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Reichtum und Armut

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Was bleibt von Angela Merkel, wenn sie geht? Zum Beispiel eine Gesellschaft, in der sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter geöffnet hat. Das ist einer der Schlüsse, die Stephan Hebel in seinem neuen Buch "Merkel – Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft" zieht. Kontext veröffentlicht ein Kapitel vorab.

Eines scheint festzustehen: Seit Angela Merkels Amtsantritt sind die Deutschen reicher geworden. Viel reicher sogar. Damals, 2005, betrug das private Geldvermögen – dazu gehören Bargeld, Einlagen, Wertpapiere sowie Forderungen an Versicherungen – 4172 Milliarden Euro, also etwas über vier Billionen. Zur Jahresmitte 2018 lag es bei 5977 Milliarden Euro, also knapp sechs Billionen.

Aber stimmt es wirklich, dass "die Deutschen" reicher geworden sind? Die Antwort: Nein, bei Weitem nicht alle. Nicht nur bei den Arbeitseinkommen hat sich die Schere zwischen Arm und Reich in der Ära Merkel geöffnet, sondern auch bei den Vermögen. Selbst die Bundesregierung musste im Jahr 2017 feststellen: "Die Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung verfügen nur über rund ein Prozent des gesamten Nettovermögens, während die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte mehr als die Hälfte des gesamten Nettovermögens besitzen. Der Anteil dieses obersten Dezils ist dabei seit dem Jahr 1998 immer weiter angestiegen, am aktuellen Rand aber konstant." Auch falls die letzte Bemerkung zutrifft und die ungleiche Verteilung sich derzeit nicht noch weiter verschärft, heißt das im Klartext: Das Maß an Ungleichheit hat zugenommen, auch in der Ära Merkel, und von einer Umkehr dieser Entwicklung kann keine Rede sein.

Es kommt hinzu, dass die Statistiken zur Vermögensverteilung – wie die Bundesregierung selbst zugibt – wahrscheinlich das wahre Ausmaß der Ungleichheit gar nicht erfassen: "Die genannten Daten unterschätzen nach Expertenmeinungen die Vermögenskonzentration. Die Bundesregierung sieht hier weiteren Bedarf, die Datengrundlage zu verbessern", heißt es im Armuts- und Reichtumsbericht. Die Ungenauigkeit entsteht einerseits dadurch, dass die oberste Schicht der Vermögensbesitzer von der Personenzahl her zu klein ist, um in repräsentativen Befragungen angemessen abgebildet zu werden. Andererseits werden sie auch deshalb nicht immer zutreffend erfasst, "weil die Statistiken auf freiwilligen Befragungen basieren – und die Bereitschaft zur Teilnahme nachweislich sinkt, je reicher der Befragte ist".

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat diese Ungenauigkeit in einer Untersuchung zu korrigieren versucht, indem es vorhandene Schätzungen aus den gängigen Reichenlisten (wie zum Beispiel von "Forbes" oder dem "Manager Magazin") mit einbezog. Heraus kam, dass in Deutschland die 45 reichsten Haushalte so viel Vermögen besitzen wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Die obersten fünf Prozent besaßen demnach im Jahr 2014 nicht 31,5 Prozent, wie von der Europäischen Zentralbank errechnet, sondern 51,1 Prozent, und das oberste Promille verfügte nicht über 6,3 Prozent des Vermögens, sondern über 17,4 Prozent.

Zur Bilanz der Ungleichheit gehört schließlich noch der Umstand, dass am Ende der Skala auch die Zahl der Menschen mit Armutsrisiko wuchs. Waren 2005 noch 14,7 Prozent der Bevölkerung von Armut bedroht, so lag der Anteil 2017 bei 15,8 Prozent, und das nach Jahren des Wirtschaftswachstums. Im Armutsrisiko lebt nach offizieller Lesart, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens erzielt. Als ein Grund für den Anstieg wird immer wieder die verstärkte Zuwanderung der Jahre 2015 und 2016 genannt. Das ist sicher nicht falsch, aber so groß kann dieser Anteil auch wieder nicht sein, denn auch 2014 lag die Quote schon deutlich höher als 2005, nämlich bei 15,4 Prozent. Und statt die Menschen nach ihrer Herkunft einzuteilen, kann man auch ihre Lebenslagen betrachten. Hier zeigt sich, dass – neben Arbeitslosen – zwei Gruppen besonders stark von Armut bedroht sind: Menschen ohne Schulabschluss (46,4 Prozent) und Alleinerziehende (32,6 Prozent). Nicht nur nebenbei ist angesichts der letzten Zahl festzustellen: Armut im reichen Deutschland ist zu großen Teilen weiblich.

Wer glaubt, ein solches Maß an Ungleichheit wie in Deutschland sei eben international üblich, sollte einmal den internationalen Vergleich ansehen. Die Deutsche Bundesbank nannte die Ungleichheit bei den Vermögen hierzulande im Jahr 2016 nach einer intensiven Untersuchung "im internationalen Vergleich hoch". Und die Allianz-Versicherung, einem übertriebenen Hang zur Gleichmacherei sicher unverdächtig, stellt in ihrem "Global Wealth Report" fest, "dass sich in vielen europäischen Ländern die Vermögensverteilung in den letzten Jahrzehnten eher verschlechtert hat, wenn auch in geringerem Ausmaße als in den USA. Dazu zählen die Eurokrisenländer (Portugal, Griechenland, Irland, Italien und Spanien), aber auch die Schweiz, Frankreich und Deutschland. Komplettiert wird diese Liste von Ländern wie Australien und Japan – die Wahrnehmung, dass in den letzten Jahrzehnten vor allem die 'alten' Industrieländer unter einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich leiden, entspricht also in vielen Fällen durchaus der Realität." Die Autoren fügen dann noch einen Hinweis an alle hinzu, die glauben, dem zunehmenden Nationalismus in ihren Ländern sei durch Festhalten an einer Politik der Ungleichheit zu begegnen: "Kein Wunder daher, dass die Globalisierung in diesen Ländern weitaus kritischer gesehen wird als in den aufstrebenden Volkswirtschaften, die in Summe auch mit Blick auf die innerstaatliche Vermögensverteilung von der zunehmenden internationalen Arbeitsteilung profitierten."

Wenn schon ein Finanzkonzern sich wegen der ungleichen Vermögensverteilung Sorgen um den Kapitalismus macht, sollten doch selbst die Wirtschaftsfreunde in der Politik zumindest aufmerksam werden.


Der vorliegende Text ist ein Auszug aus Stephan Hebels neuem Buch <link https: www.westendverlag.de buch merkel external-link-new-window>"Merkel – Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft", das am 12. Januar im Westend-Verlag erscheint (128 Seiten, 14 Euro). Der Publizist Hebel, langjähriger Redakteur der "Frankfurter Rundschau", widerspricht darin der Behauptung, die Kanzlerin habe keine Agenda gehabt, und zeichnet am Beispiel zahlreicher Zahlen und Fakten die Spuren nach, die Merkels Neoliberalismus im Leben der Bürgerinnen und Bürger hinterlassen hat.


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