KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

"Alle heizen den Kessel an"

"Alle heizen den Kessel an"
|

Datum:

Die Gewaltspirale dreht sich weiter. Aber sind daran nur radikale Islamisten schuld? Der Friedensforscher Daniele Ganser sagt Nein und erinnert daran, dass die NATO einst einen serbischen TV-Sender bombardiert hat. Damals starben zehn Journalisten – und niemand hat protestiert. Ein Interview.

Herr Ganser, sind wir jetzt alle durch radikale Islamisten bedroht?

Wir sollten ruhig und achtsam bleiben. Was wirklich in Paris bei dem Anschlag auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" passiert ist, wissen wir derzeit nicht. Wenn die Polizei recht hat, haben wir es mit einer sensationell schnellen Aufklärung eines komplizierten Verbrechens zu tun. Diese Aufklärung dauerte keine 24 Stunden. Wie gelang das der Polizei? Die Killer haben angeblich "Gott ist groß" sowie "Wir haben den Propheten gerächt" gerufen. Erkannt hat die Polizei die Männer aber nicht, denn sie waren mit schwarzen Sturmmasken maskiert.

Es gibt einen Personalausweis aus dem Fluchtauto.

Das gilt nun in Europa und den USA als der durchschlagende Beweis. Ich habe mich gefragt: Warum nimmt ein Killer seinen Ausweis mit, wenn er einen Massenmord plant? Und wie konnte man mit einem Personalausweis sofort zwei Täter identifizieren? Eigentlich müsste man die Brüder Cherif und Said Kouchai, von denen die Polizei annimmt, dass sie hinter den schwarzen Sturmmasken steckten, nun ins Verhör nehmen. Das kann man aber nicht mehr, weil sie tot sind. Und schließlich muss man untersuchen, ob es nicht eine False-Flag-Operation war, welche man in diesem Fall den Muslimen in die Schuhe schiebt, um in Europa und den USA Angst und Hass zu schüren, den Überwachungsstaat weiter auszubauen und Kriege gegen muslimische Länder fortan noch besser legitimieren zu können.

Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Nach jedem Anschlag ist die Öffentlichkeit zuerst schockiert und aufgewühlt. Das ist genau das Ziel: Den Menschen vor dem Fernseher soll die Angst in Mark und Knochen fahren. Nicht nur die Toten, sondern vor allem die Beobachter der Geschehnisse sind das Ziel des Terrors. Oft werden unmittelbar nach dem Anschlag falsche Beweise präsentiert und erlogene Geschichten erzählt, welche die Menschen bereitwillig schlucken, weil sie in einem emotionalen Ausnahmezustand sind und nicht mehr in Ruhe nachdenken können.

Können Sie das belegen?

Im italienischen Peteano starben 1972 drei Polizisten bei einem Terroranschlag, der sofort der extremen Linken in die Schuhe geschoben wurde. Doch die Beweise waren gefälscht. Der Sprengstoffexperte der italienischen Polizei, Marco Morin, hatte bewusst eine falsche Expertise erstellt und behauptet, der Peteano-Sprengstoff sei jener, den auch die linke Terrorgruppe Brigate Rosse verwende. Die Massenmedien folgten dieser Expertise blind, und dadurch wurden nicht nur die Brigate Rosse, sondern auch die italienischen Kommunisten und Sozialisten diskreditiert. Es dauerte zwölf Jahre, bis der italienische Untersuchungsrichter Felice Casson die Lüge aufdeckte. Er fand heraus, dass nicht die Linken, sondern der Rechtsextremist Vincenzo Vinciguerra den Anschlag verübt hatte. Er begründete seine "Strategie der Spannung" so: "Die Anschläge sollten die Menschen, das italienische Volk, dazu bringen, den Staat um größere Sicherheit zu bitten."

Bei einem anderen Terroranschlag habe ich verfolgt, wie Pässe gefälscht worden sind: Als 1985 der französische Geheimdienst in Neuseeland das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior mit einer Bombe versenkte, reisten zwei Agenten mit gefälschten Pässen als Schweizer Ehepaar Turenge ein. Die Schweiz hatte aber gar nichts mit dem Anschlag zu tun – Schweizer waren überhaupt nicht an Bord. Geheimdienste haben keinerlei Probleme damit, Pässe zu fälschen und damit falsche Fährten zu legen, das ist ein Kinderspiel.

