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"Das Bekenntnis zum Auto ist falsch"

"Das Bekenntnis zum Auto ist falsch"
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Immer mehr statt weniger Verkehr in Baden-Württemberg: Die BUND-Landesvorsitzende Brigitte Dahlbender wirft Grün-Rot vor, das zentrale Wahlversprechen der Mobilitätswende gebrochen zu haben. "Ohne klare Einschnitte im Individual- und im Güterverkehr ist weder die Kohlendioxid- noch die Feinstaub-Problematik zu lösen", sagt die Sozialdemokratin.

Frau Dahlbender, wie ist Ihr persönlicher Modal Split?

Das ist eine Mischung aus ganz wenig Autofahren, sehr viel Bahn, viel zu Fuß und mit dem Bus. Ich fahre oft mit dem Bus in die Stadt und innerhalb Deutschlands praktisch alles mit der Bahn.

Würden sich alle Menschen in Ballungsräumen zumindest annähernd ähnlich verhalten, wären dann alle Probleme gelöst?

Auf jeden Fall wäre sehr viel Individualverkehr vermieden. Das ist doch eine Frage der Gewohnheit, der richtigen Planung und vor allem natürlich der Angebote. Ich gewinne durchs Bahnfahren sehr viel Lebenszeit. Schon als meine Kinder noch klein waren und vom Laptop oder Tablet keine Rede, habe ich im Zug gearbeitet. Das war meine Bürozeit. Das habe ich nicht gemacht, weil ich beim BUND war, sondern weil die Vorteile auf der Hand lagen. Daheim war dann mehr Zeit für die Familie.

Für diese Erkenntnis braucht niemand einen Verkehrsminister oder politische Vorgaben.

Die kann ich aber befördern. Damit Menschen ihr Auto stehen lassen, ist ein funktionierendes vernetztes Angebot nötig. Die Grünen haben viel versprochen: In der Koalitionsvereinbarung steht beispielsweise, dass es integrierte Konzepte geben wird, die sämtliche Verkehrsträger intelligent verknüpfen. Das klingt vielleicht technokratisch, ist aber von großer Bedeutung. Die begeisterte Radfahrerin kann ihr Rad unkompliziert und gesichert am Bahnhof abstellen, fährt mit dem Zug in die Stadt, in die sie muss, und bestellt per Handy ein Car-Sharing-Auto, weil das Industriegebiet öffentlich schlecht oder vielleicht sogar gar nicht erschlossen ist. Ohne Zeitverlust, übersichtlich und übrigens mit einem flächendeckend einheitlichen ÖPNV-Tarif. Dann sind die Fahrscheinautomaten auch ohne wissenschaftliches Studium zu nutzen. Und das alles muss einhergehen mit dem Verzicht auf den Bau neuer Straßen. Wir kritisieren, dass die negativen Wirkungen des Straßenbaus und der auf diese Weise zusätzlich erzeugte Straßenverkehr auf dem Mobilitätsgipfel nicht problematisiert wurden.

Den Straßenbau zu problematisieren dürfte bei ziemlich vielen Leuten ziemlich unpopulär sein. Mit solchen Meldungen haben die Grünen keine guten Erfahrungen gemacht. Ich erinnere nur an Winfried Kretschmanns Satz gleich nach Amtsantritt, dass weniger Autos mehr wären.

Natürlich weiß ich auch, dass in gut sieben Monaten Landtagswahl ist. Aber gerade das verpflichtet einen doch, genau hinzusehen, was in den vier vergangenen Jahren gelaufen ist. Ich bin die Vertreterin eines Umweltverbandes, ich halte das Bekenntnis zum Autoverkehr für falsch. Nehmen Sie nur den Giga-Liner-Versuch, der jetzt auch auf baden-württembergischen Autobahnen stattfindet. Ich habe die guten Argumente auf meiner Seite. Der Klimawandel zwingt uns umzusteuern. Immer mehr Gütertransporte drängen auf die Straße. Für den Großraum Stuttgart ist gerade ein Feinstaubkonzept vorgelegt worden. Es gibt eine lange Liste großer und wichtiger Herausforderungen. Die müssen doch mit Mut angegangen werden. Und zwar nicht nach, sondern vor einer Wahl.

Ist das nicht ganz schön viel verlangt nach dem Grünen-Absturz bei der Bundestagswahl wegen Veggie-Day etc.?

