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NSU-Aufklärung: Vom Korpsgeist gelähmt

NSU-Aufklärung: Vom Korpsgeist gelähmt
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In Wiesbaden steht der Ministerpräsident mächtig unter Druck, in Düsseldorf musste die Ausschussvorsitzende ihren Hut nehmen: Die NSU-Ausschüsse in Hessen und Nordrhein-Westfalen wirbeln jede Menge Staub auf. Dabei haben sie noch gar nicht richtig begonnen.

Gerade unter Grünen, aber auch in interessierten Kreisen der baden-württembergischen Öffentlichkeit galten die Anstrengungen der Abgeordneten in jenen beiden Ländern, die besonders betroffen sind von der dem NSU zugeschriebenen Mordserie, als einigermaßen vorbildlich. Anfang Juli 2014, als hierzulande die Enquêtekommission mehr schlecht als recht in die Gänge kam, konstituierte sich der Untersuchungsausschuss in Hessen mit dem Auftrag, "die Taten, ihre Umstände und die damit verbundenen Maßnahmen der Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden aufzuarbeiten, damit sich solches Unrecht nicht wiederholen kann".

Die Erwartungen waren groß in Hessen, das einst vom brutalstmöglichen Aufklärer Roland Koch (CDU) regiert wurde. Mit dem Mord an Halit Yozgat im April 2006 ist ein besonders dubioses Kapitel möglicher Behördenverstrickung aufgerufen. Am Tatort, einem Internet-Café, war der Verfassungsschützer Andreas Temme, der nichts mitbekommen haben will, der längere Zeit selber verdächtig war, das Verbrechen begangen zu haben, der aber schweigt wie andere hessische Verfassungsschützer ebenso.

Im Februar trat einer von ihnen als Sachverständiger im Landtag auf, "jetzt offen verwertbar" hatte er aber nichts zu sagen. Vom als Rechtsextremismus-Experte geladenen Journalisten Dirk Laabs wollten CDU-Abgeordnete wenig später wissen, ob er vielleicht eine Idee hätte, wie Beteiligte zum Sprechen gebracht werden könnten. Bei Beamten gebe es doch disziplinarrechtliche Mittel, antwortete der Gefragte. Und im Publikum, in dem vielen gar nicht zum Lachen war, kam Heiterkeit auf.

Nur Nabelschau in NRW

In Nordrhein-Westfalen hat der Untersuchungsausschuss seit seiner Konstituierung am 12. Dezember 2014 ganze neun Mal getagt, um den 22-seitigen Einsetzungsauftrag abzuarbeiten und "die Aktivitäten der rechtsterroristischen Gruppierung NSU und eventueller Unterstützerinnen und Unterstützer seit Oktober 1991, die Ermittlungen um die Sprengstoffanschläge vom 19. Januar 2001 und vom 9. Juni 2004 in Köln sowie des Mordanschlags vom 4. April 2006 in Dortmund und weitere Straftaten mit einem mutmaßlich politisch rechts motivierten Hintergrund, wie etwa dem dreifachen Polizistenmord vom 14. Juni 2000 in Dortmund und Waltrop sowie dem Sprengstoffanschlag am S-Bahnhof Düsseldorf-Wehrhahn vom 27. Juli 2000" zu durchleuchten. Auf dem Programm standen bisher allerdings ausschließlich Experten-Hearings und Nabelschau.

Schon zum Start bestand die SPD-Fraktion darauf, den Abgeordneten Andreas Kossiski als Obmann in das Gremium zu entsenden, der 2004, als in der Keupstraße eine Nagelbombe 22 Menschen zum Teil schwer verletzte, bei der Polizei arbeitete. Deren Ermittlern wurden und werden gravierende Ermittlungsfehler angelastet. Kossiski solle also "die Arbeit der eigenen Behörde untersuchen", monieren die Beobachter der parlamentarischen und der gerichtlichen Aufklärungsarbeit von NSU-watch. Der Gewerkschafter saß bisher alle Forderungen, sich zurückziehen, aus, sieht sich zu Unrecht kritisiert und will, wie er beteuert, mit seiner "fachlichen Kompetenz" das Vertrauen der Opfer in Polizei wie Rechtsstaat wieder herstellen helfen. In falschen Korpsgeist stehen die Genossen zu ihm.

