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Wo wählen sie denn?

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Begehren, Beteiligungen und Entscheide – seit Stuttgart 21 sollen die Bürger mehr mitmischen können, beteuern alle Politiker. Doch was macht der Protagonist? Er bleibt der Wahlurne fern, wie bei der jüngsten OB-Wahl in Waiblingen. Über die Gründe darf spekuliert werden.

Eigentlich hätte man sich die Oberbürgermeisterwahl sparen können, die im vergangenen Dezember in Waiblingen vor den Toren Stuttgarts über die Bühne ging. Zum einen kandidierte Amtsinhaber Andreas Hesky in der Großen Kreisstadt mit rund 52 000 Einwohnern ohne Gegenkandidat. Auch hatte der 49-jährige Verwaltungswirt, der den Freien Wählern angehört, in den vergangenen acht Amtsjahren weder Schlagzeilen noch Skandale produziert. Beobachter gingen deshalb von Anfang an von einem wenig überraschenden Wahlergebnis aus, nämlich der Wiederwahl des Kandidaten. Nach Schließung der Wahllokale am 15. Dezember verblüffte das Wählervotum dann doch, was die Hauptstadt des malerischen Rems-Murr-Kreises kurz in den Fokus der Medien katapultierte. Nicht etwa weil die Waiblinger Bürgerschaft Hesky mit 98,06 Prozent der abgegebenen Stimmen ein zweites Mal zu ihrem Stadtoberhaupt wählte. Sondern weil nur 18,03 Prozent aller Wahlberechtigten zur Wahl gegangen waren. "Schlechte Wahlbeteiligung bei Wiederwahl von Hesky", vermeldete erschüttert die "SWR-Landesschau". Und die örtliche "Waiblinger Kreiszeitung" machte eine "Enttäuschung über niedrige Wahlbeteiligung" aus.

Tatsächlich dürfte der massive Wählerstreik – von 41 433 Waiblingern, darunter erstmals 2593 Minderjährige zwischen 16 und 18 Jahren, gingen nur 7471 Bürger zur Wahl – ein neuer Negativrekord in Sachen demokratischer Mitwirkung in Deutschland sein. Und das in Zeiten, in denen nach den Auseinandersetzungen um das milliardenschwere Bahnprojekt Stuttgart 21 allerorten das hohe Lied von mehr Bürgerbeteiligung durch direkte Demokratie gesungen wird. So soll bekanntlich das Quorum bei Volksentscheiden in Baden-Württemberg von derzeit einem Drittel auf einen historisch niedrigen Stand von zwanzig Prozent sinken. Der neue alte Waiblinger OB hätte selbst diese tiefergelegte Hürde nicht übersprungen.

Keine statistischen Daten zu Bürgermeisterwahlen verfügbar

Die indirekte Demokratie in der Krise, mehr noch vielleicht als die direkte? Kann es sein, dass wir in einer sedierten Gesellschaft leben, die jenseits von Stuttgart 21 immer weniger Bock auf Politik hat, erst recht, wenn diese vor der eigenen Haustür stattfindet? Nach dem Waiblinger Wahlsonntag mit seiner postdemokratischen Beteiligungsquote und einem eher staatstotalitärem Wahlergebnis hat es den Anschein. Doch Alarmstimmung ist nirgends festzustellen, erst recht nicht in den Institutionen der institutionalisierten Demokratie. Vielleicht auch nicht, weil es schlicht an Zahlenmaterial fehlt. Während bei Europa-, Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen seit Jahren fleißig statistische Daten erhoben und gesammelt werden, geschieht dies bei Oberbürgermeister- und Bürgermeisterwahlen nicht. "Es gibt kein Gesetz in Baden-Württemberg, das die zentrale Sammlung vorsieht", heißt es aus dem statistischen Landesamt.

Im Dunkeln tappen auch die beiden kommunalen Spitzenverbände, in denen sich die rund 1100 Gemeinden und Städte in Baden-Württemberg zusammengeschlossen haben. "Natürlich ist eine hohe Wahlbeteiligung immer wünschenswert", sagt Kristina Fabijancic-Müller, Sprecherin des baden-württembergischen Gemeindetags, die selbst von der geringen Wahlbeteiligung überrascht ist. Nichts Genaueres weiß man auch beim Städtetag, dem derzeit 184 Städte im Südwesten angehören. "In vielen Kommunen treten bei Bürgermeisterwahlen einzelne Kandidaten ohne Konkurrenten an", heißt es nur. Und wenn es Gegenkandidaten gebe, dann versteckten sich dahinter häufig sogenannte Spaßkandidaten. Nur wenn es um prestigeträchtige OB-Sessel wie beispielsweise Ende 2012 in Stuttgart geht, werfen meist mehrere Anwärter, oft unterstützt von den verschiedenen Parteien und Wählergruppen, ihren Hut in den Ring.

Gekämpft wie in jedem Wahlkampf

Vor Ort in Waiblingen will man die geringe Wahlbeteiligung nicht an die große Glocke hängen, obwohl bei der OB-Wahl 2006 mit 39,7 Prozent noch eine fast doppelt so hohe Wahlbeteiligung erreicht werden konnte. Hesky hatte sich damals mit 50,4 Prozent der Stimmen gegen zwei ebenfalls aussichtsreiche Kandidaten durchgesetzt. "Ich habe vor und nach der Wahl von vielen Bürgern positive Rückmeldungen bekommen", betont Wahlsieger Hesky, dass er sich nach dem jüngsten Urnengang zu Recht als neuer alter OB der Stadt sieht. Dass so wenig Menschen zur Wahlurne gehen, lasse sich nicht nur als Desinteresse interpretieren, sagen selbst Wahlforscher. Vielmehr könne dies auch auf eine hohe Zufriedenheit mit dem Amtsinhaber hindeuten. "Ich habe meinen Wahlkampf so geführt, als ob es Mitbewerber gegeben hätte. Ich habe alles getan, was man in einem Wahlkampf tut", beteuert er. In Zahlen waren es acht Besuchstermine, etwa in Seniorenheimen, und zwei größere Wahlveranstaltungen vor öffentlicher Kulisse. Auf Wahlplakate hatte der Bewerber wegen fehlender Konkurrenz von vornherein verzichtet.

