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Puzzlestücke für den NSU-Ausschuss

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Die ermordete Heilbronner Polizistin Michèle Kiesewetter und ihr schwer verletzter Kollege gelten bisher als Zufallsopfer des Nationalsozialistischen Untergrunds. Seit im November 2011 der NSU aufflog, sind allerdings so viele Fakten zusammengetragen worden, dass diese Theorie inzwischen an ein Kartenhaus kurz vor dem Einsturz erinnert. Viele Ermittlungsergebnisse könnten neu sortiert werden, wenn es dem neuen Untersuchungsausschuss im Landtag gelingt, an weitere Akten zu kommen.

Die offizielle Lesart lautet bisher so: "Nach den vorliegenden Informationen rechnet der sachleitende Generalbundesanwalt den Mord und versuchten Mord in Heilbronn gesichert dem NSU zu. Auf die Beamtin und ihren Streifenpartner haben hiernach Mundlos und Böhnhardt geschossen. Die Tat hat sich [...] gegen Zufallsopfer gerichtet. [...] Eine wie auch immer geartete Vorbeziehung konnte nicht festgestellt werden." Allein der letzte Satz bringt all jene in Wallung, die vorliegende Indizien anders werten. Die nicht hinnehmen wollen, dass entscheidende Akten bis heute unter Verschluss sind, dass Verfassungsschützer viele Antworten verweigern konnten und dass sich so viele scheinbare Zufälle um den Tattag im April 2007 zusammenhanglos aneinanderreihen sollen.

Aber nicht nur diese amtliche Bewertung der Heilbronner Ereignisse hat in der parlamentarischen Durchleuchtung eine heikle Bewährungsprobe vor sich. Die Untersuchungsausschüsse im Bund und in Thüringen haben dicke Wälzer mit über 3000 Seiten als Abschlussberichte vorgelegt, in denen die Komplexe Kiesewetter und Ku-Klux-Klan in Baden-Württemberg immer wieder zu Sprache kommen. Nicht ohne den Hinweis allerdings, dass aufgrund der Vielzahl der Taten und der Notwendigkeit, andere Schwerpunkte zu setzen, relevante Nahtstellen zu den Verbindungen in den Südwesten nicht ausreichend beleuchtet werden können.

Eine weitere wichtige Rolle wird in den nächsten Wochen und Monaten der Bericht der Ermittlungsgruppe Umfeld spielen, die SPD-Innenminister Reinhold Gall im März 2013 eingesetzt hatte. Neue Zeugen aus den Reihen von Polizei und Staatsanwaltschaft, Landeskriminalamt und Verfassungsschutz werden sich konfrontieren lassen müssen mit den auf 300 Seiten formulierten Erkenntnissen. Denn die EG Umfeld hatte einen ebenso klaren wie weitreichenden Auftrag: "Sie erhellt die Bezüge des NSU und dessen Umfeld zu Personen aus Baden-Württemberg; identifiziert potenziell relevante Personen und klärt ehemalige und mögliche aktuelle Strukturen der rechten Szene im Sachzusammenhang auf; bearbeitet Ersuchen und Spuren des BKA aus den Verfahren des GBA mit Bezügen nach Baden-Württemberg; prüft Verbindungen der 'European White Knights of the Ku Klux Klan' (EWK KKK) Baden-Württemberg zum NSU und klärt darüber hinaus die aktuellen Strukturen des Ku-Klux-Klans in Baden-Württemberg auf." Nicht nur die Experten der baden-württembergischen Grünen sehen diesen Auftrag als nicht wirklich erfüllt an.

Mit "mit hoher Akribie und nach bestem Wissen", schreiben dagegen die Autoren des Berichts, sei man vorgegangen. 500 bereits erfasste Spuren und 180 neue wurden kontrolliert und 260 Maßnahmen veranlasst, "darunter vor allem Befragungen und Auswertungen". In rund 60 Fällen steht das Ergebnis noch aus. Hinzu kommen Nachlässigkeiten – jedenfalls aus heutiger Sicht – gerade in Heilbronn. So ist zum Beispiel als "schweres Versäumnis" identifiziert, dass ein E-Mail-Account von Michèle Kiesewetter unausgewertet gelöscht wurde. Blutige Taschentücher vom nahen Neckarstrand sind als nicht tatrelevant eingestuft und die Listen der Kontrollstellen "zu spät" durchforstet worden.