Eine zunehmende Radikalisierung bestimmter Milieus ist aber nicht zu übersehen.

Natürlich gibt es eine Radikalisierung, wir stecken mitten in einer riesige Gewaltspirale, und das ist alles andere als gut. Aus ihr müssen wir herauskommen, aber das geht nur, wenn wir Konflikte ohne Gewalt lösen. Wir befreien uns daraus nicht, wenn wir noch mehr muslimische Länder angreifen oder bombardieren oder in den NATO-Ländern den Überwachungsstaat ausbauen. Wir müssen uns diese Gewaltspirale in aller Ruhe anschauen. Im Nordsudan hat der muslimische Präsident Baschir alle "Nicht-Muslime" als "giftiges Ungeziefer" bezeichnet, Christen werden brutal vertrieben und auch getötet. Das ist ein Element der Gewaltspirale.

Ein anderes ist aber auch die Folter der CIA, welche kürzlich aufgedeckt worden ist. Da gibt es aber auch noch den Krieg von Frankreich und anderen NATO-Ländern gegen Libyen 2011, der 30 000 Tote forderte, die meisten davon Muslime. Und den illegalen Angriffskrieg von Großbritannien und den USA gegen den Irak 2003, der mehr als 100 000 Tote forderte, die meisten davon Muslime. Derzeit stehen die Kämpfe in Syrien und in der Ukraine im Fokus. Jede daran beteiligte Gruppe – die Christen, die Muslime, die Juden, die Hindus, die Buddhisten, die Atheisten – sollte dabei über den je eigenen Beitrag zur Gewaltspirale selbstkritisch nachdenken. Erst dann erkennt man, dass alle zusammen den Kessel anheizen. Man muss den Balken im eigenen Auge sehen – und nicht nur den Splitter in dem des Fremden.

Derlei Selbstkritik wäre wünschenswert, ist aber kaum vorhanden.

Das stimmt nicht. Es gibt diese Selbstkritik, nur wird darüber viel zu wenig berichtet. Der US-Drohnenpilot Brandon Bryant hat kürzlich eine sehr bewegende Selbstreflexion durchgemacht. Er hat 1626 Menschen getötet, nicht mit der Hand, dem Messer oder Gewehr, sondern vor seinem Monitor. In einem Fall sah er, wie ein Opfer wegen einer offenen Beinarterie verblutete. Auch Kinder und Frauen sterben in Afghanistan und Pakistan bei Drohnenangriffen, die meisten davon sind Muslime. Diesen Teil der Gewaltspirale wollen viele in Europa nicht sehen. Bryant hinterfragte sein Tun und kündigte schließlich beim Pentagon. Darüber gab es einige Beiträge in den Medien, leider aber viel zu wenige, daher kennen viele nun zwar den Begriff "Charlie Hebdo", nicht aber den Namen Brandon Bryant.

Bei aller Selbstkritik muss der Angriff auf die Pressefreiheit verurteilt werden, den die Morde in Paris offenbar intendierten.

Natürlich, die Pressefreiheit ist sehr wichtig und wird immer wieder angegriffen, zum Beispiel auch in Russland. Aber manchmal greift auch die NATO die Presse an, das blenden wir dann immer gerne aus. Am 23. April 1999 bombardierte die Nato die Redaktion des Radio- und TV-Senders von Serbien. Es gab zehn tote Journalisten, 20 Vermisste, die meisten davon verschüttet. Das Medienzentrum war damit ausgeschaltet. Damals gab es weder in Frankreich noch in Deutschland noch in den USA jemanden, der gesagt hätte, hierbei handele es sich um Terror gegen Journalisten. Man fand das regelrecht normal und korrekt – und der NATO-Sprecher erklärte dann, man habe erfolgreich einen Propagandasender ausgeschaltet. Nach dem Anschlag in Paris hat NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärt: "Die NATO-Verbündeten halten im Kampf gegen Terrorismus zusammen. Wir stehen in voller Solidarität bei unserem Verbündeten Frankreich." Eine Reflexion über den eigenen Terror ist tabu.

