils Schmid wählen. Immerhin hat er bewiesen den Haushalt zu führen, und er hat auch 5 Jahre mehr Regierungserfahrung als der ex-Landrat von der CDU.
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