KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Hallo Leser, noch da?

Hallo Leser, noch da?
|

Datum:

Youtuber Rezo, der Karl Kraus der Moderne, hat die alten Medien in die Sinnkrise gestürzt. Dabei versuchen die schon lange, ihrem drohenden Untergang durch geschmeidige Anpassung zu entgehen. Keine gute Idee, meint unser Autor.

Nicht dass sie es wirklich wissen wollten. Aber dieses Mal mussten sie es wissen. Denn bei den Rezo-Faktenchecks der gedruckten oder gesendeten, also der alten Medien ging es, genau genommen, auch um sie selbst. Tendenz bei allen, außer bei der fast masochistisch standhaften FAZ: Der herzerfrischende CDU-Aufklärer hat in vielem recht, nur argumentiert er manchmal ein bisschen zu undifferenziert und oberflächlich. Mit anderen Worten: Sympathischer Junge, dieser Rezo – aber doch gut, dass es uns gibt, die seriöse Presse, die das alles noch ein bisschen besser weiß.

Zeit für den Faktencheck der Faktenchecks? Geschenkt. Stattdessen eine nachträgliche Solidaritätsadresse an Annegret Kramp-Karrenbauer. Nicht dafür, dass sie im ersten Schreck nach "Regeln" für ungedruckte politische Äußerungen rief. Aber sehr wohl dafür, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass siebzig Zeitungsredaktionen zwei Tage vor einer Wahl so einen Aufruf wie "Die Zerstörung der CDU" gedruckt hätten. Das nämlich können wir uns auch nicht vorstellen. Kein einziges Medium der Alten Welt hätte das gedruckt oder gesendet. Nicht zwei Tage, nicht zwei Monate vor der Wahl. Sondern prinzipiell nicht.

Wundert sich da noch einer darüber, dass Menschen unter 60 sich nicht nur von den Volksparteien abwenden, sondern auch von den Zeitungen und vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen?

Bodenhaftung verloren

Ausflug nach Schaffhausen. Nicht wegen des Rheinfalls (der brodelt eh im Nachbarort Neuhausen), sondern wegen des Historikers Johannes Müller, der dort vor fast 250 Jahren zum ersten Mal das Phänomen "öffentliche Meinung" beschrieb – als "Volksstimme, deren Laut und Nachdruck der Schrecken der Despoten, das Gesetz bürgerlicher Vorsteher, ein wirksamer Trost für Unrechtleidende, und bey fallender politischer Freyheit für ganz Europa die letzte große Hoffnung wird."

Und es kam ja noch besser: Schließlich wurde sie sogar artikuliert, die öffentliche Meinung, als veröffentlichte Meinung, mit anderen Worten, als freie Presse. Aber: Wer im Zusammenhang mit Meinung von "veröffentlicht" redet, meint eben nicht einfach öffentlich zugänglich. Veröffentlicht klingt nach verlautbart, ja fast nach verordnet, von wem auch immer.

Volkes Stimme Ende 2018, erfasst in der Langzeitstudie "Medienvertrauen" der Uni Mainz: "Die Medien haben den Kontakt zu Menschen wie mir verloren", erklärten 27 Prozent der Deutschen (im Jahr davor waren es erst 18 Prozent), und 43 Prozent (Vorjahr 36) fanden, "dass die Medien die gesellschaftlichen Zustände ganz anders darstellen, als es die Bürger im eigenen Umfeld wahrnehmen."

Vertrauenstendenz insgesamt: fallend. Und Hoffnung? Hat wenigstens Michael Angele, Co-Chefredakteur des "Freitag", noch einmal in Schaffhausen gefunden und uns, in seinem Buch "Der letzte Zeitungsleser", ans Herz gelegt. Die Hoffnung hieß: "Der Narziss. Schaffhausens größte Zeitung." In Wahrheit war’s natürlich Schaffhausens kleinste Zeitung, auf Schreibmaschine geschrieben, und auf der Rückseite präsentierte sich der Verleger und einzige Autor: "Entdecken Sie Mich! Den großen Epiker, den engagierten Revolutionär, den packenden Reporter, den fesselnden Erzähler!" Eben darin, so Angele, "steckt schon etwas von den großen Verheißungen des Zeitungslesens."

