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Im Ernstfall vogelfrei

Im Ernstfall vogelfrei
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Der ARD-Reporter Richard Gutjahr wirft dem Intendanten des BR vor, ihn trotz jahrelanger Angriffe, Hetze und Morddrohungen von Neonazis und Verschwörungsfanatikern bewusst im Stich gelassen zu haben. Ein fatales Signal des Senders nach innen wie nach außen.

Vor drei Jahren wandte sich Richard Gutjahr an Ulrich Wilhelm (CSU), den Intendanten des Bayerischen Rundfunks (BR), und bat ihn um Hilfe. Sie sprachen über die Anschläge im Juli 2016 in Nizza und in München, die alles für Gutjahr veränderten. Dabei hatte er nur, wie er heute sagt, seinen Job gemacht. Daran erinnerte er Wilhelm jetzt, als er ihm am 31. Dezember einen offenen Brief schrieb und ihm wütend und enttäuscht vorwarf, er habe ihn und seine Familie im Stich gelassen. Ihn, der 22 Jahre lang als so genannter fester freier Mitarbeiter für den BR und die ARD um die Welt reiste, Beiträge produzierte und regelmäßig die Abend-Nachrichten im Bayerischen Fernsehen präsentierte.

"Sie hätten uns helfen können, hätten sich aktiv und für alle Welt sichtbar vor Ihren Mitarbeiter stellen können", wirft er dem Intendanten vor, der von 2005 bis 2010 Sprecher der Regierung Merkel war. "Stattdessen haben Sie weggeschaut – und das obwohl Sie als einer der Wenigen schon frühzeitig über alle Details, insbesondere über die antisemitischen Motive unserer Angreifer, bestens informiert waren."

Richard Gutjahr, 46, war immer gerne freier Journalist. Er produzierte zunehmend Beiträge für seinen Blog und war so nicht mehr abhängig von Aufträgen der Redaktionen. Die "Zeit" und das Grimme Institut zeichneten seine Arbeit als wegweisend aus; das "Medium Magazin" ernannte ihn zum Journalisten des Jahres. Er gilt als Vordenker des digitalen Wandels im Journalismus.

In Nizza machte er 2016 am französischen Nationalfeiertag Urlaub mit seiner Frau und seinem Sohn und filmte das Feuerwerk. Als es beendet war, bemerkte er einen Lastwagen, der auf eine Menschenmenge zusteuerte. Gutjahr filmte den Terroranschlag. 86 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt, Tausende traumatisiert. Gutjahr berichtete 24 Stunden lang, im BR und in der ARD. Seine Bilder gingen um die Welt. Zurück in München war er eine Woche später in der Nähe des Olympia-Einkaufszentrums, als ihn seine Tochter anrief, die in der Umgebung wohnte, und von Schüssen erzählte. Wieder berichtete Gutjahr.

Verschwörungstheoretiker recherchierten, dass seine Frau Jüdin ist, dass sie in Israel ihren Militärdienst bei einer Geheimdienst-Einheit absolviert hat. Sie fanden seine Tochter im Internet – auch, weil sie sich zu Wort gemeldet hatte – und fortan beschimpften sie Gutjahr und seine Familie in bald mehr als tausend Videos als kriminellen Abschaum. Der Journalist stieg – wie er schreibt – vom "Mitwisser, zum Drahtzieher bis zum Mastermind" hinter diesen beiden Terroranschlägen auf. Sie warfen ihm wahlweise auch vor, die Anschläge seien nur inszenierter Staatsterror, von Gutjahr global verbreitet.

Die größte Enttäuschung: Intendant Wilhelm

Zunächst hielt er still, bis er merkte, dass die Angreifer keine Ruhe geben, dass ihre Hetze und ihre Morddrohungen nicht aufhören. Erst als er die Attacken öffentlich macht und ihre Wortführer juristisch angeht, wird es ruhiger. Gutjahr beschreibt, dass ihm der Intendant und seine Mitarbeiter wiederholt mitteilten, sie dürften ihn juristisch nicht unterstützen. Das sei für ihn die größte Enttäuschung der vergangenen Jahre gewesen, sagte er bei einem seiner Auftritte.

Armin Wolf, Moderator des ORF, kommentierte: Der offene Brief klinge "leider furchtbar ... Man würde hoffen, dass ein Sender mit fast 1 Mrd Budget einem seiner bekanntesten Mitarbeiter gegen Morddrohungen rechtlich beistehen kann." Claus Kleber, das Gesicht des ZDF-heutejournals, twitterte: "Wenn ein aufrechter und mutiger Journalist wie Gutjahr an seinem öff-rechtl Haus verzweifelt, ist das ein Alarmsignal, das keine Ruhe lässt. Er hat Solidarität i.S.d. Wortes verdient." Klaus Brinkbäumer, ehemaliger Chefredakteur des "Spiegel" beklagte, Wilhelm habe Gutjahr "fallengelassen. Geopfert. Den Löwen zum Fraß vorgeworfen."

