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Zündendes Feuerwerk

Zündendes Feuerwerk
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In Ausgabe 131 berichtete Kontext über die Kritik der Stuttgarter Berufsfeuerwehr am Brandschutzkonzept von Stuttgart 21. Das wollte die Bahn nicht auf sich sitzen lassen – und lancierte ein mehrspaltiges Interview in den "Stuttgarter Nachrichten". In ihm zündet der Brandschutzbeauftragte der Bahn, Klaus-Jürgen Bieger, ein Feuerwerk an Verharmlosungen und Halbwahrheiten.

"Ja. Der Bahnhof wird sicher sein", sagt Klaus-Jürgen Bieger gleich zu Beginn eines ausführlichen Interviews, das am 9. Oktober 2013 in den "Stuttgarter Nachrichten" (StN) erschien. Was sollte der Bahnmanager auch anderes antworten auf die Eingangsfrage des StN-Reporters, wie sicher der geplante Tiefbahnhof ist, falls es brennt! Etwa: "Leider wissen wir das bis heute nicht. Denn die Simulationen haben gezeigt, dass unter bestimmten Umständen die neue Bahnhofshalle schon verraucht ist, bevor alle Reisenden sich in Sicherheit gebracht haben. Es besteht also die Gefahr, dass Menschen im Brandfall an giftigen Rauchgasen ersticken"? Oder: "Wir hoffen, mit acht zusätzlichen Fluchtreppenhäusern die Evakuierung zu beschleunigen. Doch das gelingt uns nicht immer. Außerdem wissen wir nicht, ob die Fluchttreppenhäuser baurechtlich genehmigt werden. Wenn nicht, dann weiß auch ich nicht weiter"?

Mit solchen Antworten würde sich Klaus-Jürgen Bieger um Kopf und Kragen reden, er wäre seinen Job als Brandschutzchef der Deutschen Bahn los. Dabei wären es ehrliche Antworten. Denn: "Die sichere Entfluchtung des Tiefbahnhofs ist nicht gewährleistet", so das vernichtende Urteil der Stuttgarter Branddirektion und des Regierungspräsidiums über das aktuelle Brandschutz- und Rettungskonzept der Bahn für Stuttgart 21. In Ausgabe 131 ("Feuer unterm Bahnhofsdach") zitierte Kontext ausführlich aus der zehnseitigen Stellungnahme der Behörden, die unter Verschluss gehalten wird. Darin sind so viele schwerwiegende Mängel aufgelistet, dass eher von einem Unsicherheitskonzept für Stuttgart 21 die Rede sein müsste.

Den Brandschutzexperten Bieger in Bahndiensten ficht dies nicht an. Im StN-Interview gibt er nur zu, was sich nicht leugnen lässt. Und das nur im Konjunktiv und in Schachtelsätzen. Ein Beispiel: "Es gibt im Entwurf unter vielen geprüften Szenarien ein Szenario auf Höhe eines Verbindungsstegs, in dem ein Teil der flüchtenden Personen mit Rauch in Berührung kommen könnte, weil der rauchfreie Bereich von 2,50 Meter über dem Fußboden unterschritten wird." Aha! Mit "Rauch in Berührung" kommen, das klingt nach "ziemlich harmlos".

Harmloser Koffer als Brandsatz

Wie viele weitere Aussagen Biegers in dem denkwürdigen Zeitungsinterview. Etwa die Beschreibung eines 53-Megawatt-Brandes, auf dem das Sicherheitskonzept für Stuttgart 21 aufbaut, das sich die Bahn durch das Eisenbahnbundesamt (EBA) genehmigen lassen muss. "Das Szenario fängt mit einem großen Koffer an, der in einem Zug abgestellt wird und Feuer fängt. Kein Passagier tut etwas, keiner greift zum Feuerlöscher, keiner löst Alarm aus", beschreibt Bieger einen Brandfall, der wohl nur in Geisterzügen passiert. Das unrealistische Szenario "brennender Koffer" muss immer wieder in Brandschutzgutachten der Deutschen Bahn als Standardbrandfall herhalten. Nach Kontext-Informationen wird es auch in den Schutzkonzepten für die Tiefbahnhöfe der geplanten zweiten S-Bahn-Stammstrecke in München angeführt.

