KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Von wegen willkommen

Von wegen willkommen
|

Datum:

Seit einem Vierteljahrhundert scheitern alle baden-württembergischen Landesregierungen im Umgang mit (Bürgerkriegs-)Flüchtlingen vom Balkan. Selbst Grün-Rot legt in der Debatte um die Republik Kosovo Verhaltensweisen an den Tag, die beide Parteien früher an CDU und FDP nicht scharf genug kritisieren konnten.

Der deutsche Südwesten ist spätestens seit Ende der Achtzigerjahre ein gelobtes Land für Auswanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien. Kroaten oder Serben waren schon da, gekommen als Gastarbeiter, die Hoffnung auf Schutz und Beschäftigung war groß, die Route vergleichsweise kurz. Während der Kriege auf dem Balkan lebten knapp 150 000 Flüchtlinge zwischen Main und Bodensee. Für UN-Fachleute ein Phänomen "nahe an der Selbstverständlichkeit", wie es in einer Studie zu Vertreibung und Auswanderung Mitte der Neunziger heißt. Denn es galt und gilt weltweit die Faustregel: "Neun von zehn Menschen fliehen in der Regel in eines der Nachbarländer." Schon allein deshalb ist der so oft geklopfte Spruch über das Elend der ganzen Welt, das Deutschland nicht auf sich nehmen könne, perfide oder gänzlich gedankenlos.

Die Baden-Württemberger galten als Nachbarn, die sorgen sollten für ihre Nachbarn in Not angesichts von Massakern und Massenvergewaltigungen, von 200 000 Toten und fünf Mal so vielen Vertriebenen, für Menschen, die gar nicht bleiben wollten.

Thomas Schäuble (CDU), Innenminister in Stuttgart, präsentierte im April 2002 auf Drängen von Hardlinern in seiner Partei eine Bilanz, wonach die weit überwiegende Zahl der Schutzsuchenden schon wieder zurückgekehrt war in die Heimat. Von 28 000 kroatischen Bürgerkriegsflüchtlingen lebten noch ganze 320 im Land. Die meisten von ihnen, weil Unternehmer mühsam eine Duldung durchsetzen konnten, um wertvolle Arbeitskräfte nicht zu verlieren. "Der höchste Stand an Flüchtlingen aus dem Kosovo war im Juni 1999 mit rund 45 000 Personen zu verzeichnen", so Schäuble damals. Nur drei Jahre später waren zwei Drittel ausgereist, wollten am Wiederaufbau daheim mitarbeiten.

Das stille Leid der Roma aus dem Kosovo 

Die größte Gruppe unter den geduldeten Kosovaren sind schon damals Roma. Und die UNICEF vor Ort arbeitete an einer ersten Studie, mit dem bezeichnenden Titel "Stilles Leid". Als der Petititionsausschuss des Landtags im Januar 2012 in die Region reist, wird den Abgeordneten deren dritte Fortschreibung präsentiert: Ein internationales Team aus Psychologen, Ärzten und Sozialwissenschaftlern hatte Familien besucht, die 2010 aus Deutschland und Österreich abgeschoben oder rückgeführt wurden. 44 Prozent der Jugendlichen litten unter Depressionen, 25 Prozent hegten Selbstmordgedanken, überdurchschnittlich viele Mädchen brachten und bringen sich tatsächlich um, drei von vier Kindern haben keine Chance auf angemessenen Unterricht. CDU-Fraktionsmitglieder in der Delegation zweifelten vorsorglich schon mal die Zahlen an.

"Bei allen Entscheidungen über Abschiebungen, von denen Kinder betroffen sind, müssen das Wohl jedes einzelnen Kindes und seine Gesundheit im Mittelpunkt stehen", verlangt Tom Koenigs, Menschenrechtsexperte der Grünen-Bundestagsfraktionen und UNICEF-Vorstand. Kein Kind dürfe zurückgeführt werden, "wenn seine gute körperliche und seelische Entwicklung nicht sichergestellt sind". Koenigs, ein Grüner von Anfang an, könnte mal mit dem Gründungsgrünen im Amt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten telefonieren. Auch um – endlich – über eine Einwanderungsperspektive aus dem Armenhaus Europas zu reden.

