KONTEXT:Wochenzeitung
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Dann vielleicht nächstes Jahr

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Hat nicht geklappt mit dem Theodor-Wolff-Preis für Kontext-Redakteurin Anna Hunger. Schade, aber nicht so schlimm. Hunger freut sich, dass auch ihr Lieblingstext unter den nominierten ausgezeichnet worden ist. Und Kontext ist happy, dabei gewesen zu sein. Ein Erlebnisbericht in eigener Sache.

Die Deutsche Bahn wäre nicht die Deutsche Bahn, wenn ihre Klimaanlage am bis dahin heißesten Tag des Jahres funktionieren würde. Also schwitzt ein ganzer Waggon vor sich hin – nur wenige Meter entfernt von der exklusiven Oase namens 1. Klasse, die, dank intakter Klimatisierung, wohltemperiert ist wie eine Bach-Komposition. Bald schon eskaliert in dieser aufgeheizten Gemengelage ein Streit zwischen Passagier und Bahnpersonal: "Ich bezahle für die Scheiße hier!", krakeelt ein aufgebrachter Fahrgast und behauptet, 40 lange Jahre als Dienstleister malocht zu haben. "Der Kunde ist König, verdammt! ICH BIN IHR KÖNIG!!", pflaumt er den armen Schaffner an, der seinerseits grummelt, also herumschubsen lassen, das wolle er sich auch nicht.

Mittendrin in dem Schnellkochtopf für die weniger Gutbetuchten: unsere dreiköpfige Kontext-Delegation, die partout nicht fliegen wollte. Also geht’s für den sechsfachen Preis (what the fuck, Verkehrspolitik?) um 5:02 Uhr in aller Frühe los am Stuttgarter Hauptbahnhof, auf nach Berlin. Dort wurde am vergangenen Mittwochabend der Theodor-Wolff-Preis verliehen, die  altehrwürdige Auszeichnung der Journalisten-Szene, das Vorprogramm begann schon am Mittag. Nominiert war auch Kontext-Redakteurin Anna Hunger, mit ihrem Artikel "'Sieg Heil' mit Smiley", der den Nachrichtenverkehr eines Rechtsextremisten und Neonazis öffentlich machte und die Strukturen beleuchtete, die es möglich machen, dass dieser stramme Faschist im Landtag von Baden-Württemberg Arbeit bei AfD-Abgeordneten findet. 

Insgesamt wurden 438 Texte eingereicht, 13 davon wurden nominiert, verteilt auf fünf Kategorien. Beim "Thema des Jahres: Welt im Umbruch – Demokratie in Gefahr?" sind neben Hungers Text noch zwei weitere in der engeren Auswahl gelandet: Peter Dausend, Redakteur der "Zeit", hat für seine Langzeit-Betrachtung "Mitten im Beben" vier Monate lang alle Bundestagssitzungen begleitet, um zu beobachten, wie sich die Diskussionskultur im Parlament durch den Einzug der AfD verändert. Andrian Kreye, Feuilleton-Chef der "Süddeutschen Zeitung", ist um die Welt gereist, besuchte das Silicon Valley und den Vatikan, um Innovations-Euphoriker wie -Apokalyptiker zu treffen und ein Stück über die Chancen und Risiken Künstlicher Intelligenz zu verfassen. Harte Konkurrenz, ist sich Hunger bewusst und glaubt im hitzigen Zugabteil nicht so recht daran, da gewinnen zu können. Immerhin: Ein Bahn-Mitarbeiter kommt in unseren Bruzzelwaggon hereingewatschelt und verteilt ein paar herzförmige Kekse an die Hitzegeplagten zweiter Klasse. "Lieblingsgast" steht auf der Verpackung.

Wir kommen, oh Wunder, beinahe pünktlich am Berliner Hauptbahnhof an. Ingrid Kolb, langjährige Leiterin der Henri-Nannen-Journalistenschule, sagte einmal, sie verachte zunehmend diese fürchterlichen "Klima-Einstiege" in Texte à la: "Es regnete an diesem Mittwoch Bindfäden." Denn wen interessiere schon das jeweilige Wetter? Na ja – uns. Ergo: In Berlin ist es schweinemäßig heiß an diesem denkwürdigen Mittwoch. Wirklich. Sehr. So sehr, dass die Berliner Verkehrsbetriebe auf Twitter überlegen, ob sie nicht die Preise erhöhen sollten – denn für einen Sauna-Besuch muss man ja auch deutlich mehr zahlen als für ein Kurzstrecken-Ticket.

Jedenfalls: Pünklich (!) um halb eins – und einen Ticken übermüdet – sitzt Redakteurin Anna Hunger im taz-Haus, beim gemeinsamen Mittagessen der Nominierten und der Jury-Mitglieder. Später gibt es noch eine Führung durch den im Oktober eingeweihten taz-Neubau von Verleger Kalle Ruch. Selten, kommentiert Anna Hunger, habe sie sich derart gut über die Vorteile von Beton zur Temperierung eines Gebäudes informiert gefühlt. Es hat etwas mit Wasser zu tun, erklärt taz-Geschäftsführer Andreas Marggraf später am Abend, und imitiert wild gestikulierend Verdunstungsphänomene, die sich durch Worte unmöglich ausdrücken ließen. Kalle Ruch, zuständig für Verlag und Hausbau der taz, steht neben ihm und lächelt selig.