Kontext klärt deshalb auf: Eine Brandlast beschreibt die Energie, die bei der Verbrennung eines Gegenstands freigesetzt wird. Ein 53-Megawatt-Brand entspricht in etwa einer Enerigiefreisetzung von rund 6 000 Litern (brennendem) Benzin. Ausschließlich an ihm, und nicht an Handlungen oder Nichthandlungen von Zugreisenden, haben sich die Schutzmaßnahmen im Tiefbahnhof zu orientieren.

Bei der Bahn brennen nur Kaffeemaschinen

Es ist noch lange nicht die Spitze der Verharmlosung, die Klaus-Jürgen Bieger den Lesern der "Stuttgarter Nachrichten" in seinem Interview präsentiert. "Wir haben zwar 50 bis 60 Brände pro Jahr bei der Deutschen Bahn, aber das sind in aller Regel beherrschbare technische Defekte wie eine durchgeschmorte Kaffeemaschine. Echte Brände im Zug sind europaweit die absolute Ausnahme, da es in Schienenfahrzeugen einen hohen Brandschutz nach europäischer Norm gibt", darf Bieger unwidersprochen behaupten.

Die Realität sieht anders aus. Elektrische Kurzschlüsse setzen nicht nur Kaffeemaschinen in Brand, sondern immer wieder auch Lokomotiven und Triebwagen der Deutschen Bahn. Die Ingenieure 22, ein Gruppe von S-21-Kritikern, dokumentierten für die vergangenen 40 Jahre 45 derartige Brandereignisse allein in Deutschland. In 14 Fällen, also bei rund einem Drittel der Unglücke, wurden Reisende oder Bahnpersonal verletzt. Insgesamt kamen 111 Personen zu Schaden. Seit der Jahrtausendwende gerieten allein neun ICE in Brand. Zuletzt brannte am 5. August 2013 der Triebkopf eines ICE 1 bei Langenselbold.

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Wie berichtet stellen die Experten der Stuttgarter Branddirektion die Evakuierungssimulationen für den Tiefbahnhof in ihrer Stellungnahme prinzipiell infrage. So habe das Gutachterbüro Klingsch ein Simulationsprogramm verwendet, das bei der Evakuierung des Tiefbahnhofs nur Personendichten von maximal vier Personen pro Quadratmeter ausweise, so die Kritik. Nach Kontext-Informationen setzte Klingsch die Simulationsoftware "BuildingExodus" ein. In dem Programm, das an der Londoner Universität Greenwich entwickelt wurde, wird die Gebäudegeometrie durch Zellen dargestellt. Programmseitig sind nur vier Zellen pro Quadratmeter darstellbar, für die jeweils Personendichten berechnet werden. Abweichungen von tatsächlichen "Platzverhältnissen" sind so möglich.

Weitaus größere Abweichungen sind durch andere Einflussgrößen denkbar. Das Programm bietet eine große Zahl an Parametern, über die der Anwender Eigenschaften und Verhalten der Personen als auch die Gebäudegeometrie spezifizieren kann. In Wissenschaftskreisen ist es kein Geheimnis, dass die Simulationsergebnisse in BuildingExodus, wie auch bei konkurrierender Simulationssoftware, maßgeblich von diesen Parametern bestimmt werden. So beeinflusst etwa die Zusammensetzung der Simulationsbevölkerung entscheidend den Ablauf einer Evakuierungsberechnung. Zudem werden von den einzelnen Simulationsmodellen bestimmte Faktoren, die den Evakuierungsprozess bremsen oder auch beschleunigen, unterschiedlich berücksichtigt.

