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Corona im Stimmengewirr

"Wir gehen nicht nach Hause"

Corona im Stimmengewirr: "Wir gehen nicht nach Hause"
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Niemand sei gehindert, seine Vernunft öffentlich zu gebrauchen, paraphrasiert Winfried Kretschmann den Philosophen Immanuel Kant. Die zweite Welle der Corona-Krise droht die Bereitschaft dazu zu schmälern – in der Gesellschaft, in der Politik, in den Medien.

Die sympathische Berlinerin im hellgrauen Hoodie hat es nicht leicht. "Wir sind Mitte zwanzig und gehen doch jetzt nicht nach Hause", erzählt sie bereitwillig vor laufender Kamera, "nachdem wir die ganze Woche gearbeitet haben." Auch in Hamburg oder in Düsseldorf, in München oder Stuttgart sind Fernsehteams unterwegs. Einigermaßen überraschend: Die Tonlage der Interviewten ähnelt sich. Mit deutlichem Übergewicht kommen diejenigen Jungen zu Wort, die die "Generation Feiern" vertreten, und diejenigen Älteren, die vor allem die grassierende Konfusion und die bundesweit uneinheitlichen Regeln beklagen. Es ist zwar nicht plausibel, dass es nicht viel mehr vernünftige und abwägende Stimmen gibt. Die bringen in der Einschätzung der Medienverantwortlichen aber ganz offensichtlich weniger Quoten und Klicks, also immer feste druff.

Schon seit Wochen, vor allem aber seit dem von "Bild" geschürten Hype um die Beherbergungsverbote ("Weg mit dem Ferien-Irrsinn", "Anwalt gibt heiße Tipps", "Berliner Familie verpfiffen"), verrutschen die Maßstäbe in der Berichterstattung gewaltig. Da will der SWR natürlich nicht abseits stehen. Für "Zur Sache Baden-Württemberg" zählt Alix Koch zuerst vergleichsweise sinnfrei die Menschen, die in der Stuttgarter Innenstadt keine Masken tragen. Und dann trifft sie investigativ Sophie und Patrick. Mehr als vier Minuten dürfen die beiden Bilder vom gutgefüllten nächtlichen Schlossplatz kommentieren oder von der überfüllten Töpferstraße. Ja ja, so geht es zu in der Innenstadt, bestätigen die beiden in immer neuen Varianten – allerdings mit nachgesprochenen Stimmen und anonymisierten Gesichtern als wären sie IS-AussteigerInnen. "Ich wollte nicht, dass sie Ärger bekommen, wenn sie mit mir reden", erklärt Koch die schräge Vorsichtsmaßnahme. Besser hätte sie Vernünftigen, die mit offenem Visier ihr Corona-Verhalten begründen, den gar nicht kleinen Sendeplatz eingeräumt. Vier Minuten sind lang in Radio oder Fernsehen.

In dubio pro mehr statt weniger

Die hätten auch genutzt werden können, um sich am heißen Thema Sperrstunde abzuarbeiten, womöglich sogar mit Zahlen, Daten, Fakten. Nach einer Verkürzung rufen viele, zumal solche, die nicht davon betroffen sind. Die längst und vielerorts belegten Konsequenzen kommen zu kurz: Partys und Feste werden unkontrollierbar in private Räume verdrängt, von den wirtschaftlichen Auswirkungen für WirtInnen mal ganz zu schweigen. "Wir wollen doch das Virus bekämpfen", sagt Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke), "und nicht die Gastronomie."

Noch grundsätzlicher und dringend nötig – der lange Corona-Winter steht noch bevor – ist die bisher zu kurz gekommene Aufklärung über den Unterschied zwischen einheitlichen Maßstäben in 16 Ländern und einheitlichen Maßnahmen. Ausgerechnet Thorsten Frey, der frühere Donaueschinger OB, heute Unionsfraktionsvize im Bundestag, verlangt nach "klaren Botschaften bundesweit". Dabei müsste er doch selbst am besten wissen, dass beispielsweise in Weimar, wo es in den vergangenen sieben Tage keine einzige (!) Neuansteckung gab, von Bevölkerung, Wirtschaft und Medien zu Recht niemals akzeptiert würde, was für Berchtesgaden mit 272 bekannten Infizierten auf 100.000 Einwohner im regionalen Lockdown jetzt für mindestens zwei Wochen gilt.

"Es geht darum", sagt Baden-Württembergs Sozialminister Manfred Lucha (Grüne), "dass die Leute wissen, was sie in ihrem Lebensbereich bei ansteigenden Zahlen erwartet." Das müsse verhältnismäßig sein, sonst kämen die Gerichte. Immerhin können alle Beteiligten darauf verweisen, und werden auch nicht müde, es zu tun, dass die Reaktionsstufen bei einer Inzidenz von 35 und 50 bereits vor einem halben Jahr verabschiedet und nie in Frage stellt worden seien. "Wir sind jetzt nicht in einer mikrochirurgischen Operation oder im Delikatessladen juristischer Feinwerkzeuge", sagt Lucha, "sondern in der Bekämpfung einer Pandemie." Und da gelte eben, "in dubio pro mehr statt weniger". Auf dieser Basis habe Baden-Württemberg es geschafft, schnell und effizient zu handeln.