Richard Gutjahr macht dem Intendanten schwere Vorwürfe: "Wie mir aus unterschiedlichen Quellen berichtet worden ist, haben Sie in den nicht-öffentlichen Sitzungen wiederholt die Unwahrheit gesagt bzw. das Kontrollgremium des Bayerischen Rundfunks in die Irre geführt. Man habe meine 'Prozesskosten beglichen', soll da behauptet worden sein (eine entsprechende Aussage ist auch im Sitzungs-Protokoll schriftlich festgehalten). Dass das in Wahrheit meine private Rechtsschutzversicherung getan hat, die mir nach einem Jahr kündigte, wurde verschwiegen." Entgegen einer angeblichen Behauptung habe sich Wilhelm nie bei ihm entschuldigt.

Trifft das zu? Der BR dementierte die Vorwürfe. Die Geschäftsleitung und der Vorsitzende des Rundfunkrates hätten sich "in den letzten drei Jahren mehrfach und intensiv mit allen Facetten des Falles beschäftigt", hieß es. Gutjahr habe finanzielle Hilfe erhalten. Die wiederkehrende öffentliche Kritik von Gutjahr enthalte "keine neuen Aspekte und ist im Kern nicht zutreffend". Insbesondere weise man den Vorwurf der Lüge und Täuschung durch den Intendanten strikt zurück. Wo Gutjahr ins Detail geht, bleibt die Stellungnahme oberflächlich.

Lorenz Wolf, Vorsitzender des BR-Rundfunkrates, stützt den Intendanten und betont gegenüber Kontext: "Der Intendant hat ausweislich der Protokolle nie behauptet, dass der BR alle Prozesskosten getragen habe, sondern nur, dass der BR Herrn Gutjahr u.a. auch finanziell unterstützt hat. Im Jahr 2018 wurde im Rundfunkrat einmal der Hinweis gegeben, dass der BR Prozesskosten beglichen habe, deren Übernahme die Rechtsschutzversicherung von Herrn Gutjahr abgelehnt habe."

Der Rundfunkrat habe sich in seinen Ausschüssen und im Plenum im Rahmen seiner Aufsichtsfunktion mehrfach mit dem Fall beschäftigt, so Wolf. Wird er nun darauf dringen, dass die offenen Fragen aufgeklärt und öffentlich werden?

Wer wird noch kritisch über die AfD berichten?

Rechte Hetze und der Umgang der öffentlich-rechtlichen Rundfunksender damit und mit angegriffenen Mitarbeitern bewegen seit der Empörung über das "Oma Umweltsau"-Lied plötzlich die Republik. Dabei ist das Oma-Lied ein Sturm im Wasserglas. Der eigentliche Skandal ist der Umgang des BR mit Richard Gutjahr, vor allem auch, weil er gefährliche Signale an die eigenen Mitarbeiter und an die Öffentlichkeit sendet. Welcher Mitarbeiter wird noch kritisch über die AfD und rechtsextreme Gewalt recherchieren, wenn der Sender ihn nicht gegen Angriffe verteidigen mag? Wer glaubt noch einem hochbezahlten Intendanten und dessen Anstalts-Verantwortlichen, wenn man eigene Mitarbeiter bei ernsten Drohungen grundlos im Stich lässt?

Personalangelegenheiten werden nicht öffentlich beraten. Doch nun sind die Vorwürfe öffentlich und Vieles ist unklar: Mit welchem Ergebnis diskutierte der Rundfunkrat die Frage der Verantwortung gegenüber einem freien Mitarbeiter, der aufgrund seiner Berichterstattung für die ARD seit 2016 massiv und anhaltend angegriffen wird? Vor allem auch vor dem Hintergrund, dass die weltweiten Angriffe (wie Gutjahr schreibt) auch darin begründet seien, dass BR-Mitarbeiter das Rohmaterial von ihm unbearbeitet ins Netz stellten und trotz seiner Bitte nicht umgehend löschten? Mit anderen Worten: dass die Angriffe auf ihn angeblich auch wegen eines fehlerhaften Vorgehens des BR erfolgten? Teilte Intendant Wilhelm die Ansicht, dass hier teilweise auch ein Fehler beziehungsweise Verschulden des BR vorliege? Oder wies er die Schuld dafür Gutjahr zu, wie dieser schreibt? (Indem nämlich Gutjahr keinen fertig geschnittenen Beitrag geliefert habe.)