Wen machen Sie für diese globale Gewaltspirale verantwortlich?

Wir sind derzeit sieben Milliarden Menschen in 200 Ländern. Nur ein Prozent tötet und foltert derzeit oder gibt Untergebenen den Befehl, zu töten oder zu foltern. Das ist also eine kleine Minderheit. Die anderen 99 Prozent möchten einfach in Ruhe leben, sich verlieben, etwas Geld verdienen, in die Ferien fahren, Freunde treffen, eine Familie gründen, Musik hören, die normalen Dinge des Lebens eben. Leider kann man diese 99 Prozent aber sehr gut an der Nase herumführen. Man erzählt ihnen etwa, ihre Freiheit müsse jetzt am Hindukusch verteidigt werden. Und obwohl sie zuvor noch nie von diesem Berggebiet gehört haben, ziehen sie womöglich mit in den Krieg. 

Ist bei den Gewalttätern dieser Welt die Religion wirklich das entscheidende Moment?

Nein. Die Gewalttäter kommen aus verschiedenen Ländern und gehören verschiedenen Religionen an. Es sind aber meistens Männer. Oft geht es im Kern um den Zugriff auf Ressourcen wie Erdöl oder Erdgas, die Religionen werden dabei vor allem dazu benutzt, die Gruppen in die Gewaltspirale hineinzuführen. Und diese gewalttätigen Männer haben ganz verschiedene Weltbilder. Sie sitzen etwa in den USA und steuern – wie sie denken, im Kampf für Freiheit, Menschenrecht und Demokratie – eine Drohne im Auftrag des Pentagons. Oder sie sind Präsident im Sudan und töten die Christen – vermeintlich im Auftrag Gottes oder der Religion. Oder sie arbeiten beim Geheimdienst in Italien und manipulieren einen Terroranschlag, um die Bevölkerung zu täuschen und für die Herren, denen sie hierbei dienen, die Chancen auf Wiederwahl zu erhöhen, die Möglichkeiten sozialer Revolten im Keim zu ersticken. In jedem Fall aber behaupten sie, dass sie durch Gewalt das Böse ausrotten könnten. Doch die Friedensforschung beweist ganz klar, dass das so nicht geht. Das ist ein ganz grässlicher Irrtum. Das Böse kann niemals durch Gewalt ausgelöscht werden.

Wenn dem so ist: Was könnte und sollte man aktuell tun?

Man muss sich erinnern, dass man den 99 Prozent angehört, die keine Gewaltspirale wollen. Man sollte daher mit Mut und Ehrlichkeit für gewaltfreie Konfliktlösung und für Toleranz gegenüber anderen Religionen einstehen. Auch wenn das derzeit nicht sehr populär ist. In einer Zeit voller Angst und Misstrauen muss man Brücken bauen. Wer einen Muslim kennt, sollte zu ihm gehen und ihn umarmen, oder wenn das nicht geht, ihm die Hand geben und ein freundliches Wort austauschen. Wir haben mehr als zwei Milliarden Christen und mehr als 1,5 Milliarden Muslime auf der Welt. Es hat also offensichtlich gar keinen Sinn, wenn diese beiden großen Gruppen nun gegeneinander in den Kampf ziehen.

 

Daniele Ganser ist Schweizer Historiker, spezialisiert auf Zeitgeschichte seit 1945 und internationale Politik. Seine Forschungsschwerpunkte sind Friedensforschung, Geostrategie, verdeckte Kriegsführung, Ressourcenkämpfe und Wirtschaftspolitik. Er unterrichtet an den Universität St. Gallen und Basel und leitet das Swiss Institute for Peace and Energy Research (SIPER) in Basel.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


18 Kommentare verfügbar

  • Alexander Meier
    am 17.11.2015
    Antworten
    Danke für dieses Interview mit Historiker Ganser.
    Er hat wichtiges zu sagen was man leider zu selten hört.
Kommentare anzeigen  

Neue Antwort auf Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!