Reichelt stieg denn auch gleich mit einem Loblied auf die traditionellen Medien – natürlich vor allem "Bild" – ein: Gäbe es sie nicht, würde der Meinungsmarkt völlig vom Schmutz der Social Media dominiert. Eine erstaunliche These, wird doch die öffentliche Meinung seit Jahrzehnten – obwohl mit sinkender Auflage – vom Schmutz der "Bild"-Zeitung infiziert, der Mutter aller "Social Media". Reichelt weiter: Die "Bild" sei nur ein Player im Mediengeschäft, wolle "keine Liebe", soll umstritten sein und in verständlicher Sprache "sagen, was ist". Das berühmte Credo des "Spiegel"-Gründers Rudolf Augstein. Da ging schon ein Raunen durchs Publikum.
Es blieb nur kurz Zeit, Luft zu holen, denn Reichelt kam in seiner fast atemlosen Suada jetzt erst richtig in Schwung. Zehn Jahre habe er als Nahost-Reporter und in Asien sein "Leben riskiert", um wahrhaftigen Journalismus zu bieten, das wolle er mit "Bild" fortsetzen: "Alles, was ich mache, mache ich aus tiefer Überzeugung und nicht der Auflage wegen." Seine Zeitung nannte er in einem Atemzug mit der "Washington Post" und der "New York Times". Sein Journalismus, so Reichelt, bestehe nicht aus "langweiligem Zeugs", sondern aus "herausragenden Ereignissen", etwa der "Flüchtlingskrise", die den "Rassismus in den Menschen" stimuliere – links wie rechts. Und "sagen, was ist", bedeute auch, "zeigen, was ist" – etwa auch Täter und Opfer des islamischen Terrorismus. Nichts solle verborgen werden. Und "Bild" sei das einzige Medium, das solche Dinge deutlich mache. "Wir bringen ja auch Fotos von Lawinenopfern." Und so weiter und so weiter.
Bevor er sich völlig in seinem selbstreferentiellen Delirium verirrte, halfen seine Mitdiskutanten, das Kabarett komplett zu machen. Der Moderator stotterte mühsam ein paar unqualifizierte Fragen heraus, die zudem noch vom Thema wegführten. Der Presseratsvertreter verstand Ethik als empirische Untersuchung, und der Zentralratsvorsitzende Romani Rose ergriff die Gelegenheit, "Bild" für die Gesprächsbereitschaft gegenüber den Vertretern der Sinti und Roma – also ihm gegenüber – erst einmal zu danken und danach ein halbes Dutzend Mal darauf hinzuweisen, dass "die deutschen Sinti und Roma seit 600 Jahren in Deutschland leben" und "demokratische Werte vertreten".
Eine grandiose Schnapsidee
Für den Funktionär, so schien es, besteht die Frage der journalistischen Ethik heute hauptsächlich darin, dass bei der Berichterstattung in den Medien über kriminelle Ereignisse "nicht die Abstammung" genannt wird. Und dass die Opfergeschichte der Sinti und Roma zwar in der Politik angekommen sei, aber nicht beim deutschen Durchschnittsbürger. Und so redete er sich in Rage über die "Diskriminierung und Kriminalisierung", die Roma und andere erleiden müssen. Ethik und Moral im Journalismus?
Insgesamt eine makabre Gesprächsrunde, in der der "Bild"-Chef, der dreist und frech seine seltsamen Thesen vertrat, das Heft souverän in der Hand hielt und ununterbrochen quasselnd den anderen Mitdiskutanten das Wort nahm: "Ich will Sie nicht unterbrechen ..."
Am Erstaunlichsten aber war das Publikum. Zwar zwischendrin murrend und verhalten anklagend, doch letztlich gefangen in einem Setting des Anstands und des Unkundigen. Da stand niemand auf, zeigte die aktuelle Ausgabe der "Bild" und fragte etwa, was Artikel wie "Versöhnungssex im Affenhaus" an "herausragender Information" mit sich bringen. Niemand unterbrach den Berliner Dampfplauderer mit ebenso frechen Zwischenrufen. Man war froh, dass man es hinter sich hatte.
Tatsächlich ist zu fragen, wer im Heidelberger Dokumentations- und Kulturzentrum der Deutschen Sinti und Roma auf die grandiose Schnapsidee gekommen ist, mit einem Schmierenjournalisten – oder wie es Peter Zudeick im Deutschlandfunk formulierte: mit einer "Krawallschachtel" – über journalistische Ethik reden zu wollen. Am Tag danach jedenfalls war "business as usual" bei "Bild": "Wallach muss zum Hengst-Test", "Hund beißt Mädchen ins Gesicht" und "Ich wurde an katholische Geistliche verliehen". So ist er eben, der Boulevard.
4 Kommentare verfügbar
richter johann
am 21.08.2019