Einen Wachtraum träumen die beiden Teams, die sich die Touren des Regierungschefs und seines schwarzen Herausforderers Guido Wolf ausgedacht haben, gerade gemeinsam: dass die Termine im aufwändigen Programm überbucht sind. Es ist der Traum davon, dass die Menschen sich dicht drängeln, wenn der eine gerade in der Gluthitze im Norden des Landes und dann im Süden läuft, wenn er redet, besichtigt, Urkunden überreicht oder diskutiert, sei es über Obrigheim, Müllgestank oder Mountainbiken. Und wenn der andere im orange-gestylten Groß-Bus "in einer Tour für Baden-Württemberg unterwegs" ist, inklusive Ladies Lunches, Firmenbesuchen, Picknick, Gottesdienst und einer Wanderung in der Abenddämmerung. Mit Wahlkampf hat das alles nichts zu tun.
Denn "Wandern bedeutet: Gehen in der Landschaft als Selbstzweck", beschreibt Kretschmann seine Passion selber. Und beichtet, dass er dabei keine schwierigen Gespräche mag, "schon gar nicht über Politik." Jetzt muss er reden, zehn Tage lang. Im Rucksack hat er nicht nur den schönen Amtsbonus, sondern auch reichlich Fragezeichen. Der einzige grüne Regierungschef der Welt steht unter besonderer Beobachtung - der auf Ausrutscher lauernden Opposition sowieso. Aber auch seiner Anhängerschaft, angesichts der vielen eingesammelten grünen Positionen – von TTIP bis Giga-Liner, von Nahverkehrsabgabe bis Wahlrechtsreform. Und natürlich auch vieler Parteimitglieder, die wissen wollen, wohin die Reise (noch) geht. Die Befürchtung hat sich eingeschlichen, dass in dem eigenwilligen Sympathieträger doch der 08/15-Politiker die Oberhand gewinnen könnte, der am Ende vor allem eines will: wiedergewählt werden, um fast jeden Preis.
Wenig standfest nach der Bundestagswahl
Schon bei der Bundestagswahl vor zwei Jahren hatte er gezeigt, dass für ihn im Ernstfall der Zweck die Mittel heiligt. "Das haben ihm viele nicht vergessen", erinnert ein Parteiratsmitglied an die unsäglichen, von CDU, CSU, FDP und zahlreichen Medien immer neu entfachten Debatten über Steuerreform und Veggie-Day. Man müsse auch mal hoffen dürfen, dass Ehrlichkeit belohnt wird, hatte der Ministerpräsident noch kurz vor dem Wahltag auf einer rot-grünen Bund-Länder-Konferenz in Berlin tapfer die Stellung gehalten. Beim Thema "Ein Wochentag ohne Fleisch" brachte er sogar die Lacher auf seine Seite, mit dem Hinweis auf den katholischen Speiseplan in seiner Kindheit. Wenige Tage nach dem miesen Neun-Prozent-Ergebnis war alles anders: Kretschmann lief wenig standfest über zum Chor derer, die schon immer gewusst haben wollten, dass die Wählerschaft keine grüne Bevormundung will.
Viele eherne grüne Überzeugungen stoßen sich im Raum mit Forderungen und Wünschen, die an den Regierungschef tagtäglich herangetragen werden. Manche ehrlich, aus der Bürgerschaft, ohne Kalkül, andere mit weitreichenden Hintergedanken. Seit Wochen drängen CDU und FDP den MP, weitere drei Balkan-Staaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären. Parteifreunde vom alten Fundi-Flügel befürchten, dass er am Ende abermals überläuft. Erst recht seit Boris Palmer, der Ego-Shooter aus dem Tübinger Rathaus, der ganzen Partei ein flüchtlingspolitisches Umerziehungsprogramm anempfohlen hat. Samt der haarsträubenden Idee einer Teilung des Grundrechts auf Asyl in zwei verschiedene Verfahren, um Sinti, Roma und andere Armutsflüchtlinge aus der Republik Kosovo, aus Albanien oder Montenegro, genauso wie Serben, Bosnier und Mazedonier schneller wieder loszuwerden.
Helle Aufregung an der Basis. Im Netz wird dem Tübinger OB, der sich in Sachen Flüchtlingsunterbringung bisher nicht mit Ruhm bekleckert hat, eine Woche Familienurlaub in Mitrovica empfohlen, "wo serbische Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten am Ibar stehen". Eine Studentin erinnert daran, dass in der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik noch immer UNO-Truppen für Sicherheit sorgen müssen. Da von einem sicheren Herkunftsland zu reden, sei "herzlos und geschichtsvergessen".
14 Kommentare verfügbar
invinoveritas
am 20.08.2015Gratuliere! Sie sind der vorerst letzte in einer langen Reihe brillanter Köpfe, die sich mühsam an meinem nickname abarbeiten.
Nebenbei: Latein nicht zu "können", ist nicht vorwerfbar, aber dann sollte man auch die veritas nicht "in Urbis et Orbis" verorten wollen, weil da…