Manche Botschaften taugten für die "heute-show"

Dennoch häufen sich Denkungenauigkeiten und -fehler, befeuert durch ebenso volksnahe wie überflüssige Umfragen von PassantInnen in Fußgängerzonen. Am Morgen, mittags, stündlich, am Nachmittag, abends und nachts flimmern die immer gleichen Botschaften über den Bildschirm, die in Nicht-Corona-Zeiten längst "heute-show"-Dauerbrenner wären: "Wir sind verwirrt, weil wir nicht wissen, was anderswo gilt." Winfried Kretschmann bringt den Irrsinn auf den Punkt: "Für uns ist es doch völlig wurscht, was Herr Laschet oder Frau Schwesig machen", so der Ministerpräsident, "außer für die, die nach NRW oder Meck-Pom fahren wollen." Und die, die fahren müssen oder wollen, haben im Internet-Zeitalter jede Chance, sich auf örtlichen Info-Seiten, auf jenen der Landesregierungen oder der Gesundheitsämter detailliert zu informieren – jedenfalls dann, wenn der Wille zum sinnerfassenden Lesen annähernd so groß ist wie vor dem Kauf eines Autos oder der Anschaffung des nächsten Smartphones.

Dazu entblättert sich ein nur noch diffuses Verständnis von Staatsaufbau und demokratischen Mechanismen, wenn selbst Dunja Hayali vom ZDF darauf besteht, dass Gesetze im Bundestag und nicht in der Regierung gemacht würden, obwohl sie doch sicherlich weiß, dass sich im Parlament die Mehrheitsverhältnisse widerspiegeln, die eine Regierung tragen. Auch eine zweite ZDF-Ikone des Infotainments bekam ihr Fett weg. "Wie schaffen wir es, dass der Journalismus sich darauf konzentriert, dass wir nicht 16 Dödel sind, die alle nur durcheinander reden, sondern 16 Leute, die acht Stunden hart gearbeitet haben", versucht Bodo Ramelow bei "Maybritt Illner" nach der Kanzlerinnen-Runde in der vergangenen Woche eine Klarstellung: "Die mediale Wahrnehmung, die ich heute von unserer Konferenz höre, ist eine ganz andere als die Sitzung, an der ich teilgenommen habe." Er sei es leid, dauernd Interviews geben zu sollen mit der zentralen Frage: "Warum seid ihr euch nicht einig?"

Tatsächlich ist die Wurzel dieser Uneinigkeit derselbe Föderalismus, der bei anderen Gelegenheiten – zu Recht – gerühmt wird als Garant für Vielfalt und geradezu erwünschten regionalen Wettbewerb. Hilfreich wäre es jedenfalls, agierte der Oberföderalist Söder im Südosten nicht nach dem schlagzeilenlüsternen Motto "Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln". Mal mehr Gemeinsamkeiten, mal weniger, mal Nein zur Aufnahme von Touristen aus Risikogebieten, dann doch wieder Ja. Selbst Kretschmann, sonst immer und über Parteigrenzen hinweg interessiert an der stabilen Südschiene, unterstellt dem Publikumsliebling aus Nürnberg andere als sachliche Motive, ohne Näheres zu verraten. Eine plausible Vermutung: Nach den Regeln des Politikbetriebs will Söder, selbst wenn er schlussendlich gar nicht aufzeigt in Sachen Kanzlerkandidatur, einfach bundesweit im Gespräch bleiben.

Im großen Stimmengewirr ist schwer durchzudringen

Würde Söder sein Plädoyer für eine Kompetenzverlagerung nach Berlin ernst meinen, hätte er in seinem schwäbischen Duzfreund allerdings einen erbitterten Gegner. Ausnahmsweise plaudert der Grüne aus dem Nähkästchen der Zusammenarbeit zwischen Abgeordneten und Staatsministerium. Gerade hat ihm eine Parteifreundin aus dem Parlament einen Brief geschrieben mit der Bitte, doch mehr Kompetenzen an sich zu ziehen, um dem Verwirrungsargument entgegenzuwirken. Sie geriet an den Falschen: Ob das auch gelte, wenn Susanne Eisenmann Ministerpräsidentin würde, wollte Kretschmann wissen. Natürlich nicht, antwortete die Abgeordnete und handelte sich einen ins Grundsätzliche gehenden Vortrag ein – über die Gefahr, die Übertragung von Entscheidungsmöglichkeiten auf eine höhere staatliche Ebene "zu verwechseln mit dem, was man für richtig hält". Denn eine solche Zuordnung gelte dann immer und prinzipiell, egal, "ob oben ein Schließer oder ein Öffner sitzt".

Also werden die Vernünftigen auf allen staatlichen Ebenen weiter versuchen, von ihren Fähigkeiten öffentlichen und differenzierenden Gebrauch zu machen, selbst wenn sie nur schwer durchdringen im großen Stimmengewirr. Und in einer Mediengesellschaft, in der der alte Traum von der anschwellenden politischen Informiertheit immer größerer Teile der NutzerInnen und damit der Bevölkerung längst ausgeträumt ist.

Als die Stadt Stuttgart die Marke von 35 riss und die ersten Verschärfungen angekündigt wurden, stand wieder eines dieser Kamerateams auf dem Schlossplatz. "Was sagen Sie zu den neuen Corona-Maßnahmen?", wollte eine junge Frau mit Mikro von einem etwa gleichaltrigen Blondschopf wissen. Nichts, reagierte der durchaus freundlich: Er leugne die Pandemie nicht, habe aber einfach viel zu viel im Kopf, um sich auf dem Laufenden zu halten. "Sicher" wieder einsteigen wolle er aber, "wenn es Verbote gibt". Der Dialog war noch nicht zu Ende: "Warum?" Weil gegen die zu kämpfen "wirklich Bürgerpflicht ist". Eine Einstellung, die schnurstracks in einen harten Winter führt. In einen besonders harten.


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4 Kommentare verfügbar

  • Andreas S
    am 21.10.2020
    Antworten
    Wann hören wir eigentlich mal Elite Epitemiologe von Stanford John Ioannidis zu ?
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