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Anonyme Truppe, die alles darf?

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Die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg will eine Kennzeichnungspflicht für Polizisten. Die Polizeigewerkschaften laufen dagegen Sturm und sehen sich "unter Generalverdacht gestellt". Dabei hat just ein Ereignis in Stuttgart jede Menge Argumente dafür geliefert, dass Ordnungshüter identifizierbar sein sollten: der Schwarze Donnerstag. Für den Hamburger Polizeiprofessor Rafael Behr ist das nicht zuletzt eine Frage des Selbstschutzes.

Herr Behr, 156 Verfahren gegen Polizisten im Zusammenhang mit dem Polizeieinsatz vom 30. September 2010 wurden eingestellt, weil die Polizisten nicht identifiziert werden können. Ist das rechtsstaatlich ein Problem?

Juristisch nicht, es kann immer Gründe der Verfahrensökonomie geben, um ein Verfahren einzustellen. Wenn man den Rechtsstaat als Gerechtigkeitsstaat versteht, der zu Transparenz verpflichtet ist, und man Straftaten nicht verfolgen kann, nur weil man die Leute nicht erkennt, dann ist das ein Problem für die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Wenn dann die Gewerkschaften der Polizei sagen, es gäbe kein Problem mit der Identifikation von Polizeibeamten, ist das zynisch. Es sind ja keine Freisprüche wegen erwiesener Unschuld, sondern es ist die Unmöglichkeit der Identifizierung von Tatverdächtigen, die den Fortgang des Verfahrens verhindert.

Was wäre mit den Polizisten geschehen, wenn sie identifizierbar wären?

Sie wären den Gang durch das Ermittlungsverfahren gegangen. Sie wären vernommen worden, es wären Beweise gesichert worden, und dann wäre entschieden worden, ob Anklage erhoben wird oder nicht. Oder ob etwa wegen geringer Schuld eingestellt wird. Ich finde ja, die Fürsorge des Dienstherrn kann nicht darin bestehen, Verfahren zu verhindern, sondern sie zu ermöglichen und dann die Betroffenen zu begleiten, die Beschuldigten so zu unterstützen, dass ein faires Verfahren möglich ist.

Es kommt ja schon, wenn man Polizisten identifizieren kann, nicht zwingend zu Verfahren.

Ja, oder wenn es zu Verfahren kommt, wird Polizisten etwas mehr geglaubt. So langsam entsteht doch in der Öffentlichkeit der Eindruck: Polizei im geschlossenen Einsatz ist eine anonyme Truppe, die alles darf. Wenn es um 156 eingestellte Verfahren geht, kann man nicht mehr von Einzelfällen sprechen.

Warum muss sich der Bürger ausweisen, der Polizist nicht?

Das ist eines der Geheimnisse des staatlichen Gewaltmonopols in Zentraleuropa. Der Staat genießt eine Vormachtstellung, er darf kontrollieren, lässt sich selbst aber nicht gerne von der Bevölkerung in die Karten schauen. Das ist anders als im angloamerikanischen Raum. Dort wird der Sheriff von den Bürgern gewählt. Wir leben staatstheoretisch immer noch in der Tradition des aufgeklärten Absolutismus, da wird davon ausgegangen, dass etwa das Verhalten der Polizei rechtsstaatlich immer in Ordnung ist, weil es vom Staat ausgeht, und keiner weiteren Kontrolle mehr bedarf.

Ist das ein vordemokratisches Privileg der Polizei?

Exakt, der Staat ist quasi etwas Sakrosanktes, er steht über allen Zweifeln. Diese Vorstellungen finden Sie in vielen Argumenten der Gegner der Kennzeichnung von Polizeibeamten, wenn sie zum Beispiel vom "Generalverdacht" sprechen, der mit einer Kennzeichnung verbunden sei.

Grüne und SPD haben in Baden-Württemberg im Koalitionsvertrag vereinbart, dass eine "individualisierte anonymisierte Kennzeichnung" von Polizisten bei "Großlagen" eingeführt wird. Was halten Sie davon?

Das halte ich für unbedingt notwendig. Auch im Sinne der Polizei. So, wie es jetzt ist, gibt es bei "Großlagen", also bei Demonstrationen, keine individuelle Identifikation und damit keine individuelle Verantwortung. Im Verdachtsfall wird nicht der eine Beamte, der einen Übergriff begangen hat, sondern es werden neun oder zehn Beamte mit dem Vorwurf des Übergriffs konfrontiert. Wenn es überhaupt so weit kommt.

