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"Das Miteinander ist zerbrechlich"

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Finanzminister Nils Schmid (SPD) ist Frankreich-Kenner und verheiratet mit einer Deutschtürkin. "Wir müssen uns gegen die Hetzer auf beiden Seiten stellen", sagt er vor dem Hintergrund des Attentats auf die Redaktion der Pariser Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" im Kontext-Interview.

Herr Schmid, was ist falsch gelaufen in Frankreich?

Frankreich hat den Weg der Integration vor allem über die Staatsbürgerschaft gewählt, über die Stärkung der rechtlichen Position und der politischen Rechte. Die wirtschaftliche Integration über Ausbildung und Beruf ist aber vielerorts anders als bei uns nicht gelungen.

Und sie war von Nicolas Sarkozy, zuerst als Innenminister und dann als Präsident, nicht gewünscht. Der wollte gegen auffällig gewordene Jugendliche in Pariser Vororten mit dem Kärcher vorgehen und hat mit zur Spaltung der Gesellschaft beigetragen.

Da gebe ich Ihnen völlig recht. Bei uns ist die Situation eine andere. Der Bundeskanzlerin ist kein Vorwurf zu machen. Sie hat sich des Themas Zuwanderung und Integration angenommen, nachdem unter Gerhard Schröder durch das neue Staatsbürgerschaftsrecht neue Voraussetzungen für das Zusammenleben geschaffen wurden. Es mag noch Mitglieder oder auch Wähler der CDU und der CSU geben, die sich schwertun. Aber Angela Merkel hat niemals versucht, anders als Sarkozy, Wasser auf die eigenen politischen Mühlen zu lenken.

Muss nicht dennoch oder gerade deshalb auch mehr über die Integrationsleistung geredet werden, die die Mehrheitsgesellschaft zu erbringen hat?

Wir müssen uns auf jeden Fall gemeinsam gegen die Verunsicherer, gegen die Hetzer auf beiden Seiten stellen. Frauen mit Kopftüchern an der Supermarktkasse oder im Büro sind eine Realität in Deutschland. Bis diese Realität aber zur Selbstverständlichkeit wird, dauert es noch mindestens eine Generation. Wir sollten dafür einstehen, dass ein Kopftuch nicht automatisch Ausdruck einer Islamisierung ist, sondern Muslime zu uns in Baden-Württemberg gehören. 

Wie viele Menschen ohne Zuwanderungsgeschichte in Ihrer Umgebung können einen hohen muslimischen Feiertag nennen?

Wahrscheinlich nicht all zu viele. Der Ramadan als Fest ist bekannt, aber kaum mehr.

Wieso ist das so?

Weil trotz mehrerer Generationen von Einwanderern der Islam in Deutschland erst in den vergangenen Jahren wirklich sichtbar geworden ist. Deutschland, natürlich auch Baden-Württemberg, ist ein christlich geprägtes Land, und der Jahresrhythmus wird durch christliche Feste geprägt. 

Dennoch hätte im Zusammenleben auch ein größeres gegenseitiges Interesse wachsen können oder sogar müssen.

Am Arbeitsplatz oder im Sportverein ist das auch vorhanden und selbstverständlich. Richtig ist, dass private Kontakte darüber hinaus noch lange keine Selbstverständlichkeit sind. Das gegenseitige Interesse muss weiter wachsen, auf beiden Seiten. Ich erinnere mich, dass mir meine Frau, als wir uns kennenlernten, erzählt hat, wie die weihnachtliche Stimmung an ihrem Leben vorbeigeht. Das ist umgekehrt ähnlich. Denn viele religiöse Feste werden vor allem in den Familien gefeiert. Der Brückenschlag ist ein privater.

Könnten symbolische Gesten helfen, etwa ein bundesweiter muslimischer Feiertag?

