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Das 10 000-Millionen-Euro-Projekt

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Kostenexplosion, die Nächste: Nach dem Tiefbahnhof Stuttgart 21 wird nach Informationen von Kontext auch die Neubaustrecke Wendlingen–Ulm teurer. Die Deutsche Bahn veranschlagt für die Hochgeschwindigkeitstrasse durch die Schwäbische Alb knapp 3,3 Milliarden Euro. Das sind 370 Millionen Euro mehr als bisher. Damit knacken beide Schienenprojekte zusammen die Zehn-Milliarden-Euro-Grenze. Interne Unterlagen warnen zudem vor extremen Terminrisiken bei Stuttgart 21.

Während der Stuttgart-21-Schlichtung wurden die Präsentationen von Volker Kefer einem größeren Publikum bekannt. Der Infrastruktur-Vorstand der Deutschen Bahn versteht es, mit einfachen Grafiken und Tabellen komplizierte Sachverhalte darzustellen. Derartige Unterlagen bekamen auch die Aufsichtsräte des Staatskonzerns zur jüngsten Sitzung Anfang März ausgehändigt, als über das weitere Schicksal des umstrittenen Tiefbahnhofs zu entscheiden war. Das Material liegt Kontext vor. Auf seiner Basis billigte das Gremium bekanntlich den Weiterbau, obwohl Stuttgart 21 den ursprünglichen Kostendeckel von 4,576 Milliarden Euro gewaltig gesprengt hat. Schlimmstenfalls um über zwei Milliarden Euro, sollten sich alle Risiken "materialisieren". Die Bahn darf in Stuttgart den kostspieligsten Bahnhof der deutschen Eisenbahngeschichte bauen. Er wird, Stand heute, bis zu 6,8 Milliarden Euro kosten.

Nach der entscheidenden Sitzung verschwieg Bahnchef Rüdiger Grube allerdings eine weitere Kostenexplosion. Diesmal bei der Neubaustrecke zwischen Wendlingen und Ulm, bei der im Mai 2012 Spatenstich gefeiert wurde. Für die Schnellfahrtrasse wird seit vergangenem Jahr ein Gesamtwerteumfang von 3,26 Milliarden Euro veranschlagt, wie die Unterlagen für die Bahnkontrolleure beweisen. Dies sind exakt 370 Millionen Euro mehr als bislang öffentlich kommuniziert. Die knapp 60 Kilometer lange Hochgeschwindigkeitsstrecke, auf der ICE-Züge mit Tempo 250 zwischen Neckar und Donau rasen können, sollte nach offizieller Lesart bislang 2,89 Milliarden Euro kosten.

Das Schweigen der Bahnmanager kommt nicht von ungefähr. Denn mit dieser weiteren Kostenexplosion reißt das Bahnprojekt Stuttgart–Ulm eine markante Kostengrenze: die Neuordnung des Stuttgarter Bahnknotens plus Hochgeschwindigkeitstrasse wird zum 10 000-Millionen-Euro-Projekt, und diese unvorstellbar große Zahl mit zehn Nullen könnte noch vor der Bundestagswahl eine neue Diskussion über Sinn und Nutzen der beiden Großprojekte heraufbeschwören.

Die Neubaustrecke ist anders als Stuttgart 21 ein Schienenbauprojekt des Bundes. Die Aufsicht obliegt folglich Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU). Doch der hat von der jüngsten Kostenexplosion angeblich noch nichts gehört. Bürgern, aber auch Abgeordneten des Bundestags wird sie bisher verheimlicht. "Momentan kalkulieren wir mit 2,9 Milliarden Euro", versicherte Ramsauer noch Ende März der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Nur nebulös deutete er im selben Interview mögliche Mehrkosten an. "Es gibt immer Risiken. Ich kenne kaum ein Projekt, das zu dem Betrag fertig wird, den man zuerst ausgerechnet hatte."

Zur Erinnerung: Als die Strecke im Jahr 2003 auf Drängen von Bahn und der damaligen Stuttgarter CDU/FDP-Landesregierung in den Bundesverkehrswegeplan (BVWP) als "vordringlicher Bedarf" eingestellt wurde, sollte sie kaum mehr als 1,5 Milliarden Euro kosten. Noch bevor die notwendigen fünf Tunnel durch zerklüftetes und damit kostenträchtiges Karstgestein überhaupt vorgetrieben und noch kaum eine der 17 Eisenbahn- und 20 Straßenbrücken überhaupt begonnen wurde, sind die Kosten bereits um mehr als das Doppelte gestiegen. Ramsauers Einlassungen folgten auf einen Bericht der "Stuttgarter Zeitung" von Ende Januar, wonach bahnintern bereits seit September 2012 von einem höheren Gesamtwerteumfang die Rede ist. Aus dem Berliner Bahntower folgte damals ein heftiges Dementi. "Die Bahn stellt derzeit bei der Neubaustrecke (NBS) Wendlingen–Ulm keine Mehrkosten durch vergessene Leistungen oder Risiken fest", wies der Konzern "falsche Tatsachenbehauptungen" zurück. Auch sei die Finanzierung, anders als im Bericht dargestellt, keinesfalls unklar.

