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Hornhaut gegen Häme

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Dass Wolfgang Drexler das noch erleben durfte: Jetzt wird der ehemalige "Mister Stuttgart 21" sogar von den "Anstiftern" gelobt – für seine "wiederholten Bemühungen, die Untersuchungen im NSU-Untersuchungsausschuss möglichst ergebnisoffen zu gestalten und vorschnellen Bewertungen deutlich entgegenzutreten". Eine Anerkennung, die sich der Sozialdemokrat verdient hat.

Was ist nicht alles über den gebürtigen Esslinger geschrieben worden, über den "Kettenhund der Deutschen Bahn", den "Parteisoldaten, der nicht nur beißen kann", über den "roten Minenhund mit Witz". Drexler, rhetorisch begabt und kein Kind von Traurigkeit, reizt seine Gegner. Auch bis zum Äußersten, etwa 1997, als er auf einem Landesparteitag in Sindelfingen spontan und erfolgreich als Generalsekretär kandidierte, nach einer katastrophal lahmen Vorstellungsrede des eigentlich dafür vorgesehenen Genossen Christian Lange, MdB. Oder als er 2006 das Amt des SPD-Fraktionschefs nicht an die glücklose Ute Vogt abgeben wollte, am Ende aber doch musste. Und natürlich mit seiner bockelharten Haltung zum Tiefbahnhof.

Die ist getragen von allzu optimistischen Einschätzungen zu den Kosten, zum Risikopuffer, zur Popularität des Projekts. Aber zugleich von in mehr als 20 Jahren gewachsener Sachkenntnis. Drexler zählt zu den wenigen S-21-Freunden, die versierte Kopfbahnhof-Befürworter ins Schwitzen bringen können. Wie vor Jahr und Tag im Landtag Boris Palmer, einen anderen ausgewiesenen Kenner der Materie und heutigen Tübinger OB, als er wissen wollte, wie denn die Schnellbahntrasse im Neckartal zuerst mitten durch bebautes Gebiet – in seinem Wahlkreis – und dann auf die Filder geführt werden soll, wie die Planungen und vor allem ihre Durchsetzung in akzeptabler Zeit aussehen könnten. Oder bei SPD-Veranstaltungen, wenn es um die Legitimation der Zustimmung in den eigenen Reihen ging und um den positiven Grundsatzbeschluss seiner Partei – Ende der 90er Jahre gefasst mit 85 Prozent. Dass damals erst ein Bruchteil der heutigen Kosten veranschlagt war, lässt auch er auf einem anderen Blatt stehen. Allerdings hat die Basis auch auf die Preissprünge der Folgejahre nie mit einem anderen Votum reagiert.

Das "unumkehrbare" Projekt S 21 ist unvergessen

"Stuttgart 21", erinnerte sich Drexler vor der Volksabstimmung von 2011, "hatte über gut zehn Jahre lang fast alle in der Bevölkerung hinter sich." Das wahre Problem sei gewesen, "dass diese Zustimmung nicht gepflegt und mit den Gegnern nicht anständig diskutiert worden ist", gerade über Alternativplanungen. Nur: "Einen Kompromiss hätten wir nicht bieten können." Solche und andere, manchmal reichlich verwegene Sätze – "Überall wurde gebaut, nur bei uns nicht", "Das Projekt ist unumkehrbar", "Ein Ausstieg wäre unfinanzierbar" – bescherten ihm die Rolle des Buhmanns nicht zuletzt unter sozialdemokratischen Neinsagern. Eine Kurskorrektur kam für ihn dennoch nie in Frage. "Wenn man für eine Sache ist, dann sollte man dafür hin stehen und nicht wegtauchen", sagte er 2009 bei seiner Ernennung zum ehrenamtlichen Projektsprecher. Damit war er endgültig unten durch beim Widerstand.