Da wäre ich vorsichtig. Ein muslimischer Feiertag muss nicht sein, Symbole aber schon. Viele muslimische Gemeinschaften laden ihre Nachbarn zum Fastenbrechen ein, dem Iftar, und wir als Landesregierungen messen dem einen hohen Stellenwert zu. Die Regierungsspitze ist beteiligt, auch beim jüdischen Chanukka-Fest nimmt die Regierung teil. Viele Bürgermeister und Bürgermeisterinnen wünschen in den Gemeindeblättern einen gesegneten Ramadan. Solche Zeichen kann jeder setzen. Solche konkreten Begegnungen brauchen wir.

Wie erleben Ihre Schwiegereltern die Mehrheitsgesellschaft?

Aufgeschlossen und durchaus weltoffen. Das zeigt sich ja auch an der Aufnahmebereitschaft von Flüchtlingen. Natürlich wird wahrgenommen, was viele da leisten. Gerade das Verhältnis der ersten Generation, der Gastarbeiter wie meine Schwiegereltern, ist bis heute von großer Dankbarkeit geprägt. Es mag noch immer Schwierigkeiten bei vielen bis heute mit der deutschen Sprache geben. Aber es gibt eine große Zufriedenheit, in einem Land zu leben, in dem das eigene Leben nicht gefährdet ist, das einen Arbeitsplatz geboten hat und die Chance, selbst für den Lebensunterhalt zu sorgen.

Fühlen sie sich in Deutschland zu Hause?

Das würde ich nicht sagen. Aber sie sind auch stolz, hier zu sein. Und Gesten sind von großer Bedeutung. Sie waren als Gastarbeiter der ersten Stunde eingeladen im Kanzleramt. Das war ein sehr wichtiges Erlebnis.

Wie schätzen Sie die Situation in der zweiten oder dritten Generation ein?

Differenziert. Meine Frau ist natürlich in Deutschland zu Hause und unsere Kinder ohnehin. Aber Nine-Eleven und die NSU-Mordserie haben nach meiner Einschätzung tiefere Spuren hinterlassen, als sich viele klarmachen. In der Mehrheitsgesellschaft und unter Zuwanderern. Das Miteinander ist zerbrechlich. Ich werde den Morgen im November 2011 nicht vergessen, an dem wir zum ersten Mal von den Taten des Nationalsozialistischen Untergrunds in der Zeitung gelesen haben. "Müssen wir jetzt Angst haben?", hat meine Frau gefragt, die seit 40 Jahren hier lebt.

Kein gutes Zeugnis nach so vielen Jahren Einwanderung nach Deutschland. Wie kann es stabilisiert werden?

Indem wir uns ein Beispiel an der Integrationsleistung in den Betrieben nehmen. Die wird zu wenig beachtet. Das selbstverständliche Miteinander am Arbeitsplatz gehört in den Mittelpunkt gerückt und aus den Betrieben herausgetragen. Auch was die politische Partizipation anbelangt. Ich treffe viele Betriebsräte und Gewerkschafter, deren Familien zugewandert sind. Die Sozialpartner fördern das Miteinander, das gegenseitige Verständnis, auch die demokratische und die politische Teilhabe. Und es gibt längst erfolgreiche Unternehmer mit einer Zuwanderungsgeschichte. Alles Anknüpfungspunkte, um zu verdeutlichen, wie unbegründet Ängste sind. Darüber müssen wir reden, reden, reden.

Sie sind der Hüter des Haushalts. Sie könnten neues Geld in die Hand nehmen und Programme auflegen, die das gegenseitige Verständnis befördern. 

Aber das tun wir in der Bildungspolitik doch, und das werden wir weiter tun. Auch wenn zusätzliche Mittel nötig werden. Wir müssen über Bildung die Teilhabe stärken. Und wir müssen klarmachen, dass es falsch ist, Abstiegsängste auf Zuwanderer zu projizieren. Eine ordentliche Bildung und Ausbildung sind ein Garant für ein besseres Zusammenleben, und zumal da, wo Menschen für eigene Ängste allein Dritte verantwortlich machen wollen.

 


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5 Kommentare verfügbar

  • Wilfried Haselberger
    am 17.01.2015
    Antworten
    Die vorgehenden Kommentare sprechen für sich.Da scheinen sich ein paar auf die Kontextseiten verirrt zu haben.
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