Ausgerechnet die Ausschuss-Vorsitzende selber rückte die parlamentarische Arbeit in Düsseldorf in ein noch schlechteres Licht. Die SPD-Abgeordnete Nadja Lüders klebte zu lange an ihrem Sessel, als nicht nur bekannt wurde, dass sie als junge Rechtsanwältin 1999 einen Rechtsextremisten und späteren Polizistenmörder in einem Arbeitsrechtsverfahren vertreten hatte, sondern vor allem, dass der Fraktionsvorstand dies gegenüber den Kollegen und Kolleginnen der anderen Parteien verschwiegen hatte. "Die Arbeit darf nicht durch eine Diskussion um meine Person beeinträchtigt werden", sagte die 44-jährige treuherzig und tief gekränkt, als sie im März endlich das Handtuch warf - eben das war längst passiert.

Ohnehin sind die Abgeordneten am Rheinufer seit Monaten mit Verfahrensfragen beschäftigt. Ungeklärt ist bis heute, wie sie überhaupt an die Aktenbestände kommen. Im Raum stehen sechsstellige Summen für den Umbau abhörsicherer Säle. Allein im laufenden Jahr hat der Landtag für die Untersuchungen 2,5 Millionen Euro veranschlagt. Die umfangreichen Umbaumaßnahmen sollen in der Sommerpause vorgenommen werden. Von einem "großen Aufwand" spricht Peter Biesenbach (CDU), der jetzt erst einmal interimsweise den Vorsitz führt, aber das sei man "den Angehörigen und dem Rechtsstaat schuldig".

Verhöhnung der Opfer

Der Aufschrei im Netz war groß, von Verhöhnung ist die Rede und Vergleiche zu Baden-Württemberg werden gezogen. "In einem Bürogebäude des Stuttgarter Landtags lagern in einem für 30 000 Euro ausgestatteten Sicherheitsraum inzwischen hunderte Aktenordner, darunter jede Menge Verschlusssachen, die von den Fraktionen und ihren Mitarbeiter durchgesehen werden", schreibt ein Blogger, "und nicht öffentliche Sitzungen finden eben dort statt, wo die Abgeordneten für gewöhnlich tagen."

Auch die Sitzungsfrequenz der anderen ist bemerkenswert. Während hierzulande bisher wöchentlich, manchmal sogar montags und freitags untersucht wird, wollen die Düsseldorfer in den verbleibenden 38 Wochen dieses Jahres noch 18 Mal zusammenkommen. Niemand weiß, wann die ersten Zeugen tatsächlich geladen werden können. In Wiesbaden gibt es sogar nur zehn Termine bis Jahresende. "Das spricht nicht unbedingt für einen besonderen Eifer in der Aufklärung", sagt Sarah Müller von NSU-watch, "Verzögerungen und Hinhalten ziehen sich wie ein roter Faden durch die gesamte Ausschussarbeit." Es dränge sich der Eindruck auf, dass "einigen Abgeordneten der Mord an Halit Yozgat und der sich darum aufspannende NSU-Komplex schlichtweg egal sind". Rupert von Plottnitz, von 1994 bis 1999 hessischer Minister, hat dieser Tage der Überzeugung Ausdruck verlieren, dass seine Grünen "nicht zu den Bremsern gehören werden, im Gegenteil". Es klang ziemlich nach Pfeifen im finsteren Keller.

Für den kleinen Koalitionspartner ist die Situation heikel. Die Linken-Fraktion im Wiesbadener Landtag drängt mit vielen guten Argumenten, die von den mittlerweile mitregierenden Grünen, damals in den Tagen der Opposition, stammen könnten. Die vermochten ihrem schwarzen Koalitionspartner nicht einmal ein Ja zur Einsetzung des Gremiums abzuringen. Also mussten sie sich mit der CDU bei der entscheidenden Abstimmung enthalten, was einfache Parteimitglieder im Internet als beschämend bewerten.

Und seit immer deutlicher zu Tage tritt, in wie große Schwierigkeiten Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) mit Blick auf seine Zeit als Innenminister noch kommen könnte, werden Aufklärungsbemühungen offen diskreditiert. Er sei schlichtweg erschüttert über die parteipolitischen Scharmützel, klagt Tarek Al-Wazir, der grüne Wirtschaftsminister - ausgestattet mit ausgeprägter Beißhemmung. Und er wirft Nebelkerzen. Es habe in Kassel eine Situation gegeben, "in der ein Verfassungsschützer am Tatort war, der bis heute behauptet, zufällig dort gewesen zu sein, was schon damals alle verwundert - 2006 wohlgemerkt, als noch niemand wusste, dass der NSU dahintersteckte".