Paradoxerweise punktet er jetzt im NSU-Ausschuss – zumindest auch – mit genau den Eigenschaften, die Gegner und Gegnerinnen auf die Palme brachten und bringen und ihn bei Montagsdemos in der ersten Reihe der Übeltäter landen ließen, ganz vorn neben Stefan Mappus und sonstigem "Lügenpack". Drexler ist hartnäckig, strategisch, schlitzohrig, für jede Art der Dämonisierung ungeeignet, und er hat eine Menge Erfahrung im Politikbetrieb. Zudem weiß er für gewöhnlich ziemlich genau, wovon er spricht, und es dauert, bis er wirklich aus der Haut fährt. "Wir bewerten die bisherige Arbeit positiv", heißt es im offenen Brief der "Anstifter" nach 20 Sitzungstagen schnörkellos. Anfangs gaben viele Skeptiker keinen Pfifferling darauf, dass dieser Ausschuss Sinnvolles zutage fördern würde. Das Vorurteil ist im Realitätstest durchgefallen, dank eines Vorsitzenden, der keine halben Sachen macht. Einmal pflanzt sich der Vater des toten rechten Aussteigers Florian Heilig vor ihm auf und bedankt sich für so viel Ernsthaftigkeit. "Das haben wir nicht mehr erwartet", bekennt er draußen bei einer Zigarettenpause, der Herr Drexler sei "ein Lichtblick".

Jedenfalls ist er ein "Homo politicus", sitzt seit 1971 im Esslinger Kreistag, seit 1975 im Gemeinderat und seit 1988 im Landtag. Von 1983 bis 2001 war er Chef der SPD in der alten Reichsstadt und damit des mitgliederstärksten Ortsvereins im ganzen Land, er ist bei Wahlen regelmäßig Stimmenkönig und sticht sogar CDU-Konkurrenten aus. Er hat seinen Enthusiasmus, seinen Elan, seine Neugier nicht verloren, wiewohl er manche Themen schon seit Jahrzehnten beackert. Früh hat er sich für die Reform des Schulsystems eingesetzt, für mehr Kinderbetreuung, für das Solarland Baden-Württemberg und höhere Steuern für Reiche. Er kämpfte gegen den Ausbau des Flughafens, entwickelte daraus auch seine Zustimmung zu Stuttgart 21: "In Leinfelden-Echterdingen geht nichts mehr, das Straßennetz ist sehr verdichtet, also müssen wir das umweltfreundlichste Verkehrsmittel, die Bahn, ausbauen, aus Verantwortung für die nächste und die übernächste Generation."

Auch als Aufklärer hat Drexler seine Verdienste

Drexler ist ein Aufklärer, längst nicht erst, seit er den NSU-Ausschuss führt. Er stocherte so lange im Finanzgebaren der landeseigenen Südwestdeutschen Verkehrs-AG (SWEG) herum, bis CDU-Minister Hermann Schaufler anno 1998 seinen Hut nehmen musste. Für die Aufklärung bei FlowTex, die am Ende zwei weitere, diesmal FDP-Minister das Amt kostete, stritt der immer rührige Sozialdemokrat schon, als die Milliarden-Causa um gar nicht existente Bohrmaschinen in Zeitungskommentaren noch klein- und der Begriff Skandal in Anführungszeichen geschrieben wurde. "Ich will bei den Menschen sein", bekennt er auf die Frage nach seinem Antrieb. Anfang der Neunziger, als die Zuwanderungszahlen noch höher waren als heute, schläft er eine Nacht in einem Esslinger Aussiedler-Wohnheim. Anderntags schenkt ihm ein ehemaliger russischer Eishockey-Trainer seinen Originalschläger, weil ein Politiker "nicht mit Kameras, sondern mit Herz gekommen ist".

Wenn der inzwischen 69-jährige doch die Balance verliert, wird's ernst und womöglich laut. S-21-Gegner mussten sich schon mal anmachen lassen. Auch hinter verschlossenen Türen geht es zur Sache. Jüngst hat Drexler dem Genossen Nik Sakellariou, SPD-Obmann im NSU-Ausschuss, klargemacht, dass blinde Polizeiverteidigung und ernsthafte Aufklärung nicht zusammenpassen. Manchmal, wenn der Landtagsvizepräsident – seit 2006 – durchs Foyer geht mit dem Handy am Ohr, ist seine strenge Tonlage unüberhörbar. "Ich werde ungeduldig", sagte er einst nach seiner Wahl zum SPD-Fraktionschef, "wenn ich etwas, das wirklich leicht verständlich ist, dreimal erklären muss." Fraktionskollegen kennen – und schätzen überwiegend – Drexlers Hang zum Sarkasmus. Ähnlich wie Bundestagspräsident Norbert Lammert schafft er es, den Grat zwischen unangemessener Schärfe und schlagfertigem Humor haarscharf zu halten. Er ist ein begehrter Büttenredner, sitzt im Beirat des Kabaretts Galgenstricke, spielt Gitarre und singt sogar – vor Jahr und Tag im "Weißen Rössl".

