KONTEXT:Wochenzeitung
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Kontext im Kontext

Pharisäer unter uns

Kontext im Kontext: Pharisäer unter uns
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Kontext entstand in bewegten Zeiten. Zehntausende demonstrierten gegen Stuttgart 21, die Grünen waren noch grün, nur die Medien blieben sich treu. Gründe genug für eine alternative Zeitung.

Ein großer Formulierer war Adrian Zielcke nie. Seine Sätze waren von Schlichtheit, aber auch von Klarheit geprägt, wenn er zur Feder griff. So schrieb er im Jahr 2010 die berühmt gewordenen Worte: "Ohne die Zustimmung der Stuttgarter Zeitung würde, so vermute ich einfach mal, Stuttgart 21 nie gebaut werden." Nun mag der leitende Redakteur dieses Blattes, verstorben im November vergangenen Jahres, die Bedeutung der Zeitung als Einflussagentin überschätzt haben, als Sprachrohr der herrschenden Elite nicht. Und die wollte das Milliardenprojekt. Dessen Gegner:innen, damals sehr viele, bestellten zuhauf ab.

In dieser Zeit entstand die Kontextwochenzeitung. Nicht erfunden wegen S 21, aber mit getragen von einer Zivilgesellschaft, die über den unterirdischen Bahnhof politisiert wurde und den Anspruch erhob, bei der Entscheidungsfindung beteiligt zu werden. Günstigerweise kam hinzu, dass der grüne Oppositionsführer Winfried Kretschmann versprach, dieses Ansinnen zu unterstützen auch beim Tiefbahnhof, den er damals als Ausdruck der "Arroganz der Macht" empfand. Danach, am 27. März 2011, wurde er tatsächlich gewählt. Stefan Mappus, die Symbolfigur der Wasserwerfer-CDU, musste abtreten. Zehn Tage später erschien die erste Ausgabe von Kontext.

Die erste Ausgabe war schon ziemlich weitsichtig

Eine Jubelnummer wurde es nicht. Eher verhalten näherten sich die Autor:innen dem Phänomen der vermeintlichen Rebellenhochburg, der Hauptstadt des Widerstands, den zu Zehntausenden demonstrierenden Mittelstandsbürgern (gegendert wurde damals noch nicht), und sie fragten sich, ob das "schwäbische Revolutiönchen" möglicherweise seine Kinder frisst?

Das war ziemlich weitsichtig, wenn man den Fortgang der "historischen Zäsur" (Kretschmann) betrachtet. Nach der Volksabstimmung war für ihn "der Käs' gässa", hatte sich ihm wieder einmal gezeigt, dass am Ende die Mehrheit, nicht die Wahrheit entscheidet und jetzt gebaut werden müsse. Aus seinem Kabinett durfte nur noch Verkehrsminister Winfried Hermann über die "größte Fehlentscheidung in der Eisenbahngeschichte" mosern, ansonsten galt das Prinzip der kritischen Begleitung.

Auch in den Zeitungen im Land sowie in der Sendeanstalt SWR kehrte wieder Ruhe ein. Die Leitartikler verlangten wie gewohnt nach demokratischer Gesinnung, die nichts anderes meinte, als sich der normativen Kraft des Faktischen zu ergeben. Für das "journalistische Totalversagen", das der ehemalige WDR-Intendant Fritz Pleitgen konstatierte, musste sich niemand mehr rechtfertigen, die regelmäßigen Kostensteigerungen wurden schulterzuckend zur Kenntnis genommen, und über die 614. Montagsdemo musste nun wirklich nicht mehr berichtet werden.

Im Kreis der Verleger ist Kretschmann der beste

Erfreulicher erschienen die Auftritte des Regierungschefs bei der baden-württembergischen Verlegerschaft, die allerorten ihr 75-jähriges Jubiläum feierte als reichgewordene Lizenznehmer der Alliierten, die sich eine freie Presse wünschten. Sie seien "konstitutiv für die Demokratie", sagte der Landesvater gerne, beziehungsweise verantwortlich für die Zeitung als "Morgengebet der bürgerlichen Gesellschaft". Das sei von Hegel.

Das mag glauben, wer ihren Imagekampagnen glauben will. Im November 2019 überraschte ihr Lobbyklub, der Verband Südwestdeutscher Zeitungsverleger (VSZV), mit gleichen Titelseiten von der "Backnanger Kreiszeitung" über die SWMH-Ableger bis zum Zollern-Alb-Kurier und der Botschaft: "Die beste Zeit für guten Journalismus ist jetzt." Soll heißen, wer ihre Blätter abonniert ist gefeit gegen Hass und Hetze, gegen Lügen und Fake News. Das sei sehr anspruchsvoll, meinte damals die Chefredakteurin der "Ludwigsburger Kreiszeitung", Ulrike Trampus, in einer Zeit, in der die Leute äußerst kritisch auf den Journalismus schauten. Da könne man doch nicht einfach sagen: "Wir wissen, wie alles funktioniert." Sie fehlte bei den Unterzeichner:innen.

