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Die Reiseleiterin

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Sie pflegt das Image der freundlichen Nachbarin. Dabei ist Edith Sitzmann die mächtigste Politikerin im Land. Mit dem Regierungschef verbindet die Chefin der grünen Landtagsfraktion ein so enges Verhältnis, dass der in ihr eine Anwärterin auf seine Nachfolge sieht. Im Zuge eines Tauschhandels reihen beide jetzt einen zentralen Gründungsgrund ihrer Partei weit nach hinten.

"Im Landtag sitzen gerade einmal 18 Prozent Frauen. Wenn wir im bisherigen Tempo weitermachen, dann würde es noch über 100 Jahre dauern, bis Frauen gleichberechtigt in den Parlamenten vertreten sind." Gut gebrüllt, Löwin. Das war im Herbst 2012 im "BILD-Verhör", wie die Zeitung mit den großen Buchstaben geschmackvollerweise ihr Interview mit der Grünen nennt. Sie berichtet von der Teamarbeit, davon, dass jeder den Politikstil pflegen kann, den er für richtig hält.

Sitzmann selber hat diesen Anspruch gerade auf besondere Weise erfüllt. Jedenfalls scheint der Zorn über die Zustände im Landtag deutlich gedämpft. Gemeinsam mit Peter Hauk (CDU), Claus Schmiedel (SPD) und Hans-Ulrich Rülke (FDP) setzte sie ihre Unterschrift unter zwei bemerkenswerte Papiere. Das eine besiegelt eine Verfassungsänderung zu Volksentscheid und -initiative. Mit dem zweiten berauben die Vorsitzenden der Regierungsfraktionen ihre Abgeordneten der Möglichkeit, mit der einfachen Mehrheit von Grün und Rot das Landtagswahlrecht so zu ändern, dass Schluss gemacht wird mit diesem bundesweiten Rekordüberschuss von Männern im Landesparlament. "Gegengeschäft" nennt das Landtagsvizepräsident Wolfgang Drexler (SPD) und kann die ganze Aufregung nicht verstehen.

Seit April habe auch Sitzmann gewusst, dass die CDU die Verfassungsänderung nur schluckt, wenn zugleich die Idee eines Listenwahlrechts beerdigt wird. Ein solches hätte die Chancen von Frauen, von Nachwuchskräften oder Kandidaten aus bisher unterrepräsentierten Regionen auf ein Landtagsmandat deutlich erhöht. Für die Landesvorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen, Anette Sorg, ist das ein "unanständiger Deal". Dass sich eine Frau darauf eingelassen hat, macht viele sprachlos. Weder die Grünen noch die Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, Gisela Erler, selber seit Jahrzehnten eine Kämpferin für Frauenrechte, oder Landtagsvizepräsidentin Brigitte Lösch (Grüne) waren eingeweiht. Ein Verhalten, für das erboste Frauen nur eine Erklärung finden. "Sie wollte die für Kretschmanns Politik des Gehörtwerdens so wichtige Verfassungsänderung um jeden Preis", sagt eine SPD-Landtagsabgeordnete.

Sitzmann selbst war in den Landtag eingezogen, weil ein gewählter Mann den Platz räumte: Dieter Salomon wurde 2002 OB in Freiburg. In ersten Interviews nannte seine Nachrückerin immer wieder die Verbesserung der Repräsentanz von Frauen im Landtag als Ziel. Politisch sozialisiert wurde sie durch die Protestbewegung um die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf, den Volkszählungsboykott und die Frauenbewegung.

Im Zuge ihres Studiums (Geschichte und Kunstgeschichte) hatte sie in Freiburg Fuß gefasst, wurde Salomons Büroleiterin und persönliche Mitarbeiterin im Wahlkreisbüro. Später wurde sie Kreisgeschäftsführerin, schnell saß sie im Kreisvorstand. "Mich hat an der Politik nie die Konfrontation gereizt, sondern das Hinschauen, Verstehen, Einmischen und Gestalten", beschreibt sie ihre Herangehensweise. In den Neunzigern schlüpfte sie zudem in eine Rolle, die Weggefährten als ihr auf den Leib geschneidert bezeichnen: Sitzmann arbeitet als Reiseleiterin, ein Foto aus diesen Tagen zeigt sie in Ägypten, zufriedene Touristen, die sich bei der blonden, hochaufgeschossenen Frau offenbar in den besten Händen fühlen, im Schlepptau.

Das alte Reiseleiterinnen-Prinzip "Erklären, Überzeugen, Durchsetzen" konnte beim Megathema Gleichstellung gleich zweimal nicht greifen. Schon in Sachen Parité-Gesetz, jenem Modell nach französischem Vorbild, das Parteien zwingt, ihre Wahllisten mit Frauen und Männern im Reißverschlussverfahren zu besetzen, zuckte die Grüne zurück. Trotz eines Gutachters, trotz eines positiven Votums von SPD-Justizminister Rainer Stickelberger, trotz des Zusatzes im Grundgesetz-Artikel drei, der in diesem Jahr seinen zwanzigsten Geburtstag feiert und vor allem der späteren SPD-Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin zu verdanken ist: "Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin." Am Ende versagte Sitzmanns intern so hochgerühmte Verhandlungskunst, aus einer Muss- wurde eine Kann-Bestimmung, eine freiwillige Selbstverpflichtung der Parteien. Eine Lösung, die gerade im Praxistest ist: In wenigen Wochen wird sich zeigen, wie die Listen für die Kommunalwahlen im Land am 25. Mai tatsächlich besetzt sind.