Im Tränengas bei der Blockade der "Bild"-Druckerei

Wie viele seiner Generation ist Drexler Aufsteiger. Nach Volks- und Handelsschule macht er eine Ausbildung zum Rechtspfleger, wird Amtsanwalt. Als Jungsozialist behindert er 1968, nach dem Dutschke-Attentat, in Esslingen die Auslieferung von "Bild", bis die Polizei die Zufahrt zur Druckerei Bechtle mit Wasserwerfern und Tränengas freimacht. Zu den Theoretikern der 68er zählt Drexler nicht, als Praktiker engagiert er sich über Jahre in der Jugendarbeit, im deutsch-polnischen Austausch, und entscheidet sich, in die Politik zu gehen. Auf einer Studienreise nach Auschwitz und Warschau lernt er seine Frau kennen, eine polnische Dolmetscherin. Er ist Mitglied bei Verdi und im BUND, eine ellenlange Liste von Ehrenämtern füllt seine Biografie, über die Pfadfinder, die Polen-Hilfe, die Partei, den Gesangsverein bis Stuttgart 21 und darüber hinaus. Seit neulich ist er auch noch Präsident des Schwäbischen Turnerbunds. Das Motto für so viel Arbeit, ohne jede Aussicht auf materiellen Lohn, könnte von einem 17-Jährigen Politnovizen stammen: "Weil es so viel gibt, was zu verbessern ist."

Gegen Häme ist eine Hornhaut gewachsen, schließlich liegt einiges auf der Habenseite. Früher war er dünnhäutiger, 1999 in Friedrichshafen etwa, als er SPD-Landeschef werden wollte und ganz knapp unterlag gegen Ute Vogt. Als "alten Sack" hatten ihn einige dargestellt im Vergleich zu dem "jungen Mädchen", mit dem eine Mehrheit in der Partei meinte, endlich eine Chance auf das Amt des Ministerpräsidenten zu haben. Gleich nach der Wahl bittet ihn Vogt, Generalsekretär zu bleiben. Drexler kämpft schwer mit sich, er ist, womit er aber nicht öffentlich hausieren geht, alles andere als überzeugt vom Format der neuen Landesvorsitzenden. "Wenn wir den Erfolg wollen, müssen wir gemeinsam marschieren", sagt er nach einer Nacht Bedenkzeit und wird mit mehr als 90 Prozent und tosendem Beifall bedacht.

Der Erfolg stellt sich noch lange nicht ein. Er spielt in Wahlkämpfen und darüber hinaus seine Managerqualitäten aus, entwickelt einen Hang zur Schönfärberei, Slogans wie der von der "Mitmach-Partei" SPD kommen aus dieser Küche. Den Kampf gegen "diesen schwarzen Filz" in einem Bundesland, das über Jahrzehnte von der Union beherrscht wird, gibt er nicht auf. Vor gut zehn Jahren beginnt der Rote mit dem damaligen Grünen-Fraktionschef Winfried Kretschmann die Stabilität der Gemeinsamkeiten abzuklopfen – hie und da sogar öffentlich oder per Zeitungsinterviews die Reaktionen testend. "Wir vertrauen uns", versichert der spätere Ministerpräsident während der Koalitionsverhandlungen, die ohne dieses Vertrauen fast gescheitert wären – natürlich am Thema Stuttgart 21. In einer geheimen Rettungsmission müssen Drexler und der Grüne Werner Wölfle den Kompromiss samt Volksabstimmung aushandeln. Beide wissen schon damals, erzählt der heutige Stuttgarter Verwaltungsbürgermeister später, "dass es einem Teil der Gegner lieber gewesen wäre, wir wären gescheitert".


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24 Kommentare verfügbar

  • Barolo
    am 08.06.2015
    Antworten
    Herr Steiner, wie kommen sie darauf das ich mich gegen eine Vernehmung einer Frau Schneider wehre?
    Ich bin nur gegen Nebelkerzen, d.h. unnötige Vorladungen von Leuten die zwar in einem bestimmten Mileu sind, aber zur Aufklärung einer konkreten Straftat (Kiesewetter) nichts wesentliches beitragen…
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