Mehr über die Kostenentwicklungen auf der rauen Alb wollten die Grünen daraufhin im Bundestag mit einer Kleinen Anfrage erfahren. Die Antwort des parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesverkehrsministerium, Enak Ferlemann (CDU), einen Tag nach der erwähnten DB-Aufsichtsratssitzung Anfang März übermittelt, fiel nichtssagend aus: "Die Bundesregierung hat keine Kenntnis von einer Kostensteigerung über den 2010 veröffentlichten Gesamtwertumfang (GWU) von 2890,6 Mio. Euro", teilte Ferlemann im Namen der Bundesregierung mit. Zu vielen der 27 Fragen, die der Abgeordnete Harald Ebner aus Schwäbisch-Hall und andere Fraktionskollegen formuliert hatten, blieb der Staatssekretär konkrete Angaben schuldig. Für die Grünen eine Missachtung des Parlaments.

Vertuschen hat Tradition

Als "unvollständig und nicht wahrheitsgemäß" bezeichnete der parlamentarische Geschäftsführer von Bündnis 90/Grüne, Volker Beck, in einem Protestschreiben an den Bundestagspräsidenten Norbert Lammert (CDU) Ferlemanns Verständnis über die parlamentarische Kontrollfunktion des Bundestags. Dabei hat Vertuschen und Verschweigen wie bei Stuttgart 21 auch bei der Neubaustrecke Tradition. So hielten nach Medienberichten schon im Jahr 2003 Bahnmanager und Stuttgarter Regierungsverantwortliche mit den wahren Kosten absichtlich hinter dem Berg, um den Projektbeschluss im Bundestag nicht zu gefährden.

Nach dem Protestschreiben der Grünen gab sich Staatsekretär Ferlemann zwar dazu her, den Grünen ein zweites Mal zu antworten. Mehr Informationen lieferte er aber nicht nach, sondern wies nur die Kritik wortreich zurück, Tatsachen dem Parlament vorzuenthalten. "Solange die Bahn keine Informationen über Kostensteigerungen weitergibt, kann naturgemäß auch keine Überprüfung stattfinden", schrieb er sinngemäß. Für Fragesteller Ebner ein Unding: "Wie schon beim Projekt Stuttgart 21 scheint niemand im Verkehrsministerium an den realen Projektkosten ein Interesse zu haben. Möglichst lange wird an den alten und zu niedrig kalkulierten Zahlen festgehalten, um weder die Neubaustrecke noch S 21 zu gefährden. Der vorprogrammierte Kostenschock wird damit in die Zukunft verschoben", so sein Fazit.

Dabei können Bundesverkehrsminister Ramsauer und sein parlamentarischer Staatssekretär kaum den Ahnungslosen spielen. Denn den Bund als alleinigen Eigentümer der Deutschen Bahn vertreten gleich drei beamtete Staatssekretäre im Aufsichtsrat. Neben Hans Bernhard Beus vom Finanzministerium und Bernhard Heitzer aus dem Wirtschaftsressort gehört auch Michael Odenwald aus Ramsauers Haus dazu. Allen drei Beamten liegen die gleichen Bahnunterlagen wie Kontext vor. "In der unternehmensinternen Darstellung der DB AG wurde der Realwert nominalisiert. Dieser Realwert ist weiterhin gültig. Eventuelle Preis- oder Kostenänderungen werden bundesseitig im Zuge der jährlichen Kostenfortschreibung aller Bedarfsplanvorhaben berücksichtigt", erläutert Ministeriumssprecherin Vera Mossmayer auf Kontext-Anfrage. Sprich: Die Bahn rechnet intern mittlerweile 370 Millionen Euro Preissteigerungen in die NBS-Kosten ein, während der Bund das Projekt der Öffentlichkeit weiterhin zum günstigeren Preis- und Planungsstand von 2010 verkauft. 