Bislang wurden in Baden-Württemberg Polizisten bei Großlagen so gekennzeichnet, dass sie einer Zehnergruppe von Beamten zugeordnet werden können. Reicht das aus?

Dann stehen immer alle zehn am Pranger. Da hilft eine siebenstellige Nummer, die mit dem Handy fotografiert werden kann. Jeder Polizist, auch im Getümmel, ist für das, was er tut, individuell verantwortlich. Wenn der Polizist von vorneherein weiß, dass er bei Großlagen durch Anonymität geschützt ist, läuft das auf eine Paramilitarisierung der Polizei hinaus. Es geht bei der Identifikation um die Rekonstruierbarkeit von Verantwortung.

Rüdiger Seidenspinner, Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, will gegen die von der baden-württembergischen Landesregierung geplante Kennzeichnung klagen. Auch Joachim Lautensack, Landeschef der Deutschen Polizeigewerkschaft, ist dagegen.

Das gehört zum traditionellen Selbstverständnis der Berufsorganisationen, die glauben, ihre Mitglieder schützen zu müssen. Sie rufen: Wir werden zu Unrecht verfolgt, wir werden unter Generalverdacht gestellt. Die Begründung für die Drohung mit Klagen ist immer die informationelle Selbstbestimmung und die Angst vor Nachstellung im Netz, dahinter steht die Vermutung, dass durch die Nummer, die der Beamte trägt, eine persönliche Identifizierung durch Leute, die dazu nicht befugt sind, möglich ist, und der Polizist dadurch in Gefahr gerät. Wir wissen, z.B. aus Berlin, dass dem nicht so ist. Wer anonym ist, hat heutzutage sogar einen Nachteil, er kann nicht entlastet werden, er hat etwas zu verbergen. Dieser Vorwurf wird nicht ganz zu Unrecht gegen die Polizei erhoben.

Angesichts der eingestellten Verfahren rund um den "schwarzen Donnerstag" kann man doch sagen: Die Gegner der Identifikation vertreten die Interessen der Polizisten.

Aber lange nicht die aller Polizisten. Außerdem funktioniert das nur kurzfristig. Auf Dauer wird das Ansehen der Polizei schwer geschädigt. Es werden sich die sozial wacheren jungen Menschen nicht mehr für diesen Beruf interessieren. Wer will schon in einem gewaltgeneigten Beruf arbeiten? Das werden dann wieder bestimmte Leute sein, die gern anonymisiert und gesellschaftlich isoliert arbeiten wollen. Diese mittel- und langfristigen Folgen für die Reputation des Berufs haben die Gewerkschaften nach meinem Eindruck nicht im Blick. Für eine demokratisch legitimierte Polizei ist das ein Desaster.

Berlin und Brandenburg haben eine Kennzeichnungspflicht. Wie sind die Erfahrungen?

Im Einzeldienst tragen die Beamten Namensschilder, sonst Nummern. Es gibt eine empirische Untersuchungen, dabei wurden über 200 Bereitschaftspolizisten befragt: Es ist nichts Negatives passiert. Es gab keine unberechtigten Anzeigen, es wurde niemand über seine Nummer im Internet oder sonst irgendwo identifiziert. Und das in einer Metropole wie Berlin. Es gab Gegrummel unter den Polizisten wegen des bürokratischen Aufwands, aber es gibt eine steigende Zahl von Polizisten, die das nicht mehr so vehement ablehnen.

In anderen Demokratien funktioniert das auch.

In England hat jeder Bobby seine Ziffer und keiner fühlt sich dadurch zu einer Sache degradiert. Andere Demokratien haben kein Problem damit.

Was bedeutet die Anonymität für das Selbstverständnis des deutschen Polizisten?

Sie suggeriert Sicherheit in Situationen, in denen es nicht gut ist, sich sicher, unbeobachtet zu fühlen. Es hemmt die Übernahme individueller Verantwortung. Dabei ist unser Ausbildungssystem stark darauf ausgerichtet, dass Polizisten selbstverantwortliche Entscheidungen treffen. In geschlossenen Einheiten entfällt das, damit auch Verantwortung und Selbstkontrolle.