Es geht aber gar nicht um das NSU-Wissen 2006, sondern darum, was Bouffier damals schon wusste. Das Wortprotokoll einer Innenausschuss-Sondersitzung vom 17. Juli 2006 steht dankenswerterweise auf der Homepage des Landtags. Der Innenminister sagte aus, von dem Kasseler Vorgang "erst aus der Zeitung" erfahren und keine weiteren Kenntnisse oder Akten zu haben. Inzwischen ist bekannt, dass Bouffier durch die Staatsanwaltschaft sehr wohl unterrichtet und sogar selbst aktiv geworden war.

Nebelkerzen der Grünen

Die Bundestags-Grünen haben sich in ihrem NSU-Minderheitenvotum dazu so geäußert: "Der damalige Innenminister trägt die Verantwortung für das Scheitern der Ermittlungen zu der Serie schwerer Straftaten." Ihr hessischer Parteifreund Jürgen Frömmrich wollte dennoch am liebsten die Finger von dem ganzen Komplex lassen: "Mir ist nicht klar, wie wir mit denselben Zeugen und denselben Akten zu neuen Erkenntnissen kommen sollen." Noch eine Nebelkerze, denn der Bundestagsausschuss konnte aus Zeitgründen überhaupt nur vier Zeugen zum Komplex Kassel laden, darunter nicht einmal den ermittelnden Staatsanwalt.

Die Hinterbliebenen, wie sich auch im Falle von Florian Heilig in Stuttgart zeigt, setzen große Hoffnung in die Arbeit der Untersuchungsausschüsse. Viele Einzelheiten könnten gar nicht Gegenstand des Verfahrens in München gegen Beate Zschäpe sein, weiß Alexander Kienzle, der Anwalt der Familie Yozgat. Aus seiner Enttäuschung, dass die Aufklärungsarbeit im Landtag nicht vorankommt, macht er kein Hehl. Dabei gebe es viel zu berichten, etwa zum Vorgehen der Behörden gegen seine Mandanten.

Vier Beamte waren ausgerechnet während der Trauerfeier in die Wohnung eingedrungen, um sie zu durchsuchen; Verwandte in der Türkei wurden verhört; der Vater des Toten hatte bei der Polizei auf einen möglichen rechten Hintergrund hingewiesen, ohne jeden Erfolg. Da war er in bester Gesellschaft. Denn sogar der bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) hatte sich an Bouffier gewandt, weil der die Vernehmung der von Temme geführten V-Leute unterband. "Wir sind zu lahm", so Beckstein damals - erreicht hat er ebenfalls nichts.

Baden-Württembergs Abgeordnete kommen in den einschlägigen Bewertungen im Netz inzwischen ordentlich weg, keineswegs nur der unengagierten Herangehensweise der anderen wegen. "Der zeitgleich mit NRW eingesetzte Untersuchungsausschuss hat längst mit der ZeugInnenbefragung begonnen", schrieb kürzlich ein Düsseldorfer, "und hat mit den Sitzungen, die sich mit dem vermeintlichen Selbstmord des Neonazi-Aussteigers Florian Heilig beschäftigten, bundesweit für Aufmerksamkeit gesorgt."

Auch bei NSU-watch fällt kein kritisches Wort. Denn binnen weniger Wochen wurde nicht nur eine Fülle unbekannter Details zum Tod des rechten Aussteigers Heilig ans Tageslicht gebracht, sondern vor allem ein Arbeitsmodus gefunden, den die Parlamentarier in Düsseldorf und Wiesbaden noch suchen. Zu Hilfe kommt dabei eine zufällige Konstellation: Alle vier Fraktionen waren im Untersuchungszeitraum mal in der Opposition und mal in der Regierung. Das bändigt den Drang zu Fouls und Revanchefouls. "Wenn überhaupt, setzt Eure Erwartungen in die Stuttgarter", twitterte einer ans "bundesweite Beobachter-Volk", als Heiligs Familie dem Ausschussvorsitzenden Wolfgang Drexler (SPD) Ende März weitere Gegenstände zur Auswertung - ausdrücklich nicht durch die Polizei - übergab, "oder lasst alle Hoffnung fahren."


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4 Kommentare verfügbar

  • Tillupp
    am 15.04.2015
    Antworten
    In Ludwigshafen kamen bei einem Wohnhausbrand am 3 Februar 2008 (ausgerechnet an Fasching, wo man sich leicht verkleiden kann und in der Stadt der Ausnahmezustand herrscht) 9 Menschen ums Leben. https://de.wikipedia.org/wiki/Wohnhausbrand_in_Ludwigshafen_am_Rhein . "Der Brand sei an der Holztreppe…
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