Tatsächlich unterscheiden die Bürger offenbar, zu welcher Wahl sie gehen und wann sie zu Hause bleiben. Schon traditionell registrieren die Statistiker die höchsten Wahlbeteiligungen bei den Wahlen zu Bundestag und Landtagen. Wenn auch hier die Nichtwähler im Laufe der Zeit tendenziell immer mehr Anteile erreichen. Laut Statistischem Landesamt war die Beteiligung an den Landtagswahlen seit 1952 starken Schwankungen unterworfen. Die höchste Wahlbeteiligung war mit 80 Prozent bei der Landtagswahl 1972 erreicht worden. Seither ging der Wahleifer der Baden-Württemberger immer mehr zurück. Bei der Landtagswahl im Jahr 2006 hatten lediglich 53,4 Prozent der Wahlberechtigen von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Dies war die mit Abstand niedrigste Wahlbeteiligung, die jemals bei eine Landtagswahl in Baden-Württemberg registriert wurde. Mit der letzten Landtagswahl 2011 wurde dieser Rückwärtstrend unterbrochen. Mit 66,3 Prozent lag die Wahlbeteiligung um 12,9 Prozentpunkte über der Marke von 2006. Die Atomkatastrophe von Fukushima wenige Wochen vor der Wahl wie auch die gewaltsame Räumung des Stuttgarter Schlossgartens gelten als Grund für den Zulauf.

Wahlrenner bleiben Bundestagswahlen

Dennoch: Die Wahlbeteiligung bei Landtagswahlen liegt in Baden-Württemberg erheblich unter der bei Bundestagswahlen. Während sich an den Bundestagswahlen seit 1949 im Durchschnitt gut 82 Prozent der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger im Land beteiligten, waren es bei den Wahlen zum Landtag nur rund 68 Prozent. Bei der zurückliegenden Bundestagswahl im September 2013 beteiligten sich 74,3 Prozent der wahlberechtigten Baden-Württemberg, bundesweit waren es 71,5 Prozent.

Bei den Europawahlen war die Wahlbeteiligung, die von 1979 bis 2009 zwischen 40,6 und 66,4 Prozent pendelte, immer deutlich niedriger als bei den Bundestags- und Landtagswahlen. Europawahlen werden deshalb von Wahlforschern oftmals als "Low-Interest-Wahlen" bezeichnet. Auch an Gemeinderats- und Kreistagswahlen in Baden-Württemberg beteiligen sich deutlich weniger Bürgerinnen und Bürger als an Bundestags- und Landtagswahlen. Die Ergebnisse der repräsentativen Wahlstatistik zeigen, dass sich jüngere Menschen deutlich seltener an Wahlen beteiligen als ältere. Aufgrund der gleichzeitig sich auswirkenden demografischen Alterung gewinnen ältere Wähler immer mehr politischen Einfluss. Ferner ist die Wahlbeteiligung von Frauen bei Landtags-, Bundestags- und Europawahlen geringer als die der Männer. Bei der Wahl 2009 waren es 70,8 Prozent.

Achtung, Achtung: Im Mai muss wieder gewählt werden

Die nächste Nagelprobe indirekter Demokratie kommt bald. Am 25. Mai 2014 haben rund 7,9 Millionen Wahlberechtigte in Baden-Württemberg wieder die Wahl: Gewählt werden die Kreisräte in den 35 Landkreisen, die Gemeinderäte in 1101 Städten und Gemeinden sowie in 410 Gemeinden mit Ortschaftsverfassung die Ortschaftsräte von insgesamt circa 1640 Ortschaften. In der Region Stuttgart wird außerdem die Regionalversammlung des Verbands Region Stuttgart neu gewählt. "Die Gemeinden sind die kleinsten demokratischen Einheiten unseres Staatswesens. Sie sind die Keimzelle unserer Demokratie. Neben den Gemeinden gibt es die Landkreise und Bezirke. Sie bilden die Ebenen der Kommunalverwaltung", appelliert die Landeszentrale für politische Bildung, das Wahlrecht wahrzunehmen. Erstmals dürfen bei den Kommunalwahlen am 25. Mai 2014 auch die 16- und 17-jährigen Jugendlichen ihre Stimmen abgeben. Die Gruppe der Erstwählenden bei den Kommunalwahlen umfasst damit die 16- bis 23-Jährigen. Das passive Wahlrecht, also die Teilnahme an der Wahl als Kandidat, bleibt weiterhin bei 18 Jahren. Apropos: Zeitgleich mit der Kommunalwahl findet am 25. Mai auch die Europawahl statt.


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3 Kommentare verfügbar

  • BüBe
    am 20.01.2014
    Antworten
    "seit Stuttgart 21 sollen die Bürger mehr mitmischen können, beteuern alle Politiker"

    Ja, und so läuft dann ein Mega - Bürger-Beteiligungsverfahren in Wirklichkeit (!) ab, das von Politikern als bundesweit vorbildlich dargestellt wird. Samt der nahezu kritikfreien Medienberichterstattung…
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