Es ist nur ein Beispiel für das Pharisäertum in den Zeitungen, die heute Medienhäuser heißen, weil sie denken, sie müssten ein Gemischtwarenladen sein: aus Gedrucktem, Digitalen, Radio und Reisebüro, Brief- und Weinversand. In Wahrheit sind viele einfach nur kostendrückende Teppichhändler, die sich wundern, wenn ihre falschen Perser an der Haustür zurückgewiesen werden: Mir kaufet nix.

Die "Heilbronner Stimme" etwa ist so ein Blatt, das aus seinem Monopol Kapital schlägt, indem es abschafft, was Geld kostet. Die Tarifbindung zum Beispiel oder die eine oder andere Außenredaktion oder das Korrektorat. Die Gewerkschaft macht dann dicke Backen und spricht von "böswilligen Angriffen" auf die Tarifautonomie oder einem neuerlichen Kahlschlag in der Redaktion, aber das erschrickt Verleger wie Tilmann Distelbarth nicht. Der Tendenzschutz setzt die Mitbestimmung der Arbeitnehmer weitgehend außer Kraft, die Nähe zum Nachbarn Thomas Strobl (CDU) tut ein Übriges.

Warum immer mehr Frauen auf BHs verzichten

Dieser Distelbarth sagt dann Sachen wie, man müsse sich weniger in Richtung Werbekundschaft orientieren, mehr in Richtung Abonnent:innen. Das ist interessant, weil ersteres die Sichtweise stärkt, Zeitungen seien von solchen Verlegern schon immer als mit Texten garnierte Anzeigen betrachtet worden. Und zweiten daraus geschlossen werden könnte, dass jetzt die Leserschaft wichtig wird. Das allerdings ist nur insoweit richtig, als der Reklamemarkt in den Gazetten zusammengebrochen ist, die Beilagen von der AfD kein Ausgleich sind und die Klickzahl die neue Währung ist. Es gilt also, soviel User:innen wie möglich zu erreichen, am besten solche, die sich auf ein digitales Abonnement einlassen, das ihnen ein emotional aufregendes Dauerfeuer verspricht. In den Stuttgarter Zeitungsnachrichten finden sich dann Erklärstücke zu der Frage: "Warum immer mehr Frauen auf BHs verzichten". Weil es "viel geiler" ist, antwortet die Podcasterin Kim Hoss.

Das ist nicht neu. Damit startete das Privatfernsehen vor 38 Jahren. RTL-Chef Helmut Thoma lieferte damals schon das Erfolgsrezept aller Boulevardisten mit dem Spruch: "Im Seichten kann man nicht ertrinken." Der Köder müsse dem Fisch schmecken, nicht dem Angler. Neu ist, dass sich Zeitungsverlage, die vorgeben, die "Vierte Gewalt" zu sein, in dieses Fahrwasser begeben. Ohne rot zu werden. Wer’s nicht glaubt, möge den Brief von 227 Mitarbeiter:innen der "Stuttgarter Zeitung", der "Stuttgarter Nachrichten" und anderer einverleibter SWMH-Blätter nachlesen, den sie am 18. Februar 2022 an 20 Verlegerinnen und Verleger geschrieben haben. Sie protestieren gegen einen "radikalen Umbau", gegen eine "zunehmende Zuspitzung und Boulevardisierung", verheerend für Image und Glaubwürdigkeit. Eine Antwort haben sie nie bekommen.

Diese 20 beherrschen den baden-württembergischen Zeitungsmarkt – und werden nicht müde zu betonen, wie schlecht es ihnen geht. Aus der reinen Not heraus geboren seien sie, die Sparprogramme vorsorglich aufgelegt zur Zukunftssicherung. Ihrer Profite. Und hier gibt’s, nach langer Kurzarbeitszeit, gute Nachrichten. Laut dem Branchendienst "Kress Pro" hat SWMH-Geschäftsführer Christian Wegner seinen Gesellschaftern ein "höchst erfreuliches Ergebnis" präsentiert. Eine Rendite im zweistelligen Bereich. Nur weniger hoch soll sie im Stuttgarter Pressehaus sein, wo die Belegschaft demnächst ein Viertel weniger sein wird.


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