KONTEXT:Wochenzeitung
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Digital, Digital, Digital

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Die deutschen Zeitungsverleger ziehen kommende Woche mit großem Brimborium in Stuttgart ein. Die Gästeliste auf ihrem Jahreskongress reicht von Kretschmann über Löw bis Zetsche. Auch Kontext lässt grüßen.

Der linksradikale Megaphonchor PressLuft wird am 18. September 2017 pünktlich um neun Uhr mit einem langgezogenen Klageton seiner neun Tubas vor der Carl-Benz-Arena in Stuttgart aufziehen. "Zeitungskongress, Zeitungskongress, Zeitungskongress". Megaphone im Monolog mit sich selbst. Drei hohe Frauenstimmen setzen sich megaphon fort. "Digital, Digital, Digital". Aus neun Röhren bricht's dann volle Kanne heraus: "Pressefreiheit ist uns nicht egal!" Eine grüne Nebel-Patrone lässt den Flashmob im Blätterwald neben der Halle verschwinden. Man wird ja noch träumen dürfen.

Auf der Website des <link https: www.youtube.com external-link>BDZV-Zeitungskongress im vorigen Jahr in Berlin erhebt Günther Oettinger die scharfe Stimme. "Ihr Geschäftsmodell ist in Gefahr!", warnt der EU-Kommissar. Sein bedrohlich erhobener Finger ("digitalis medialis") setzt sich fort in des Zeitungspräsidenten Mathias Döpfners Rede. Wer nur auf Journalismus setze, verliere, sagt der Springer-Chef.

Ein Jahr später, also jetzt in Stuttgart, wird Renate Köcher vom Umfrageinstitut Allensbach sprechen. Sie ist eine der Professorinnen, die den Titel von Ministerpräsident Teufel ehrenhalber verliehen bekommen hat. Für die Suche nach dem verkaufbaren Wort ist sie prädestiniert. Schrieb sie doch ihre Dissertation zum Thema "Berufsethik von deutschen und britischen Journalisten". Das ist ein toller Ausgangspunkt, das "Modell Guardian.uk" gegen das "Modell Springer.de" zu stellen. Das eine steht für einen modernen Journalismus, der eisern dabei bleibt, dass kein werblicher Inhalt die gesellschaftliche Wirklichkeit im Medium verdünnt. Das andere führt uns in die digitalisierte Welt mit all ihren Beimengungen der Social Media zum Event-Journalismus.

Gutes Essen

Was Winfried Kretschmann (Grüne) der Medienbranche sagen wird, ist unschwer zu prophezeien. Dass Zeitungen brutal wichtig sind und die Presse- und Meinungsvielfalt auch. Die komplett anwesenden baden-württembergischen Verleger werden’s mit Wohlgefallen hören. Ähnliches wird man von Martin Schulz (SPD), Horst Seehofer (CSU) und Dieter Zetsche (Daimler) erwarten dürfen. Wie sich Joachim Löw, der Fußballbundestrainer, auf diesem Feld positionieren wird, ist noch unbekannt. Sicher ist aber, dass die "Nacht der Zeitungen", die im Mercedes-Benz Museum gefeiert wird, ein Höhepunkt werden wird. Wie die Organisatoren, die "Stuttgarter Zeitung" und die "Stuttgarter Nachrichten", versprechen, wird es ein "inspirierender Abend mit gutem Essen und interessanten Gesprächen in entspannter Atmosphäre". Schön, wenn wieder mal alle zusammen sind. Der Kongress beginnt mit einem Get-together im Marmorsaal im Weißenburgpark (Sonntag, 19 Uhr) und endet am Dienstag um 13 Uhr mit einem Mittagsimbiss in der Carl Benz Arena. (jof)

Was wäre mit einem Kongress, auf dem die Verlegerriege von Christine Bechtle-Kobarg über Valdo Lehari bis Georg Wallraf über mehr nachdenken würde, als über die digitale Zukunft, die vor allem eines bedeutet: die weitere Reduzierung der Gehälter der Belegschaft. Seit über 17 Jahren verzeichnen RedakteurInnen keinen absoluten Gehaltszuwachs mehr. Alle Branchen, vom Müllwerker über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bis zum Braugewerbe, sind mindestens mit dem Inflationsausgleich und einem kleinen Surplus in ihrem Geldbeutel beglückt worden. Festangestellte Journalistinnen und Journalisten an Tageszeitungen wurden fürsorglich bespart. Neben ihrer Mutation zum Sparschwein hat sich auch ihre Anzahl beträchtlich verringert.

Die Zahl der Freischaffenden zu nicht angemessenen Honoraren hat erheblich zugenommen. Dank der Künstlersozialkasse mit Krankenversicherung und einem Mindestrentenanspruch. Der Kulturrat nennt uns die Kontostände der freelancer nach der Beutelschneiderei. Und die Bilanzen der Verleger glänzen, allen Unkenrufen zum Trotz: von schwarzer Null bis tiefschwarz. Der Grundbesitz und das Tafelsilber wurden nie angerührt. Man lebt von dem Redaktionsmalus.

Neben dieser Klage steht die Anklage: In über zwanzig Jahren wurde kein Geschäftsmodell von großen Verlagen entwickelt, das Wahrhaftigkeit, Recherche, ausreichende Redaktionsbesetzungen, die Suche nach eigener Sprache und Form des Mediums Zeitung in Papier und digital zum Inhalt hätte. Jetzt schrumpft die Papierauflage, das Online-Medium stagniert, und nur die digitalen Dienste, die Produkte mit journalistischem Beiwerk verkaufen, laufen.

Es gab schon Besseres in Stuttgart. Bei ihrem sechswöchigen Streik in Baden-Württemberg, anno 2011, haben sich täglich 50 und mehr JournalistInnen in der St. Eberhard-Kirche getroffen und über ihre Zukunft nachgedacht. Tägliche Analyse des gestrigen Blattes gemeinsam, ehrlich, aber konstruktiv. Dialog mit dem Leser. JournalistInnen brauchen eine Lobby. Wer kann diese werden? MP Kretschmann? Die Parteien? Die Bürgerinnen und Bürger?

Es war eine Freude dabei zu sein. "Worte sind wertvoll" stand auf Plakaten. Oder: "Die Zeitung muss den Leser gern haben. Wer lustvoll schreibt, der schreibt auch gut". Es schien wie ein Aufbruch! Warum kein Journalisten-Kongress in der Eberhards-Kirche? "Lasst uns ehrlich sein vor dem Herrn, denn er hat das Wort lieb!" Wenn das kein Flashmob-Song für den Megaphon-Chor PressLuft ist, für eine bessere Zukunft im Blätterwald. Welcher Verleger träumt mit?

Gerhard Manthey war bis Ende 2014 Mediensekretär bei der Gewerkschaft verdi in Stuttgart. Er hätte gerne eine Demo vor der Carl Benz Arena organisiert, fand aber keine Mitstreiter.


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