KONTEXT:Wochenzeitung
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Rauschen im Blätterwald

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Von "Bild" bis "Welt" – der Blätterwald hat gerauscht und, wie es so ist, ein höchst unterschiedliches Echo ausgelöst. Während MP Winfried Kretschmann unverzagt an der Volksabstimmung festhält und Bahnsprecher Wolfgang Dietrich die Umfrage für "unredlich" hält, bleibt Politikprofessor Hans-Georg Wehling ganz nüchtern. Die Kostenexplosion bei S 21 erzeuge eben "größeren Protest", sagt er.

Das Originalzitat von Wehling lautet: "Die Kostensteigerungen in Milliardenhöhe waren für die Menschen in der Region Stuttgart eine Überraschung, die sich jetzt in größerem Protest ausdrückt." Darüber hinaus sei durch das Berliner Flughafen-Fiasko oder die Philharmonie-Pleite in Hamburg eine bundesweite Stimmung gegen Milliarden-Verschwendungen bei Großprojekten wahrnehmbar. Erstaunlicherweise kommentiert auch die "Welt" in diese Richtung. Wenn die Befragten, wie bei der Kontext/taz-Umfrage, mit genauen Kosten konfrontiert würden, folgert das Springer-Blatt, "wenden sie sich ab". 

Wie die Umfrage im Land von den verschiedenen Protagonisten bewertet wird, hat die Kontext:Wochenzeitung im Folgenden zusammengestellt:

 

 

Foto: Joachim E. RöttgersWinfried Kretschmann (Die Grünen), Ministerpräsident Baden-Württemberg: "Angesichts der jetzt bekannt gewordenen Mehrkosten in Milliardenhöhe und der desaströsen Informationspolitik der Bahn ist es für mich durchaus nachvollziehbar, dass die Umfrage einen Meinungswandel beim Projekt Stuttgart 21 zeigt. Umfragen ersetzen aber nicht die Volksabstimmung. Sie hat das Projekt legitimiert, die Landesregierung ist an das offizielle Votum gebunden. Wir führen demnach keine Ausstiegsdebatte und begleiten das Projekt konstruktiv-kritisch. Klar ist aber auch: Wir beteiligen uns nicht an Mehrkosten. Bei der Volksabstimmung wurde unter der Maßgabe des Kostendeckels abgestimmt. Deshalb stärkt uns das Ergebnis der Volksabstimmung auch in der Position, am Kostendeckel festzuhalten. Wir zahlen nicht mehr als die im Finanzierungsvertrag vereinbarte Summe von gut 900 Millionen Euro. Dies ist eine freiwillige Leistung des Landes Baden-Württemberg. Aus einer freiwilligen Leistung erwachsen keine weiteren Verpflichtungen. Dies ist ein einstimmiger Kabinettsbeschluss von September 2011. Er wurde der Bahn sehr frühzeitig bekannt gegeben. Sie hat als Bauherrin die Verantwortung für das Projekt und wird für sämtliche Mehrkosten aufkommen müssen. Wir verlangen für den Fall, dass der Aufsichtsrat beschließen sollte, das Projekt fortzusetzen, darüber hinaus eine Garantie, dass das Projekt Stuttgart 21 durchfinanziert ist, sprich, dass die Bahn bereit und imstande ist, auch mögliche weitere Mehrkosten zu übernehmen." 

 

Andreas Schwarz (Die Grünen), stell-vertretender Fraktionsvorsitzender: "Die neue Umfrage zu Stuttgart 21 bestätigt nur unseren Eindruck von der Stimmung im Land. Im Gegensatz zur kürzlich veröffentlichten Umfrage für N 24 kann die aktuelle Umfrage als verlässlich angesehen werden. Die Befragten schätzen die schwierige Lage bei der Finanzierung des Bahnprojekts offensichtlich realistisch ein. Nachdem die DB AG die deutlichen Kostensteigerungen bei Stuttgart 21 eingestanden hat, fehlt bis heute ein Konzept der Bahn für die solide Finanzierung der fehlenden Milliarden. In der grün-roten Koalition ist klare Beschlusslage, dass die Beteiligung des Landes auf 930 Millionen Euro begrenzt ist. Die Bürgerinnen und Bürger sehen das offenbar genauso: Mehr Geld darf das Land nicht geben."

 

 

Claus Schmiedel. Foto: Martin Storz Claus Schmiedel (SPD), Fraktionsvorsitzender: "Diese Meinungsumfrage stellt aus meiner Sicht eine Momentaufnahme dar, so wie andere Umfragen auch, die in der jüngsten Zeit mit einem anderslautenden Ergebnis zum gleichen Thema veröffentlicht worden sind. Für die Politik bindend sind aber keine von wem auch immer in Auftrag gegebenen Umfragen, sondern die Volksabstimmung vom 27. November 2011. Das Ergebnis dieser Volksabstimmung gilt. Und dessen Votum war klar und eindeutig, sowohl in der Stadt Stuttgart wie auch im ganzen Land Baden-Württemberg."

