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Wohl ungefähr bis zu

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Köln, Hamburg, Schorndorf – in dieser Reihe hätte man die ersten Meldungen über das Stadtfest in der Remstalgemeinde lesen können. Die falschen Schreckensnachrichten kamen von der Polizei. Sie wird lernen müssen, wie Pressearbeit geht. Vor allem in digitalen Zeiten.

"Die Polizei ist auf dem besten Weg zu einer optimierten Öffentlichkeitsarbeit", behaupten die Verantwortlichen im Innenministerium. Das klingt gut und war just an dem Tag, an dem das Aalener Präsidium in seiner Darstellung der Einsätze zurückrudern musste. Aber inhaltlich war es ohnehin nicht gemeint, sondern eher technisch: Der landesweite Internetauftritt der Landespolizeidirektion wurde neugestaltet, weil er, wie Präsident Gerhard Klotter meinte, "in die Jahre gekommen war". Nach Schorndorf stehen freilich noch ganz andere Umbauarbeiten an. Das Innenministerium hat eine interne Aufarbeitung der Kommunikationspannen in die Wege geleitet.

Seit der Polizeireform der grün-roten Landesregierung sind die zwölf Präsidien allein für ihre Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Daran hat sich nach Übernahme des Innenministeriums durch den CDU-Landesvorsitzenden Thomas Strobl nichts geändert. "Es gibt", erläutert ein Sprecher, "keine Vorgaben, außer dass Twitter und Facebook genutzt und offen und transparent informiert werden soll." Im Lichte der Schorndorfer Ereignisse hätte er noch ergänzen sollen, dass dazu auch Begriffe wie "verantwortungsbewusst" und "präzise" gehören.

Auch ohne eine interne Aufarbeitung ist klar, dass eine vergleichsweise epische Pressemitteilung der Aalener Polizei Auslöser der Lawine war. Versendet am 16. Juli, um 16.24 Uhr, mit allzu vielen schwammigen Botschaften, vor allem zur Nacht davor. Zwischen "20:00 Uhr und 03:00 Uhr" hätten sich "ungefähr bis zu 1000 Jugendliche und junge Erwachsene im Schloßpark", der an anderer Stelle Schlossgarten heißt, versammelt. Und weiter: "Bei einem großen Teil handelte es sich wohl um Personen mit Migrationshintergrund."

Wohl. Ungefähr. Bis zu. Das vage Gebräu wurde noch brisanter durch den Hinweis, dass "im Verlaufe der Nacht zahlreiche Einsatzkräfte aus umliegenden Landkreisen angefordert werden mussten, um dem massiven Aggressionspotential begegnen zu können". Und weiter: "Sexuelle Belästigungen, Widerstand und Flaschenwürfe gegen Polizeibeamte", die zur "Körperschutzausstattung" greifen mussten, um sich "vor Verletzungen zu schützen". Drei Tage später wird es in einer zweiten Pressemitteilung heißen, die erste habe "die bis dahin bekannten Ereignisse summarisch wiedergegeben". Es blieb bei den 1000 Jugendlichen und jungen Erwachsenen, während aus "der größeren Gruppe" (...) "überwiegend mit Migrationshintergrund" jetzt nur noch "ungefähr 100 Personen" wurden.

Polizeiminister Strobl: Bei dem klopft's nicht richtig

Der Schorndorfer Oberbürgermeister Matthias Klopfer hält auch Tage nach den Ereignissen an seiner Kritik der polizeilichen Verlautbarungen fest. Trotz oder gerade wegen der Verunglimpfung durch Innenminister Thomas Strobl, der die Ordnungshüter in einer Ausschusssitzung im Landtag pauschal in Schutz genommen und erklärt hatte: "Da brauchen wir aber von Lokalpolitikern – also bei dem klopft's nicht richtig – keine Belehrungen!" Klopfer, der früher Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion war, hat ziemlich genaue Vorstellungen davon, wie reagiert werden müsste auf die Ereignisse: "Wir benötigen dringend eine Taskforce, zum Beispiel beim Lagezentrum im Innenministerium, die in komplexen Lagen sofort übernimmt." Bundesweite Schlagzeilen, in denen die Geburtsstadt von Gottlieb Daimler und Reinhold Maier plötzlich als eine Art Klein-Köln oder Klein-Hamburg da stand, hätten seiner Meinung nach verhindert werden können, "wäre sachlich und ruhig informiert worden".