Selbstkontrolle in dem Sinn, dass sich der Polizist bewusst ist, was er tut.

Ja. Und die Folgen des eigenen Handelns mit bedenkt. Es gibt gruppendynamische Prozesse in geschlossenen Abteilungen, da handeln Polizisten anders, als sie handeln würden, wenn sie alleine wären. Da entstehen auch Situationen, in denen die Polizisten froh sind, nicht identifizierbar zu sein.

Drückt sich in dieser Anonymität das Verhältnis der deutschen Polizei zum Staat aus?

Es drückt sich die starke Orientierung des Handelnden an der Staatsräson aus, Polizei wird dann leicht zum einem Instrument von autoritärer "Law and order"-Politik. Da entsteht eine Situation, in der sich niemand mehr bemüht, die Diskrepanz zwischen Staat und Zivilgesellschaft auszugleichen. In den 90er-Jahren war diese Atmosphäre des Interessenausgleichs zwischen Staat und Gesellschaft in der Polizei spürbarer, denken Sie an die großen Themen wie Frieden und Umwelt. Die Polizei hat es damals geschafft, sich aus der Rolle des bloßen Vertreters staatlicher Repression zu lösen. Nach Stuttgart 21 sehe ich diesen Erfolg wieder eher gefährdet.

Und was bedeutet die Anonymität der Polizei für den Bürger?

Die Nichtsichtbarkeit des Staates im Sinne einer fehlenden Kontrollierbarkeit. Der Bürger sieht die Polizisten, also den Staat, aber er kann ihn nicht kontrollieren. Der Staat hat kein Gesicht. Das erzeugt ein Gefühl der Ohnmacht, größere Angst vor dem Staat. Das hohe Ansehen, das die Polizei in Umfragen hat, resultiert aber nicht aus dem rigorosen Gebrauch des Gewaltmonopols, sondern im angemessenen Umgang oder auch im Verzicht auf Gewalt. Wenn ich das wegnehme, bekommen Bürger wieder die Angst vor der Polizei, wie sie mal vor 40 Jahren da war.

Wird sich am Selbstverständnis und am Handeln durch die Kennzeichnung der Polizisten etwas ändern?

Da kann man nur Vermutungen anstellen. Ich vermute, dass der Bezug auf individuelle Verantwortung größer wird. Gerade bei geschlossenen Einsätzen. Mit Kennzeichnung würde vermutlich die Verantwortung für individuelles Handeln stärker im Bewusstsein verankert. Umgekehrt kann das heißen, dass Polizisten ohne Kennzeichen für Handeln im geschlossenen Einsatz weniger Verantwortung übernehmen. Das wäre schädlich.

Der Menschenrechtskommissar des Europarats sowie Bürgerrechtsorganisationen wie Amnesty oder die Humanistische Union fordern neben der Kennzeichnung eine "unabhängige Kontrollinstanz zur Untersuchung von Polizeigewalt". Was halten Sie davon?

"Polizei-Beauftragte" würde mir als Bezeichnung besser gefallen. Auch das halte ich für ein Merkmal, das für eine demokratische Polizei unabdingbar ist. Dient, wie die Identifizierung, nicht nur der Kontrolle der Polizei, sondern auch ihrem Schutz vor ungerechtfertigten Beschuldigungen, die durch den Beauftragten geklärt werden können. Die reflexhafte Abwehr solche Vorschläge zeigt ein unverändert preußisches Denken. Für den Bürger würde sich die Chance bieten, den durch die Einstellung der 156 Verfahren erzeugten schalen Geschmack loszuwerden.

Rafael Behr lehrt seit Oktober 2008 als Professor an der Hochschule der Polizei in Hamburg und leitet dort die Forschungsstelle Kultur und Sicherheit. Behr war über 15 Jahre als Polizeibeamter in Hessen tätig, bevor er ein Studium der Soziologie absolvierte. Anschließend arbeitete er als Dozent an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Güstrow und als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Frankfurt am Main.


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13 Kommentare verfügbar

  • Ulrich Frank
    am 05.04.2014
    Antworten
    Den Ausführungen Professor Behrs kann, auch hinsichtlich der Hinweise auf die geschichtliche Dimension, kaum etwas hinzugefügt werden.

    Dieselbe immer wieder auf den Prüfstand zu stellende Rationalität welche hierzulande besonders bei der älteren Generation zu einer verinnerlichten…
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