Stattdessen ist Kretschmanns Koalition gerade dabei, die Abschiebungsregeln "zu verschriftlichen", wie Regierungssprecher Rudi Hoogvliet sagt. Seit Jahren verlangt die UNICEF, die Kinderrechte ins Zentrum zu rücken. Immerhin sollen – nach niedersächsischem Vorbild – Familien in Baden-Württemberg künftig nicht mehr auseinandergerissen werden und Ausbildungsabschlüsse vorrangig sein, wenn sie innerhalb eines Jahres abgelegt werden können. 

Der erste Praxistest für die neuen Regeln findet am 24. Februar in Langenargen statt. Ab fünf Uhr morgens haben sich eine Mutter und ihre drei Kinder nach der Entscheidung des Regierungspräsidiums Karlsruhe "zur Abholung und anschließenden Abschiebung nach Serbien" bereitzuhalten. Der Vater ist noch im Asylverfahren, arbeitet in einem Ein-Euro-Job bei der Gemeinde, die 15-jährige Tochter geht zur Schule. "Bundes- und Länderregierungen können nicht länger über die Lebensumstände der Roma in Serbien und anderen Ländern des Balkans hinwegsehen und ihre Abschiebepolitik in diesen Fällen fortsetzen", schreibt der Unterstützerkreis in einem offenen Brief an Bund und Land.

Delegationen lassen sich versichern, dass es keine Diskriminierung gibt 

So oft haben Delegationen aus Deutschland versucht, die Lebensumstände der Roma in Augenschein zu nehmen. Erst im Herbst ließ sich der Europaausschuss des Landtags in Belgrad und Novi Sad versichern, dass es natürlich keine Diskriminierung gibt. Innenminister Reinhold Gall (SPD) setzte sich vor Weihnachten in den Flieger, um zu sehen, wie 22 abgeschobene Flüchtlinge empfangen wurden, und um "die Behauptungen von Linken und Flüchtlingsorganisationen über die Lage auf dem Balkan" zu überprüfen. Die hielten der Realität nicht stand, wusste er nach seiner Rückkehr. "Da wurde niemand ins Nichts geschickt, wie oft behauptet", so der Sozialdemokrat und Vater von zwei Söhnen. 

Noch intensiver machte sich eben erst Bayerns Europaministerin Beate Merk (CSU) sachkundig. Sie war vergangene Woche in Pristina und Umgebung, lange 24 Stunden. Jetzt ist sie ganz sicher, dass Kosovo kein Krisenland ist, und hat sich vorgenommen, Winfried Kretschmann dazu zu überreden, sich ebenfalls davon zu überzeugen. Stattdessen sind die beiden Minister im Staatsministerium, Silke Krebs (Grüne)und Peter Friedrich (SPD), zwei Tage auf Erkundungsreise.

Für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Hilfsorganisationen ist diese Art Tourismus sinnlos in doppelter Hinsicht: Die Gastgeber wollen die Lage primär schönen, und die Besucher verdrängen das Gesehene. Daheim, in politischen Auseinandersetzungen, spielt zu vieles keine Rolle mehr. Hatten die Abgeordneten des Integrationsausschusses nicht eine zurückgekehrte Familie mit drei Kindern ohne jede Aussicht auf Schulbesuch im unmöblierten Haus gleich neben der Müllhalde besucht? Hatten sie nicht erfahren, dass ihr die Behörden sogar die eine Kuh verweigert hatten, die für einige Zeit übliche milde Gabe an Rückkehrer? Hatten sie nicht dieses Internetcafé in Peja besucht, eingerichtet mit baden-württembergischen Projektgeldern, wo noch nie ein Tropfen Kaffee geflossen war, aber ein halbes Dutzend Knaben, einige davon im Grundschulalter, Killlerspiele an den nagelneuen Rechnern spielten? "Warum seid ihr nicht in der Schule?", wollte der CDU-Abgeordnete Jimmy Zimmermann wissen. "Schule?", grinst einer breit, "das war in Deutschland." 