Doch der Narziss ist tot.

Oder so: Der Schaffhauser Narziss ist tot, aber der Narziss als solcher samt seinen großen Verheißungen ist wieder geboren, mit blauen Haaren vielleicht oder anders coolem Youtuber-Outfit. Seine Schreibmaschine ist die Webcam und/oder die digitale Tastatur. Überhaupt sind die sozialen Medien nicht die Nachfolger der Druckerpresse, sondern der Schreibmaschine! Nicht digital oder analog macht den Unterschied, sondern Kollektiv oder Individuum; nicht obwohl, sondern weil er als Individuum wahrgenommen wird, schafft ein einziger neuer Narziss, was die großen alten Medien mit all ihrem Personal und Kapital so gut wie nie hingekriegt haben: Er versetzt die CDU in helle Panik – und die alten Medien in eine Kurzzeit-Hysterie, die sich bald zur Dauer-Depression entwickeln könnte.

Alles ok also, oder (aus der Alte-Welt-Perspektive) alles verloren?

Aus dem Spiegel-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1966: "In der repräsentativen Demokratie steht die Presse (…) zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern in Parlament und Regierung. Sie fasst die in der Gesellschaft und ihren Gruppen unaufhörlich sich neu bildenden Meinungen und Forderungen kritisch zusammen, stellt sie zur Erörterung und trägt sie an die politisch handelnden Staatsorgane heran, die auf diese Weise ihre Entscheidungen (…) am Maßstab der im Volk tatsächlich vertretenen Auffassungen messen können."

Konsens statt Kante

Wahnsinn! Die Presse soll echt von unten nach oben agieren, die Meinungen und Forderungen der Menschen artikulieren und sie den Regierenden zwecks Maßstabbildung hinter die Ohren schreiben? Wäre das so, wie heftig, bunt und lebendig müsste es in der Presselandschaft zugehen. Stattdessen: Zunehmend kultivierte Gedämpftheit, zunehmende Konsenspflege.

Aber woran bitte liegt das? An den Verlegern? Also daran, dass Zeitungsverlage in der Regel kapitalistische Unternehmen sind, die erstens Gewinne erwirtschaften wollen, zweitens auf Anzeigenkunden angewiesen sind, drittens wegen der Konkurrenz aus dem Internet und (sofern das nicht aufs Gleiche hinausläuft) wegen der rapid fortschreitenden Entalphabetisierung gegen ihren Niedergang kämpfen – und deswegen den Druck auf ihr journalistisches Personal verschärfen?

Antwort: Ja.

Aber nicht nur. In seinem glänzend recherchierten Buch "Mainstream" zitiert der Leipziger Medienwissenschaftler Uwe Krüger den heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier. Der murrte 2014 ausgerechnet auf einer Medienpreis-Gala: "Wenn ich durch den Pressespiegel meines Hauses blättere, habe ich das Gefühl: Der Meinungskorridor war schon mal breiter." Und: "Der Konformitätsdruck in den Köpfen der Journalisten scheint mir ziemlich hoch."