Immerhin erfolgreicher als "FAZ" und "Spiegel"

Um 19 Uhr beginnen die Feierlichkeiten im Berliner Kulturzentrum "Radialsystem", das früher einmal ein Abwasserpumpwerk war. Günther Jauch ist auch da ("Kuck mal, da ist Günther Jauch!"). Ansonsten ist es – voll. "Da sitzt das Who-is-Who der Deutschen Presse", sagt Andrian Kreye von der "Süddeutschen Zeitung" bewundernd, der ganz vorne in der Reihe der Nominierten neben Anna Hunger sitzt, und lässt den Blick über die Zuschauerränge schweifen.

"Bitte hören Sie auf zu wedeln", begrüßt Moderator Jörg Thadeusz ein Publikum, das die Programmzettel zur Veranstaltung geräuschvoll als Fächer zweckentfremdet. Der Saal sei klimatisiert, behauptet Thadeusz. Gregor Peter Schmitz, Chefredakteur der "Augsburger Allgemeinen" und erster Preisträger 2019 für seinen Essay "Heimat-Schutz", entgegnet: "In bayerischen Bierzelten klappt das besser", da spreche er aus Erfahrung. Für jeden nominierten Beitrag ist ein Filmeinspieler vorbereitet worden, der an eine große Leinwand geworfen wird. Allesamt: großartig! Die SchauspielerInnen Friederike Becht und Andreas Pietschmann lesen Auszüge aus den Gewinnertexten vor. Eine tolle Atmosphäre. Den daheimgebliebenen Kontextlern, also Rest-Redaktion und Vereinsvorstand, morst Chefredakteurin Susanne Stiefel die wichtigsten Zwischenergebnisse im SMS-Liveticker.  

Als taz-Redakteur Christian Schulz für seine (wirklich herausragend gute, das sagen alle!) Reportage "Wir waren wie Brüder" ausgezeichnet wird, ist die hörbare Freude am lautesten: Im Publikum jubeln seine Ehefrau und viele taz-Kollegen, die (zufällig) neben der Kontext-Delegation und dem Mann von Anna Hunger saßen.

Bevor die Entscheidung beim "Thema des Jahres" fällt, gibt es Musik: Meret Becker, bekannt aus dem "Tatort", spielt ein Intermezzo auf einer singenden Säge und einem mit Wasser gefüllten Goldfischglas (oder ist es ein Whiskey-Schwenker?). "Hach, das Wasser hätte ich jetzt gerne", seufzt Peter Dausend von der "Zeit" links neben Anna Hunger. Damit zwischendurch kein Glas zu Bruch geht – wie es auf jeder Veranstaltung, die Gläser zulässt, irgendwann passieren wird –, mussten die Getränke draußen bleiben. Alle leiden.

Und dann endlich kommt sie, die Kategorie "Thema des Jahres" ... Trommelwirbel, Spannungsbogen, tatatatata! And the Winner is … Andrian Kreye. "Verdammt", simst Kollege Oliver Stenzel Sekunden später aus Stuttgart, "nicht traurig sein", schreibt Kontext-Autorin Johanna Henkel-Waidhofer. Sind wir auch nicht. Im Gegenteil: Dabei sein ist alles, findet Anna Hunger, die sich freut, als Vertreterin unserer Mini-Redaktion (sieben Leute plus freie AutorInnen) in einer Reihe gesessen zu haben mit den Schwergewichten der Medienbranche. Nussschälchen gegen Flaggschiff, oder so. Und sie gratuliert dem Kollegen Schulz von der taz, dessen Text sie im vergangenen Oktober, als er erschienen ist, in der Kontext-Redaktion verteilt hat: "Das ist eine wahnsinnig gute Geschichte, lest!" Auch für Andrian Kreye freut sie sich, "das war verdient". Wermutstropfen: Als Freundin der Netflix-Serie "Dark" ist sie ein bisschen traurig, dass Hauptdarsteller Andreas Pietschmann ihren Text nicht vorgelesen hat, "das wäre schon sehr cool gewesen", aber was soll’s. Wir trösten uns damit, in diesem Jahr wenigstens häufiger nominiert worden zu sein als "Spiegel" und "FAZ" zusammen.

