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Hingehen, wählen!

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Das Ansehen von Politikern und Politik befindet sich auf Talfahrt. Viele Leute erkennen darin nicht einmal mehr ein notwendiges Übel und wollen deshalb auch am Wahlsonntag daheimbleiben. Die Vorstellung, dass damit irgendetwas besser würde, ist aber falsch.

Die Verächter und Schlechtredner, die falschen Propheten, die Possenreißer, die Gurkenkrümmungsteckenpferdreiter haben wieder Konjunktur. Wahlen nahen. Da ist kein Vorwurf zu abgedroschen, keine Ausrede zu billig und/oder selbstgerecht, um die antretenden Politiker abzuqualifizieren und den Urnengang als solchen gleich mit. In bestimmten Kreisen. Wären diese Kreise klein, wäre das Problem kein großes. Sind sie aber nicht (mehr). Interesse an gesellschaftlichen Verhältnissen, an ideologischen Unterschieden und demokratischen Zusammenhängen zählt nicht mehr zum guten Ton. Das junge Paar aus dem Stuttgarter Süden kann ausgiebig dartun, dass und warum der schokoladenbraune Porsche besser zum Lebensentwurf passt als ein schwarzer BMW, nach welchen Kriterien Kurzurlaube ausgewählt und Designerlampen angeschafft werden. Aber mitmachen bei der Wahl der Gemeinderäte? Kopfschütteln, zu kompliziert, Politik ist "etwas für die, die sich das antun wollen". Und die Europäische Union hat ohnehin Kontur und Anziehungskraft verloren in diesem mit lässiger Hingabe fabrizierten Gebräu aus Vorurteilen, Halbwahrheiten, Besserwisserei und Ahnungslosigkeit.

Da sind die einen, die modernen, mobilen, polyglotten Politikverweigerer, die darauf setzen, dass andere das lästige demokratische Geschäft für sie mit erledigen, die auf ihrer Festplatte keinen Platz mehr frei räumen wollen für das große Ganze. Die anderen, die noch schlimmeren, sind die Eiferer, die ihr Gift gegen alle Parteien und alle Politiker verspritzen. Dass es einen Unterschied machen soll, ob in Stuttgart grün oder rot oder schwarz oder sonstwie regiert wird, können sie nicht begreifen – oder es ist ihnen ohnehin egal. Zwei Länder unserer Nachbarn kennen diese Probleme nicht: Luxemburg und Belgien. In beiden ist Wahlpflicht, und die Beteiligung liegt seit den ersten EU-Wahlen stabil bei über 90 Prozent. In den ärmsten Regionen der Welt stehen Menschen freiwillig stundenlang Schlange in sengender Hitze, um ihre Stimme abzugeben – auch in der verzweifelten Hoffnung auf ein kleines Stück vom besseren Leben. Wohlstand frisst Gemeinwohlinteresse. Wir haben offenbar fast alles, und was wir noch nicht haben, meinen wir, kann uns die Politik auch nicht verschaffen.

Meine Stimme. Mein Anspruch. Mein Vorteil.

Irgendwann seit den Siebzigern haben der Wahlakt selbst und die Vorbereitung darauf eine unheilvolle Metamorphose durchlaufen. Es war einmal eine Zeit, in der mit Haltung Haltungen gewählt wurden. Menschen gaben ihre Stimme denen, die nach ihrer Meinung die Gesellschaft am ehesten weiterbringen wollten und konnten, sie wählten eher links, eher bürgerlich, eher liberal, seit 1980 auch grün – und weniger oder gar nicht mit der egoistisch-larmoyanten Frage im Kopf: Welche Partei bringt mir persönlich was? 16 Jahre Kohl und vor allem der galoppierende Neoliberalismus bewirkten, dass sich Entpolitisierung einnistete in vielen Familien, im Freundeskreis und am Arbeitsplatz. Wählen gehen wird abgetan als törichtes Tun naiver Zeitgenossen, die einfach nicht blicken, wie schlimm das wirklich ist mit der Politik und den Politikern, sei es in der eigenen Gemeinde, sei es in Europa. Zu Zeiten der großen Bewegung gegen Stuttgart 21 war das wieder anders in und um die Landeshauptstadt herum; politisches Engagement gewann Ansehen zurück. Dass die Enttäuschung über Ausgang und Interpretation der Volksabstimmung durch die Landesregierung gleich auch noch die Wahlbereitschaft mit in die Tiefe reißt, das aber hat die Demokratie nicht verdient.

Vor Jahrzehnten begann die EU als EWG, ohne Wahlrecht und ohne Parlament. Längst gibt es beides, der Einfluss der Abgeordneten ist so groß wie nie zuvor. Und diesmal bestimmt die Wählerschaft – jedenfalls sehr wahrscheinlich – mit ihrer relativen Mehrheit, wer der nächste Chef der Europäischen Kommission wird. Die Medien – Verächter, aufgepasst! – bearbeiten das Thema Europa seit Wochen mit mehr oder minder großer Intensität. Seitenlang wird über Europa informiert, es gibt Talkshows, sogar in aufgeheizter Stimmung, Infosendungen, Magazine, Diskussionsrunden mit Spitzenkandidaten, auch zur besten Sendezeit. Wer sich informieren will, der kann. Und Demokratie so zu verstehen, dass dem Wähler alles zufliegt, zufliegen muss, ist ein gefährliches Missverständnis.

Prognostiziert ist eine historisch niedrige Wahlbeteiligung – bei allen vier Wahlen zu Gemeinderat, Region in Stuttgart, Kreistag und Europa. Ausgerechnet jene Räte, die wirklich nah an den Menschen sind, die sie vertreten, verlieren so an Legitimation. Für eine absolute Mehrheit reicht wegen der Abstinenz vieler Bürger und Bürgerinnen weniger als ein Viertel der Bevölkerung. Das Schlimmste aber ist: Wer der Europawahl fernbleibt, wählt automatisch rechts, ob er will oder nicht. Den Rattenfängern mit ihren falschen Rezepten sind dank ihrer Mobilisierungsfähigkeit Triumphe vorhergesagt, in Frankreich oder in Ungarn, die Schockwellen schicken werden durch den Kontinent. Zu einer Zeit, da an so vielen Orten Patriotismus in Chauvinismus umschlägt und alte Träume von Macht und schierer Größe sogar die Gefahr eines Krieges heraufbeschwören. Bei den Europagegnern, den Europaabschaffern und jenen mit dem Slogan "Raus aus dem Euro" wäre Europa in den allerschlechtesten Händen.

Was dagegen tun? Hingehen!


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17 Kommentare verfügbar

  • Andi
    am 25.05.2014
    Antworten
    Alle wichtigen Entscheidungen werden in den Chefetagen der Banken und Konzerne getroffen und nicht in Parlamenten. Und dies ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Profitoptimierung. Das Europaparlament ist dabei noch machtloser als jedes nationale Parlament - es hat nicht mal ein Initiativrecht…
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