Das Problem pflanzt sich fort. Begegnet man ihnen persönlich, erscheinen zumindest die jungen Akteure der alten Medien nicht weniger cool und selbstbewusst als ihre Kolleginnen und Kollegen, die sich über die neuen Kanäle artikulieren. Innerhalb der Redaktionen aber sieht es erschreckend anders aus. Wo man hinschaut, nichts als Sachzwänge und Denkzwänge. Weil auch Papierzeitungen längst digital hergestellt werden, sind Setzer, Drucker, Layouter und Korrektoren aus dem Produktionsprozess geflogen. Den erledigt jetzt das schreibende Personal, und weil auch an dem streng herumgespart wird, erledigt es ihn nicht nebenbei, sondern umgekehrt: Nachdenken, Recherchieren und Schreiben sind zu bloßen Nebentätigkeiten geworden. Schindet einer doch einmal ein paar Stunden (de facto: Überstunden) dafür heraus, hütet er sich, mit seinem – seinem – Denken und Schreiben anzuecken. Er ahnt, oder er fürchtet zumindest: Die Kollektive, also die Redaktionen, die Peergroups und natürlich die Chefetagen lesen schon mit, bevor die erste Zeile formuliert ist.

Kein Vergnügen

"Alle einigen sich auf eine Interpretation, und der, der ihr nicht folgt, ist entweder ein Radikaler oder ein Verrückter." Sagt nicht irgendein Radikaler oder Verrückter, sondern Klaus-Dieter Frankenberger von der FAZ.

Wer immerfort am Konsens klebt, höhlt ihn aus.

Hallo Leser, noch da? Ja? Danke, es gibt sie also noch, die guten alten Zeitungsleser! Das Problem ist: Leser werden entweder selbst Teil des Mainstreams, eben durchs Lesen. Oder aber, sie erwarten trotz aller Gewöhnung mehr, wollen überrascht werden, wollen, dass auch mal Kante gezeigt wird, dass Ausbrüche stattfinden aus dem braven Konsens. Nützt ihnen aber nichts. Denn sie dienen, ob sie wollen oder nicht, dem Mainstream auch noch als Legitimation. Leserfreundlich schreiben!, heißt die Devise – und es ist eine miserable Devise. Denn sie nimmt die Leser gerade nicht ernst, traut ihnen nichts zu, keine eigenen Denkprozesse, kein Urteilsvermögen und darum in Wahrheit auch: kein Vergnügen!

Das zaghafte Kleben am Mainstream wird die alten Medien nicht retten. Retten könnten sie Autoren, die sich dem Anpassungsdruck der eigenen Redaktionen widersetzen. An wen erinnern wir uns, wenn wir an große deutsche Publizisten denken? An Maximilian Harden, der sich im Untertanenklima des deutschen Kaiserreichs nicht scheute, den Monarchen persönlich in die Schranken zu fordern. An Karl Kraus – als die tonangebenden Geistesgrößen 1914 unisono den Krieg begrüßten, überzog er sie unnachgiebig mit seinen Wut- und Intelligenztiraden.

Weil die großen Zeitungen das nicht ertrugen, gründeten Harden wie Kraus kurzerhand eigene Blätter, "Die Zukunft" und "Die Fackel", die sie praktisch im Einmannbetrieb gestalteten. Sie, und nicht die heutigen Leitmedien, sind die Vorgänger der kritischen Blogger und Youtuber.

Last but not least: Tucholsky.

Der große Querdenker Kurt Tucholsky schrieb und kämpfte und wütete und spottete nicht nur in der explizit linken "Weltbühne", sondern auch in höchst etablierten Zeitungen wie dem "Berliner Tageblatt" und der "Vossischen Zeitung".

Na also: Es geht doch. Zumindest theoretisch.


Rainer Stephan, 71, war Redakteur im Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung" und Streiflicht-Autor. Er schrieb mehrere Bücher über Italien und Frankreich.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


6 Kommentare verfügbar

  • Claus Blumstengel
    am 07.07.2019
    Antworten
    "Unsere Leser erwarten Erklärung und Orientierung", schrieb vor einiger Zeit der Chefredakteur einer ostdeutschen Regionalzeitung in einer Rundmail an die Redaktionen. Er hat natürlich unrecht. Die Leser erwarten wie vor 100 Jahren nicht "Erklärung und Information", sprich Propaganda, sondern…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!