Das muss eben gut erklärt werden. Wir wollen innerstädtisches Wohnen, die Leute ziehen wieder in die Innenstädte, wir drängen aber den Verkehr nicht zurück. Der BUND ist nicht grundsätzlich gegen jeden Neubau einer Straße, aber Straßenneubauten sind nur noch in begründeten Einzelfällen zu realisieren. Nur noch in begründeten Einzelfällen, das steht auch im Koalitionsvertrag. Und dass der Flächenverbrauch reduziert wird. Unsere Forderung lautet: Wenn eine neue Straße gebaut werden muss, etwa zur Umgehung, wird das verkehrsneutral umgesetzt. Das wiederum heißt, es muss an anderer Stelle, gerade auch in Innenstädten, zurückgebaut werden. Das liegt voll auf der Linie der Ziele, die auch die Grünen formuliert haben. Ich erwarte von der Politik nicht, dass ein Gesetz erlassen wird mit dem Inhalt "Wir verbieten euch das Autofahren". Ich verlange nur den Mut, zu eigenen Versprechen zu stehen.

Zum Beispiel?

Baden-Württemberg sollte zur Pionierregion für nachhaltige Mobilität werden. Nicht mehr und nicht weniger. Das waren große Worte. Das Verkehrskapitel im Koalitionsvertrag ist voll von kleinen und großen Plänen. Die Tarifstruktur sollte vereinfacht werden, es sollte attraktive Schüler- und Studierenden-Tickets geben, der Vorrang für die Schiene wurde festgeschrieben und manches mehr. Ich schätze viele Projekte, die Winne Hermann auf den Weg gebracht hat. Und mir ist auch klar, dass die SPD andere Akzente setzen möchte. Aber die Weichen dürfen nicht falsch gestellt werden. Der Giga-Liner-Versuch ist doch der beste Beleg fürs Einknicken der Landesregierung vor der Autolobby. Wortwörtlich steht in der Koalitionsvereinbarung: "Wir werden uns nicht an dem Modellversuch der Bundesregierung beteiligen."

Der BUND hat den Mobilitätsgipfel boykottiert. Warum?

Wir wollen zum Ausdruck bringen, dass da ziemlich viel falsch läuft: In Grundsatzfragen ist das Verkehrsministerium eingeknickt. Wir verlangen ein Bekenntnis zu nachhaltiger Mobilität anstelle von Signalen, die eher für eine ungebremste Automobilpolitik stehen. Man muss sich trauen, Ross und Reiter zu nennen. Der Verkehr produziert ein Drittel der Kohlendioxidbelastungen. Aber wo sind die Maßnahmen, die die Straße unattraktiv für den Güterverkehr machen? Wir sind für konsequente Beschränkungen in den Städten. Wie haben doch einen Trend zu mehr statt zu weniger Schadstoffen. Der Klimawandel wird uns ohnehin zu einschneidenden Veränderungen zwingen - auch unseres persönlichen Verhaltens. Man darf doch nicht sehenden Auges noch mehr zu Getriebenen werden.

Also doch Restriktionen?

Schritt für Schritt. Das Feinstaubkonzept der Stadt Stuttgart gehorcht diesem Prinzip. Zunächst Überzeugungsarbeit, dann die Einschnitte. Politik muss klar sagen, was sie von den Menschen, von den Wählerinnen und Wählern erwartet. Und sie muss die Alternativen schaffen, die Verhaltensveränderungen ermöglichen. Die Konzepte dafür liegen wirklich vor. Es gibt so viele Modelle in europäischen Ballungsräumen, die funktionieren.

Besonders gut funktioniert der Umstieg bei kostenlosen Angeboten. Aber wer zahlt den Gratisfahrschein, den registrierte ÖPNV-Nutzer an Feinstaub-Tagen auf ihr Handy geladen bekommen?

Ich habe keinerlei Erklärung dafür, warum die Möglichkeiten für eine Nahverkehrsabgabe nicht geprüft worden sind. Oder für die City-Maut. Das würde finanzielle Spielräume eröffnen. Winne Hermann könnte doch sagen: Das wollen wir, das sind die Schritte dahin, mehr ist zurzeit nicht machbar aus diesem oder jenem Grunde. Ohne klare Einschnitte im Individual- und im Güterverkehr ist weder die Kohlendioxid- noch die Feinstaub-Problematik zu lösen. Wohlgemerkt, wir lassen den Einzelnen nicht aus seiner Verantwortung. Aber die Richtung, die die Politik einschlägt und die sie versprochen hat einzuschlagen, die muss erkennbar bleiben. Und messbar. Nicht nur an Worten, sondern an Taten.


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10 Kommentare verfügbar

  • Pit
    am 08.09.2015
    Antworten
    Grautulation zu diesem Beitrag und Kompliment an Frau Dahlbender für diese klare Positionierung, die man sich eigentlich auch von den verantwortlichen Politikern wünscht. Es reicht halt nicht, wenn sich ein Minister nur einmal im Jahr per Rad zu einer Radsternfahrt gesellt und ansonsten der…
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