Konsequent, zielstrebig und trotzdem blass

Im Koalitionsvertrag von 2011 hatte sich Grün-Rot vorgenommen, eine Änderung des Landtagswahlrechts zu prüfen. Schon dies hätte hellhörig machen können. Denn in Oppositionszeiten wollten beide Parteien nicht prüfen, sondern ändern. Die SPD hatte mehrere Vorstöße zum Thema Listenwahlrecht unternommen und war immer gescheitert an der CDU. Die Grünen präsentierten 2004 ein Fraktionspapier, das auch ihr Chef Kretschmann unterschrieben hatte. "Durch eine gleichmäßige Berücksichtigung von Frauen und Männern bei der Aufstellung von Listen könnte der nach wie vor viel zu geringe Frauenanteil im Parlament erhöht werden", steht darin zu lesen. Ausdrücklich wird Bezug genommen auf eine Initiative aus dem Jahr 2001 und die Situation in Bayern, wo es ein Listenwahlrecht gibt und erheblich mehr Frauen im Landtag.

Im Landtag macht sie sich schnell als konsequente Expertin für wirtschafts- und finanzpolitische Fragen einen Namen. Heute gilt sie als besonders konsequent auf dem Weg zur Schuldenbremse. Und doch bleibt sie im Landtagsplenum oder auf Parteitagen seltsam blass. Noch immer ist der selbstständigen Moderatorin anzumerken, dass sie sich an einem Tisch im Gespräch deutlich wohler fühlt als hinter dem Rednerpult.

Vielleicht hätte sich die Grünen-Stimmenkönigin bei den Landtagswahlen von 2006 als Vorsitzende anders entwickelt, wäre da nicht der polternde SPD-Widerpart Claus Schmiedel. Sie verspüre gar keine Lust, ihm nachzueifern, sagt sie in der aufgeheizten Stimmung kurz vor der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 und verzichtet nicht auf einen Seitenhieb: Niemand müsse nach ihrer Pfeife tanzen, weder in der Fraktion noch im Kabinett. Inzwischen haben sich die beiden aneinander gewöhnt. Die Anreden "Lieber Claus" und "Liebe Edith" sind zum Koalitionsritual geworden. "Vor den Kulissen mag er noch so offensiv und kämpferisch wirken", sagt eine Grünen-Abgeordnete über Schmiedel, aber dahinter "gehen viele Punkte an uns".

Sitzmann habe die gesamte Truppe hinter sich gebracht und erreicht, was ihren Vorgängern nie gelungen ist: "Kein einziger Knatsch in drei Jahren." Eigenheiten wie der bewusste Verzicht auf mehr Außenwirkung werden ihr auch vom Ministerpräsidenten als Stärken gutgeschrieben. "Sie passt zu uns und wir zu ihr", meint ein grüner Volksvertreter, der ihren Politikstil als "einen Grund für die Freude an der landespolitischen Arbeit" nennt.

Eine Frau braucht länger, um sich Respekt zu verschaffen

Das schöne Bild hätte jetzt wohl Schrammen bekommen, wäre anstelle des Frauenthemas ein anderes aufgerufen worden, etwa eine Grundsatzfrage aus dem Bereich von Finanzen, Bildung oder Energie. "Gleichstellung", weiß die Grünen-Landesvorsitzende Thekla Walker, "interessiert noch immer vor allem Politikerinnen." Dass die schäumen, bleibt nahezu ohne öffentliches Echo. Sie habe sich immer auf Sitzmann verlassen können, wundert sich die stellvertretende SPD-Landesvorsitzende Leni Breymaier. Jetzt allerdings müsse sie "Taten und nicht nur Worte sprechen lassen". Dass die Grüne den Kompromiss zur Verfassungsänderung noch platzen lässt, glaubt aber auch sie nicht.

In dem breiten gesellschaftlichen Bündnis, das sich gerade formiert und sogar den DGB – "Nicht nur die DGB-Frauen, sondern den ganzen Landesbezirk", freut sich Breymaier – auf seine Seite gebracht hat, verlangen engagierte Frauen den offenen Konflikt mit den Regierungsparteien. Da sich die Fraktionen im Landtag nicht bewegten, "werden wir andere Wege finden", sagt die Sozialministerin Karin Altpeter (SPD)." Am 20. Oktober soll eine Kampagne starten, um den ersten Bürgerentscheid nach der Änderung der Landesverfassung zur Einführung eines neuen Wahlrechts spätestens zur übernächsten Landtagswahl 2021 auf den Weg zu bringen.

Eine Frau brauche "etwas länger", um sich Respekt zu verschaffen, hat Edith Sitzmann nach einem Jahr im Amt gesagt, "aber diese Phase ist bei mir längst vorbei". Es wäre an ihr gewesen, ihren Einfluss geltend zu machen, um jene Verhältnisse zu schaffen, in denen es auch solche Unterschiede nicht mehr gibt.


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1 Kommentar verfügbar

  • Matthias
    am 05.02.2014
    Antworten
    Liebes Kontext,

    nun mal abgesehen davon, dass ich Frau Sitzmann in Landtagssitzungen im Vergleich zu ihren Fraktionsvorsitz-Kollegen Hauk, Rülke und Schmiedel sehr angenehm finde:
    Hätten Sie kurz beschrieben, wie denn "Listenwahlrecht" im Unterschied zu heute konkret funktioniert und was das…
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