Viele Grüne und viele Sozialdemokraten haben über Jahre Hilfs- und Kirchenasylgruppen unterstützt, haben sich stark gemacht für Bleiberechts- und Härtefallregelungen, "die ihren Namen verdienen", so die heutige Wissenschaftsministerin Theresia Bauer in einer Landtagsdebatte 2006. So oft wurde, zur Unterstützung der einen Argumente, die Brücke in die Geschichte Württembergs und Badens geschlagen, in das 19. Jahrhundert, als die Armut Zehntausende aus dem Land trieb. "Selbst in großen Dorfschaften glaubt die gesamte Einwohnerschaft nur in der Auswanderung mit Kind und Gesind ihre Rettung zu finden", zitierte die Stuttgarter SPD-Abgeordnete Inge Utzt einmal einen zeitgenössischen Text. Wie oft wurden Petitionen unterstützt wie jene von 2009, die Diakonie, Caritas und Flüchtlingsrat auf den Weg brachten. "Trotz vielfältiger Bemühungen konnte weder die rassistische Atmosphäre in der Region entschärft noch die große wirtschaftliche Not der Roma-Minderheit gemildert werden", steht da zu lesen. 

Hilfsgelder versickern auf den Konten albanischer Clans 

Eher das Gegenteil ist der Fall. Nach einem kurzen Aufschwung für Handwerker, für Maurer oder Elektriker im Wiederaufbau wurde die wirtschaftliche Lage schlechter denn je. Milliardenschwere Hilfsgelder versickerten auch auf den Konten albanischer Clans, wurden umgeleitet nach Serbien. Dazu hatten die internationalen Geldgeber dem Land – so groß wie Belgien – mit seinen 1,8 Millionen Einwohnern einen harten Privatisierungskurs auferlegt, Griechenland lässt grüßen. Der frühere Sindelfinger SPD-OB und promovierte Wirtschaftswissenschaftler Joachim Rücker leitete als Sonderbeauftragter bis Juli 2008 sogar eine Übergangsregierung. "Nach einer Studie der Weltbank leben 50 Prozent der Menschen in Kosovo in Armut", schrieb der Balkankenner Stefan Brandhuber 2006, "und elf Prozent in extremer Armut mit weniger als einem Dollar pro Tag." Um all das kümmere sich Rücker nicht, stattdessen versuche er, "ausländische Investoren ins Land zu locken mit günstigen Anlagepreisen, Billiglöhnen und weitgehender Steuerbefreiung". Heute müssen mehr als 60 Prozent mit einem Euro und 50 Cent am Tag auskommen.

Brandhuber schrieb in dezidiert linken Medien, gab sich alle Mühe, den Blick der Deutschen auf die verheerenden Zustände im Süden des ehemaligen Jugoslawien zu lenken. Ex-Postminister Christian Schwarz-Schilling ist CDU-Mitglied seit 1960. Er hat dasselbe Anliegen, ebenfalls seit vielen Jahren, verzweifelt angesichts des Desinteresses hierzulande. Deutschland habe den Balkan komplett aus dem Blick verloren, beklagt der ehemalige Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina – inzwischen zum sicheren Herkunftsland umetikettiert –, als 2014 in Tuzla und anderswo Regierungsgebäude brennen. Er appelliert an die internationale Gemeinschaft, endlich ihrer Verantwortung gerecht zu werden.