Der BR teilt mit: „Infos über das Video und Angaben über die Urheber der Stimmen im Hintergrund gab es von Herrn Gutjahr nicht. Die Kollegen haben mit den ihnen zur Verfügung stehenden Infos verantwortlich gehandelt. Nachdem Herr Gutjahr mit zeitlichem Abstand darauf aufmerksam machte, dass die Stimmen zu seinen Kindern gehörten (das war weder erkennbar noch bekannt), wurde noch in der Nacht das Video offline gestellt. Es handelt sich um ein Video von einem Attentat, insofern waren Schreie im Hintergrund nichts, was der Redaktion als ungewöhnlich hätte auffallen müssen. Journalistisch hat die Redaktion auch in der Nachbetrachtung keinen Fehler gemacht. Man kann nur handeln, wenn man die notwendigen Informationen hat. Die hatte der Kollege nicht. Inwieweit die nicht sofort gelöschten Stimmen wohl zu den Verschwörungstheorien geführt haben sollen, ist für den BR nicht nachvollziehbar.“

Der Rundfunkrat muss Rechenschaft ablegen

Ist es richtig, dass feste freie Mitarbeiter des BR grundsätzlich nicht juristisch von Seiten des BR vertreten und beschützt werden, wenn sie angegriffen werden? Das zumindest, so Gutjahr, hätten ihm der Intendant und leitende Mitarbeiter wiederholt als Rechtsposition des BR mitgeteilt. Kann das sein?

Der BR teilt dazu mit: „Journalistinnen und Journalisten – ob fest oder frei –, die im Auftrag des BR beruflich unterwegs sind, werden vom BR auch juristisch unterstützt. (...) Jeder Einzelfall wird sorgfältig geprüft und dann über das angemessene Vorgehen entschieden. (...) Die Geschäftsleitung, die Juristische Direktion und der Vorsitzende des Rundfunkrats haben sich (...) mehrfach und umfassend mit allen Facetten des Falles beschäftigt. Der Intendant, die Mitarbeitenden der Intendanz, der Juristischen Direktion und der Informationsdirektion, Direktoren und der Rundfunkratsvorsitzende haben viele, sehr ausführliche Gespräche mit ihm geführt und sich mit den Angriffen auf ihn befasst. (...) Allein im Referat Programmrecht hat sich der zuständige Kollege rund 25 Stunden mit der Prüfung etwaiger Ansprüche und einer zielführenden Strategie beschäftigt – deutlich mehr als in allen anderen, ähnlich gelagerten Fällen, die es selbstverständlich gibt. ARD-intern fällt der juristische Umgang mit Hass, Häme und Bedrohungen aus dem Netz in die Zuständigkeit der einzelnen Landesrundfunkanstalten.“

Hat Intendant Wilhelm den Rundfunkrat also teilweise irreführend informiert? Was sagen die Protokolle? Das ist ein Teil der offenen Fragen, die der Rundfunkrat klären müsste, um der Öffentlichkeit Rechenschaft abzulegen. Doch der Vorsitzende des BR-Rundfunkrates, Lorenz Wolf, teilt Kontext mit: "Der offene Brief enthält nichts Neues, so dass eine weitere Befassung des Rundfunkrats mit den Inhalten beim aktuellen Sachstand nicht angezeigt ist."

Werden nun einzelne Mitglieder des Gremiums Antworten verlangen? Harald Stocker, der den Bayerischen Journalistenverband in dem Gremium vertritt, betont, Richard Gutjahr verdiene "aufgrund der Anfeindungen und Morddrohungen von Rechtsradikalen und Verschwörungstheoretikern unser aller Solidarität." Er teile die Haltung seines Verbandes: "Die Sender stehen in der Pflicht, Freie Journalist*innen zu unterstützen, wenn diese im Zuge ihrer Berichterstattung Nachteile erfahren." Im Rundfunkrat habe er mehrfach "die Haltung vertreten, dass Richard Gutjahr im Umgang mit seinem Material keine Verfehlungen vorzuhalten sind." Es sei klar gewesen, dass sein Rohmaterial vor einer Veröffentlichung bearbeitet werden müsse. "Das Hochladen von Rohmaterial durch einen Sender in Soziale Netzwerke halte ich deshalb für einen Verstoß gegen die journalistische Sorgfaltspflicht." Er werde sich in diesem Sinne auch 2020 zum Fall Richard Gutjahr im Rundfunkrat äußern. Eine Klärung erwarten auch die Grünen, die SPD und FDP.

Richard Gutjahr bleibt bei seiner Darstellung und betont gegenüber Kontext: "Mir war es wichtig, in meinem offenen Brief Missstände anzusprechen, die ja nicht nur mich, sondern viele stumme und vom Wohlwollen ihrer Vorgesetzten abhängige freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betreffen. Mir wäre sehr daran gelegen, wenn wir gemeinsam an Lösungen arbeiten könnten, wie wir die Diskussionskultur im Netz und in unserem Land verbessern könnten. Das hatte ich dem BR so schon vor drei Jahren angeboten und das tue ich heute wieder."

 

Anmerkung: Nach Veröffentlichtung des Artikels erreichten uns noch Stellungnahmen des BR zum Umgang mit Gutjahrs Video-Rohmaterial und zur juristischen Unterstützung freier Mitarbeiter durch den BR. Der Artikel wurde daher am 10. Januar entsprechend ergänzt.

Der offene Brief von Gutjahr an BR-Intendant Wilhelm ist hier zu lesen.


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