Flüchtende als Unsicherheitsfaktor

Der wohl größte Unsicherheitsfaktor innerhalb der Berechnungsmodelle ist der Faktor Mensch, um dessen Rettung es geht. Seine physischen und psychischen Reaktionen auf Brandereignisse sind sehr schwer vorherzusagen, weshalb prinzipiell jede Simulationen von der Realität abweichen kann. So wird die Panikreaktion als typisches menschliches Verhalten in Extremsituationen von den wenigsten Simulationsverfahren modelliert. Für unvorhersehbare Verhaltensweisen sind deshalb üblicherweise Pufferzeiten vorgesehen. Wie berichtet bezweifelt die Stuttgarter Feuerwehr, dass derartige Puffer in den Simulationen beim Brandschutzkonzept für Stuttgart 21 bereits berücksichtigt sind. Auf entsprechende Anfragen von Kontext gab das S-21-Kommunikationsbüro keine Antwort. Ein Sprecher betonte nur, dass man seit 15 Jahren konstruktiv mit der Stuttgarter Feuerwehr zusammenarbeite. Erstaunlich nur, dass man in diesem langen Zeitraum noch kein genehmigungsfähiges Schutzkonzept zuwege brachte.  

Unklar ist auch, ob die zusätzlich geplanten Fluchttreppenhäuser in den aktuellen Simulationsberechnungen zum Entrauchungskonzept der Tiefbahnhofhalle bereits berücksichtigt wurden. Dazu verwendete das Büro Klingsch bisher das amerikanische Programm "Fire Defense Simulation" (FDS). Aufgrund der massiven Bauweise der Treppenhäuser sind Auswirkungen auf die Luftströmungen in der Bahnhofshalle wahrscheinlich, was wiederum auf die Ausbreitung des Brandqualms rückwirkt. Denkbar sind Luftwirbel, die Rauchgase in andere Richtungen als zuvor transportieren. Das ursprüngliche Architekturkonzept der Bahnhofshalle ist gerade in aufwendigen Strömungsversuchen mit maßstabsgetreuen Modellen bereits vor Jahren während der Planungsphase aerodynamisch optimiert worden.

Welche Parameter in die Simulationen eingespeist wurden, kann die Bahn demnächst einer breiteren Öffentlichkeit verraten. Am Dienstag, 22. Oktober 2013, will der Konzern ab 15 Uhr dem Stuttgarter Gemeinderat einen "Statusbericht Sicherheits- und Rettungskonzept" für das geplante Tiefbahnhofprojekt geben. Bleibt abzuwarten, welches Feuerwerk der Brandschutzbeauftragte der Bahn während der öffentlichen Sitzung im Rathaus zündet.

Das denkwürdige StN-Interview mit Klaus-Jürgen Bieger stieß im S-21-Kommunikationsbüro im Übrigen auf volle Begeisterung. Während Projektsprecher Wolfgang Dietrich bei unliebsam kritischer Medienberichterstattung gern in Redaktionen vorstellig wird, findet sich das Interview in vollem Wortlaut inzwischen auf der offiziellen Homepage des Bahnprojekts Stuttgart–Ulm – mit artiger Danksagung an die "Stuttgarter Nachrichten", redaktionelle Inhalte auf den eigenen Internetseiten veröffentlichen zu dürfen.

 

* Das Video (Quelle: Youtube) zeigt beispielhaft einen Simulationsdurchlauf für die Evakuierung des geplanten Stuttgarter Tiefbahnhofs. Es handelt sich nicht um die offizielle Evakuierungssimulation für das Sicherheits- und Rettungskonzept für Stuttgart 21.


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7 Kommentare verfügbar

  • Mombes
    am 16.10.2013
    Antworten
    für Fachleute (und das wollen die doch sein) ist ahnungslos = gewissenlos.
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