 

Foto: Joachim E. RöttgersDejan Perc (SPD), Kreis-vorsitzender Stuttgart: "Das ist schon ein Paukenschlag, der hoffentlich bei denen, die immer als Argument ins Feld geführt haben, man setze nur den Wählerwillen um, zu einem Nachdenken führt. Wie es weitergeht? Da ist erst mal die Bahn gefragt. Solange da nicht ein Votum vom Aufsichtsrat erfolgt ist, ist es müßig, darüber zu spekulieren. Danach wird es spannend, wie sich die Parteien dazu positionieren."

 

Foto: Joachim E. RöttgersPeter Hauk (CDU), Fraktions-vorsitzender: "Für die CDU-Landtagsfraktion gilt das Ergebnis der Volksabstimmung. Die aktuelle Umfrage ist für uns ein deutlicher Beleg dafür, dass die ständigen Querschüsse und die Panikmache der Grünen in der Landesregierung die Menschen immer mehr verunsichern. Deshalb muss endlich Klarheit über die Kosten und das weitere Vorgehen herrschen. Die CDU-Landtagsfraktion steht auch weiterhin klar zu Stuttgart 21 und der Neubaustrecke. Die Projektpartner müssen endlich ihrer Förderpflicht nachkommen und Lösungen erarbeiten. Derzeit findet vonseiten der Landesregierung ausschließlich eine Problematisierung des Projektes statt. Diese wird weder dem Ergebnis der Volksabstimmung noch dem Projekt gerecht." 

 

 

 

Foto: Joachim E. RöttgersHans-Ulrich Rülke (FDP), Fraktionsvorsitzender: "Es gibt eine Reihe von aktuellen Umfragen zum Thema. Auch solche, die zu einem ganz anderen Ergebnis kommen. Überdies hat man spätestens mit der Niedersachsen-Wahl erkennen können, dass Schamanen, die das Innere von Tierkadavern analysieren, Wahlergebnisse genau so verlässlich vorhersagen können wie die Demoskopen. Insofern gilt: Es gibt einen Volksentscheid und jede Menge Parlamentsbeschlüsse zu Stuttgart 21. Alle sind eindeutig und sagen dasselbe. Das Projekt wird gebaut!"

 

Foto: Joachim E. RöttgersGangolf Stocker (SÖS/Die Linke), Gemeinderat: "Es gab immer eine deutliche, gefühlte Ablehnung des Projekts. Und das nicht nur auf den Demos. Für viele ist es aber nach wie vor eine Bauchentscheidung, das heißt, man weiß nicht so recht, was man glauben soll, aber Abzocke, da kann jede(r) mitreden, das kennt man. Übrigens: Die Zahl der Stuttgart-21-Kenner, also derer, die genau wissen, dass das Ding nie funktioniert, wächst stetig. Das durchschnittliche Wissen über dieses Projekt ist in der Bevölkerung ungleich höher als bei den politischen Entscheidern."

 

 

 

 

 

Foto: Joachim E. RöttgersWalter Sittler, Schauspieler:"Wird das Volk richtig informiert, weiß die Mehrheit die richtige Lösung. Bei der Mehrheit unserer Politiker verhält es sich umgekehrt: Je mehr belastbare Informationen, desto mehr bestehen sie auf dem Falschen. Steigende politische Macht löscht die Fähigkeit, die Grundrechenarten anzuwenden, offenbar aus. Der Bürger als Mensch spielt dabei ohnehin keine Rolle, der hat gewählt und soll die Schnauze halten."

 

 

Foto: Joachim E. RöttgersChristine Prayon, Kabarettistin. "Liebe statistische Männergruppe rechts von der Mitte! Viel habt Ihr in den letzten Jahren erreicht: Ihr habt Euch erfolgreich für Eure 9-mm-Wumme im Nachtschrank eingesetzt und tapfer gegen die Einführung eines Tempolimits auf deutschen Autobahnen gekämpft. Da ist es nur konsequent, dass Ihr auch die bahntechnische Penisprothese S 21 trotz Kostenexplosion als einzige Gruppe mehrheitlich immer noch befürwortet."

 

Foto: Joachim E. RöttgersWolfgang Dietrich vom Kommunikationsbüro des Bahnprojekts Stuttgart–Ulm: "Die journalistische Interpretation der von Kontext und der Berliner 'Tageszeitung' in Auftrag gegebenen Umfrage ist an Unredlichkeit kaum zu überbieten. Gezielt wird die Umfrage manipulativ genutzt, um das Ergebnis der Volksabstimmung oder bisheriger Umfragen, die zu einem komplett anderen Ergebnis gekommen sind, zu relativieren. Ein Stimmungswandel oder eine Meinungsumkehr lassen sich nicht nachvollziehen. Anerkannte Wahl- und Marktforschungsinstitute wie auch Emnid selbst sagen, dass man dazu dieselbe Fragestellungen wie bei der Volksabstimmung hätte stellen müssen. Das ist aber nicht passiert. Stattdessen wurde die Suggestivfrage nach der Weiterführung des Hauptbahnhofs ohne Angabe von dabei anfallenden Kosten gestellt. Das an sich ist schon eine unzulässige journalistische Verkürzung der Tatsachen."

 


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