Das alte Betriebsgeheimnis unserer Branche

"Scheiße" gehe es ihm, sagte Michael Jürgs am Telefon, noch bevor ihn sein Gesprächspartner danach fragen konnte. Davon erzählt Mathias Döpfner, BDZV-Präsident und Chef der Axel Springer SE, als es daran geht, den schwer erkrankten Journalisten Jürgs für sein Lebenswerk zu würdigen. Zur Preisverleihung konnte er nicht kommen – "ging leider nicht", lässt er aus einer Hamburger Palliativstation ausrichten. Die Bezeichnung "Vierte Gewalt" erschien ihm lange zu martialisch für den Journalismus, erzählt Jürgs in seinem Grußwort, das Döpfner sichtlich ergriffen verliest: "Jetzt aber, in Zeiten, da Barbaren unsere Zivilgesellschaft attackieren und vor Mord nicht zurückschrecken, ist es der passende Begriff." So werde die freie Presse, überall wo Despoten und Autokraten die Macht übernehmen, zuerst ermordet. "Unsere Waffen sind Wörter und Worte. Die werden gelesen. Wir sind Volkes Stimme. Nicht die anderen. Und wir sind die Mehrheit."

Laudator Michael Naumann, seit beinahe 56 Jahren mit Jürgs befreundet, berichtet von Jürgs' unverkäuflichem Stolz, vom "antifaschistischen Dissidentenruhm", an dem sie sich gemeinsam ergötzten, als eine ihrer selbstgedruckten Zeitschriften nicht mehr an einer Münchner Uni vertrieben werden durfte. Ganz besonders würdigt der Laudator Jürgs kritische Axel-Springer-Biografie: "Das Spannungsverhältnis zwischen Journalismus und Verlegern, dieses alte Betriebsgeheimnis unserer Branche, hat er auf eine Art und Weise offengelegt, die seither ihresgleichen sucht." (Die ganze Rede gibt es beim "Horizont" nachzulesen, zusammen mit einem ausführlichen Bericht zur Veranstaltung.)

Nach dem offiziellen Programm geht es über zum Feiern und Netzwerken. Unser Masterplan, die redaktionellen Reisekosten durch ungenierten Konsum von Gratis-Wurst, -Wein und -Bier am Buffet wieder reinzuholen, scheitert angesichts vorangeschrittener Alkoholisierung und überhandnehmender Müdigkeit: Noch vor Mitternacht ist Schluss für die Kontextler und Anna Hunger fragt zurecht: "Wie spießig sind wir eigentlich?" Aber wir sind ja jetzt auch quasi so was wie Establishment.

PS: Zurück nach Stuttgart ging's im Flixtrain. Günstig, pünktlich, und die Temperatur: perfekt. (Jetzt also auch noch Werbung in Kontext, na prima ...)


Und hier die drei Nominierten der Kategorie "Thema des Jahres: Welt im Umbruch – Demokratie in Gefahr?" im Video, vor der Preisverleihung präsentiert. Darunter alle Preisträger in der Übersicht. 

 

 

 

Der Theodor-Wolff-Preis 2019

Nominiert für den vermutlich renommiertesten Preis im deutschsprachigen Journalismus waren in diesem Jahr 13 Autorinnen und Autoren in fünf Kategorien. Zudem wurde der Journalist Michael Jürgs für sein Lebenswerk ausgezeichnet.

Kategorie "Reportage lokal"

Die Nominierten

Julius Betschka und Martin Nejezchleba mit "Die toten Babys von Neukölln", erschienen in der "Berliner Morgenpost"

Sebastian Dalkowski mit "Zwölf Meter über dem Meer", erschienen in der "Rheinischen Post"

Maris Hubschmid mit "Bis zum letzten Tropfen", erschienen im "Tagesspiegel"

Gewinnerin: Maris Hubschmid

Kategorie "Reportage überregional"

Die Nominierten

Marius Buhl mit "Bis zum Letzten", erschienen im "SZ Magazin"

Christoph Cadenbach mit "Der falsche Freund?", erschienen im "SZ Magazin"

Tina Kaiser mit "Der Volksvertreter", erschienen in der "Welt am Sonntag"

Gewinner: Marius Buhl

Kategorie "Meinung lokal"

Die Nominierten

Gregor Peter Schmitz mit "Heimat-Schutz", erschienen in der "Augsburger Allgemeinen"

Hannes Soltau mit "In betäubter Gesellschaft", erschienen im "Tagesspiegel"

Gewinner: Gregor Peter Schmitz

Kategorie "Meinung überregional"

Die Nominierten

Fabiene Hurst mit "Gönn's Dir, Genosse!", erschienen in der "Zeit"

Daniel Schulz mit "Wir waren wie Brüder", erschienen in der taz

Gewinner: Daniel Schulz

Kategorie "Thema des Jahres"

Die Nominierten

Peter Dausend mit "Mitten im Beben", erschienen in der "Zeit"

Anna Hunger mit "'Sieg Heil' mit Smiley"

Andrian Kreye mit "Berührungspunkte", erschienen in der "Süddeutschen Zeitung"

Gewinner: Andrian Kreye (min)


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1 Kommentar verfügbar

  • Rudi Schönfeld
    am 04.07.2019
    Antworten
    Liebe Frau Hunger,

    ich lese mit großem Interesse
    Ihre Geschichten in "Kontext" und hätte Ihnen die Auszeichnung für Ihren Text über den Neonazi sehr gegönnt.

    Herzliche Grüße
    Rudi Schönfeld
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