Denn schon seit Ende der Neunzigerjahre sind großartige Ziele in UN-Resolutionen festgeschrieben, für Kosovo unter anderem die Etablierung einer unabhängigen Selbstverwaltung, die Einhaltung der Menschenrechte oder die Wiederherstellung einer Basis-Infrastruktur. EU und UN haben fast eine halbe Milliarde Euro in ein marodes Kohlekraftwerk bei Pristina investiert. Dennoch hat sogar Beate Merk auf ihrem 24-Stunden-Trip die Stromabschaltungen als Problem erkannt ("Die Energieversorgung ist immer noch nicht fit"). Wenn der Wind von der falschen Seite weht, wird der Kohlegestank beißend und der Schnee, der das Elend unter einer weißen Decke verbirgt, schnell braun. 

Grün-Rot verlangt mehr Hilfe vor Ort

Wirkliche Kenner der Lage haben die Entwicklung der vergangenen Wochen längst vorhergesagt. Immer wieder detailliert beschrieben wurden diverse Aspekte der Krise: Wie Kosovo vom Milošević-Serbien heruntergewirtschaftet wurde, die Korruption, der Frauenhandel, die Perspektivlosigkeit gerade unter den Nachkommen jener Generationen, die zurückgekehrt ist, die Ärmel aufgekrempelt hat und an eine bessere Zukunft glauben wollte. Oder die völlige Abwesenheit von Steuermoral. Oder die ökonomischen Folgen von Rückführungen und Abschiebungen. "Ein großer Teil der Menschen lebt von Geldern Zehntausender Verwandter im Ausland", heißt es in einem Schweizer Bericht. An Familien in Deutschland oder Österreich hingen, wenn auch nur ein Mitglied einen Arbeitsplatz hatte, in der Regel mehrere Verwandte in der alten Heimat, vor allem Kinder. Denn die Geburtenrate liegt über elf Prozent und ist so hoch wie nirgends sonst in Europa. Wenn eine Geldquelle versiegt, wird aus Armut bittere Armut.

Grün-Rot verlangt wie die Vorgängerregierungen mehr Hilfe vor Ort. Obwohl die so wenig gebracht hat in den vergangenen 25 Jahren. Ausgerechnet die Deutsche Botschaft glaubt, dass der Auswanderungswelle mit einer "Hauruckaktion des Bundes und der Länder" beizukommen ist: "Erst wenn eine größere Anzahl von Kosovaren medienwirksam per Sammel-Charterflieger zurückkehrt", spreche sich herum, "dass sich illegale Einwanderung nach Deutschland nicht rechnet".

Und CDU-Landeschef Thomas Strobl verfällt in die "Das Boot ist voll"-Rhetorik: "Wir können über das Asylrecht nicht die Armut in der Welt bekämpfen." Kretschmann verübelt er dessen Appell an die Kanzlerin, gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen: "Nicht Briefle nach Berlin schreiben ist angesagt." Der Ministerpräsident brauche jetzt Mumm, "um die Interessen des Landes sowie der Kommunen und Landkreise und nicht die der grünen Parteifreunde zu vertreten". Christian Schwarz-Schilling sieht das C in seiner Partei "im Laufe der Jahre verblasst". Und er warnte schon im Februar 2014 davor, dass führende Politiker Interessen und Absichten mit Polemik betreiben, "als würde unser deutsches Boot kentern, wenn mal tausend der zehntausend Leute dazukommen".


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


3 Kommentare verfügbar

  • Volkert Bahrenberg
    am 22.02.2015
    Antworten
    Vor 3 Tagen habe ich diese Mail aus dem Kosovo bekommen.
    Die Absenderin ist ein junges Mädchen, vor einigen Jahren unter dramatischen Umständen aus Kosovo abgeschoben.:
    "Sie holen sich ein Ticket für 20 Euo im Busstation Prishtina. Stegen dort ein bis nach Serbien. Da bestechen sie die meisten…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:



Ausgabe 681 / Sechs Jahre Leerstand / Uwe Bachmann / vor 19 Stunden 35 Minuten
Da hilft nur Enteignung



Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!