Das Wohnmobil mit Chemnitzer Kennzeichen, das als Fluchtfahrzeug gilt, durchfuhr am Tattag im Landkreis Ludwigsburg eine dieser Kontrollstellen. "Insgesamt wurden im Rahmen der Ringalarmfahndung in Heilbronn ca. 34 000 Kfz-Kennzeichen erfasst", heißt es außerdem, "eine detaillierte Überprüfung aller Kennzeichen sowie deren Halter und Nutzer ist ohne weitere Ermittlungsansätze weder vorgesehen noch verhältnismäßig oder tatsächlich leistbar." Heute ist zudem bekannt, dass der Mietvertrag des Fahrzeugs verlängert wurde. Der lief ursprünglich nur von 16. bis 19. April 2007, dann aber bis zum 26. April, dem Tag nach der Tat. Für Insider noch ein Indiz gegen die Zufallstheorie und überhaupt gegen die bisherige Annahme der Ermittler, Böhnhardt und Mundlos seien nur nach Heilbronn gekommen, "um die eigene Macht zu demonstrieren und gleichzeitig die Ohnmacht des Staates bloßzustellen".

Noch gravierender, gerade für die Bremser in der SPD, sind die Schlussfolgerungen von Thüringer Landtagsabgeordneten der Linken und der Grünen. Im Minderheitenvotum der beiden damaligen Oppositionsfraktionen werden mehrere Aspekte der Verbindungen nach Baden-Württemberg aufgegriffen, und vor allem wird ein Untersuchungsausschuss auch im Südwesten dringend anempfohlen. Der Verweis von SPD-Abgeordneten auf die umfangreichen Bemühungen des Bundestagsuntersuchungsausschusses als Argument gegen den Rat aus dem Osten gehört ohnehin in die Mottenkiste. Denn mittlerweile ist Allgemeingut, dass der sich zu den Vorgängen in Heilbronn bestenfalls einen Überblick verschafft. Ein Detail von vielen: Die zuständige Sonderkommission Parkplatz hatte im Laufe der Zeit drei Vorsitzende. Nur einer wurde in Berlin tatsächlich als Zeuge gehört.

Ohnehin wird viel vom weiteren Vorgehen führender Sozialdemokraten abhängen. Bisher war – selbst hinter den verschlossenen Türen des Landesvorstands – die Losung ausgegeben, SPD-Innenminister Reinhold Gall müsse auf jeden Fall geschützt werden vor heiklen Fragen zu Komplexen, die bis in seine Amtszeit reichen. Mit Wolfgang Drexler, dem Landtagsvizepräsidenten, wird zwar ein von allen Fraktionen respektierter Abgeordneter den Vorsitz übernehmen, der aber nie ein glühender Befürworter weiterer Untersuchungen war. Und Fraktionschef Claus Schmiedel meinte auch schon, seine "persönliche Meinung" zu Protokoll geben zu müssen, dass Neues kaum zu erwarten sei. Er könnte sich erheblich täuschen, wenn die Abgeordneten Mittel und Wege finden, an bisher unter Verschluss gehaltene Dokumente und an Verfassungsschützer heranzukommen.

In Thüringen jedenfalls erzählte eine als nervös beschriebene Freundin der Erschossenen und ehemalige Lebensgefährtin von deren Onkel den Abgeordneten eine Begebenheit wie aus einem schlechten "Tatort"-Drehbuch. Kurz vor ihrer – öffentlich nicht angekündigten – Vernehmung durch das BKA habe sie "zu Hause Besuch von zwei bürgerlich gekleideten Herren mittleren Alters erhalten, die ihr nahegelegt hätten, sich nicht so sehr zu erinnern". Einzelheiten, so das Protokoll weiter, hätten diese Personen nicht gesagt, aber sie habe sich vorstellen können, um was es gegangen sei. Das Gespräch habe sie auf ein Minimum beschränkt und die beiden auch nicht in ihre Wohnung hereingebeten. Sie habe schon mitbekommen, dass es "keine Leute von der Straße" gewesen seien, und könne sich vorstellen, dass es sich um Mitarbeiter des Verfassungsschutzes gehandelt habe.

"Gänzlich im Dunkeln liegen die Motive des Mordes an Michèle Kiesewetter und des versuchten Mordes in Heilbronn", urteilt der Grüne Dirk Adams im Juli 2014 in seiner Bewertung der Erfurter Ausschussergebnisse. Und weiter: "Bislang wurden mehrere Hypothesen aufgestellt, die diesbezüglich einen denkbaren Bezug zu Thüringen herzustellen versuchen; jedoch konnte keine dieser Theorien in befriedigender Weise ausgeschlossen oder bestätigt werden." Spätestens mit der Vorlage dieser Zeilen hätte die Arbeit in Baden-Württemberg noch einmal neu beginnen müssen. Wie hatte Gall so treffend formuliert in seiner Begründung für die Einsetzung der EG Umfeld: "Wir wollen Puzzlestücke für eigene Ermittlungsansätze untersuchen." Noch im November wird der baden-württembergische Landtag damit beginnen.


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7 Kommentare verfügbar

  • tillupp
    am 03.11.2014
    Antworten
    Hier noch ein Hyperlink zum Thema, m.e. sehr schön aufgearbeitet: http://machtelite.wordpress.com/2011/11/21/der-suizid-von-bohnhardt-und-mundloswas-geschah-am-4-11-in-eisenach/
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