Bis zu 32 Monate im Verzug

Zudem verschweigen Bund als auch Bahn der Öffentlichkeit ein brisantes Planungsdetail beim Teilprojekt Stuttgart 21, das erhebliche Finanzierungsrisiken birgt. Nach den internen Aufsichtsratsunterlagen, die das Bahnmanagement dem Kontrollgremium im März unterbreitete, könnte der Tiefbahnhof wegen "weiteren Terminrisiken" bis zu 32 Monate später als geplant in Betrieb gehen. Nach derzeitigem Stand sollen die ersten fahrplanmäßigen Züge den unterirdischen Haltepunkt und das dazugehörende Tunnelsystem im Dezember 2020 (laut S-21-Kommunikationsbüro) respektive im Dezember 2021 (nach internen Bahnunterlagen) durchfahren. Würden alle Terminrisiken eintreten, würde das neue Herz Europas wohl erst zum Fahrplanwechsel im Dezember 2024 in Vollbetrieb gehen. Weitere Kostenexplosionen wären die Folge. Allein für die einjährige Verschiebung der Inbetriebnahme auf Ende 2021 werden nach den Aufsichtsratspapieren Mehrkosten von 100 Millionen Euro veranschlagt.

 

Info:

Finanzierung Neubaustrecke Wendlingen–Ulm

Während steigende Kosten bei Stuttgart 21 künftig zulasten der Bahnkasse gehen, berühren Kostenexplosionen auf der Neubaustrecke zwischen Wendlingen und Ulm den Schienenkonzern kaum. Denn der Steuerzahler finanziert die Strecke. Mit einem festen Baukostenzuschuss des Landes Baden-Württemberg über 950 Millionen Euro hatte der damalige CDU-Ministerpräsident Günther Oettinger einen früheren Baustart erkauft. Das Landesgeld wird zunächst verbaut, ab dem Jahr 2016 stellt der Bund dann die Anschlussfinanzierung sicher. Hierfür sind rund 1940 Millionen Euro vorgesehen. Dieser Anteil reduziert sich um den EU-Anteil von 101 Millionen Euro. Sollte bereits vor 2016 der Baukostenzuschuss des Landes verausgabt sein, setzt die Deutsche Bahn zur Sicherung des Projektfortschritts Eigenmittel bis zu einer Höhe von 130 Millionen Euro ein. Diese bekommt sie ab 2016 vom Bund als Baukostenzuschuss wieder zurück. Die Bahn selbst trägt, wie bei Bedarfsplanvorhaben üblich, nur einen Planungskostenanteil, der sich bei der NBS auf lediglich 75 Millionen Euro beschränkt. Kurz gesagt: Steigen die Kosten weiter, muss nicht die Bahn, sondern der Bund respektive der Steuerzahler blechen. Dabei könnten die bereits heute bahnintern kalkulierten 3,3 Milliarden Euro nicht das Ende der Fahnenstange bleiben. Während der S-21-Schlichtung im Herbst 2010 hatten die Münchner Verkehrsplaner Vieregg-Rössler zwischen 4,6 und 5,3 Milliarden Euro als NBS-Kosten genannt. Sollten sich die Karsthöhlen der Schwäbischen Alb zerklüfteter als angenommen erweisen, könnten aufwendige Tunnelkonstruktionen die Baukosten der Schnellfahrtrasse sogar auf bis zu zehn Milliarden treiben, warnten die Experten. Sicher ist: Je höher die Kosten steigen, umso mehr droht sich, wie der Tiefbahnhof für die Bahn, auch die Neubaustrecke für den Bauherrn Bund nicht zu rechnen. Die Frage der Grünen-Abgeordneten nach einer aktualisierten Wirtschaftlichkeitsprüfung für die Hochgeschwindigkeitstrasse ignorierte Staatssekretär Enak Ferlemann für die Bundesregierung. Das Bundesverkehrsministerium teilte auf Kontext-Anfrage mit, dass die Strecke im Jahr 2021 fertiggestellt sein soll.

Demnächst sind Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer und Bahnchef Rüdiger Grube auf der NBS-Baustelle: Am 19. Juli kommen beide zum feierlichen Anschlag des Steinbühltunnels bei Hohenstadt im Landkreis Göppingen. Mit zum Festakt bringt der Verkehrsminister seine Ehefrau. Anders als First Landeslady Gerlinde Kretschmann übernimmt Susanne Ramsauer gern den Job als Tunnelpatin des 4,8 Kilometer langen Bauwerks.


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7 Kommentare verfügbar

  • Willi
    am 04.07.2013
    Antworten
    "Die Brücke"
    Mich würden die Koordinaten interessieren, um diese Brücke besichtigen zu können. Schön wäre es, wenn jemand diese veröffentlichen würde.

    Danke im Voraus.

    Willi
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