Erst recht im Netz. Unvorstellbare 44 Millionen Menschen hat der Hashtag Schorndorf weltweit erreicht. Auch im Rathaus wird aufgearbeitet. Mit einem Monitoring-Tool, das "sehr genau genaue Analysen" liefere, so Nicole Amolsch, die Leiterin des OB-Büros, sind bereits einige Details zu Tage gefördert worden. Klopfers eigene Facebook-Seite haben in den aufgeregten Stunden nach der ersten Pressemitteilung 130 000 Menschen gelesen, eine relativierende Mitteilung aus seiner – digitalen – Feder nahmen 160 000 User zur Kenntnis. 75 Prozent der Hashtag-Nutzer sind männlich, 81 Prozent der Tweets kamen aus Deutschland. Reagiert haben sogar Amerikaner. Tuscaloosa ist eine der sieben Partnerstädte der Remstäler. Derzeit sind Austauschschüler und -schülerinnen von dort zu Gast in Schorndorf. Keine 24 Stunden, nachdem die verhängnisvolle Polizeipressemitteilung das Licht der Welt erblickt hatte, meldeten sich besorgte Eltern aus Arizona mit der Frage, ob und wie sie ihre Kinder zurückholen sollten.

Schorndorf wird nur noch von Donald Trump geschlagen

Schorndorf zog immer weitere Kreise, wurde weltweit nur noch von Donald Trump geschlagen. Und dann bemächtigten sich auch noch Rechtsnationale, allen voran die AfD-Landtagsfraktion, der falschen Zahlen und zogen ihre Schlüsse – nach bekanntem Muster. Der Journalismusforscher Gerrit von Nordheim hat rund um die Amoktat im Münchener Olympiazentrum vor einem Jahr 80 000 Tweets ausgewertet und fand zwei "in sich geschlossene, parallele Deutungswelten". Während in der einen noch über Täter und Tat debattiert wurde, haben die Rechten und die Radikalen in ihrer Welt schon Medien und Politik als Verantwortliche ausgemacht. Nordheim zitiert im Interview mit der "Zeit" typische Einträge: "Der feuchte Traum der linksgrünen Blase ist geplatzt." Oder: "Danke an die SPD für die doppelte Staatsbürgerschaft." Oder jener mit der größten Reichweite: "Deutschland im Visier des islamistischen Terrors! Nun muss das deutsche Volk für die Fehler der Regierung Merkel bluten!"

Die Tonlage auf der Facebook-Seite des Aalener Polizeipräsidiums haben ähnliches Niveau. Für gewöhnlich wird hier eher munter getwittert und gepostet: Symbolbilder zu Kuriositäten ("Bestohlene Autofahrerin entdeckt schlagenden Dieb"), Hinweise, Tipps, Zeugenaufrufe. Am 19. Juli präsentiert das für Schorndorf zuständige Präsidium mit den Hinweisen "Bitte Teilen" und "Eilmeldung" und "Wichtige Mitteilung Ihrer Polizei" dagegen die Korrektur der ersten Darstellung. An den insgesamt mehr als 400 Kommentaren und den Kommentaren zu den Kommentaren seit dem 16. Juli kann das aber nichts mehr ändern: "Nur noch die AFD wird gewählt! Wir haben die Schnauze voll von dem Pack." Oder: "Danke für das deutliche Benennen und das Beschreiben der Täter. An sich eine absolute Selbstverständlichkeit, aber für linke Medien und Politiker hier trotz allem nach wie vor ein gefährliches Tabu. Da ist die Polizei denen ja meilenweit voraus." Oder: "Wetten, dass davon wieder nix in der Zeitung steht oder in den Nachrichten kommt." Oder, in missglückter Rechtschreibung: "Knüppel raus und drauf und ab in den Knast ohne wieder Rede."

Eine zahlenmäßige Benennung ist einfach schwierig

Nur aus Reaktionen wird deutlich, dass Einträge gelöscht sind. Auf die Frage, warum eigentlich der Text "über Nacht" geändert worden sei, mischt sich die Polizei in die Debatte ein, abermals mit einer dehnbaren Erläuterung: "Wir hatten ursprünglich geschrieben 'ein großer Teil'. Nachdem dies aber falsch interpretiert wurde und von vielen 'ein Großteil' daraus gemacht wurde, haben wir den Eintrag geändert. Eine zahlenmäßig genaue Benennung ist nur schwer möglich." Darüber hinaus halten sich die Social-Media-Verantwortlichen weitgehend zurück. Selbst aus der munteren Debatte darüber, dass Beamte im Einsatz das Recht bekommen sollten, auf jeden Angreifer sofort zu schießen.

Die Bayern sind hier deutlich weiter. Nicht nur, weil die Kommunikation der Münchener Polizei im Juli 2016, als ein 18-Jähriger neun Menschen tötete und viele weitere schwer verletzte, zur Blaupause für sachliche und transparente Darstellung geriet. Beamte werden auch von sich aus aktiv, zum Beispiel in Rosenheim, wenn Falschmeldungen kursieren. Sie haben den Banner "Fakenews" entwickelt, mit dem krude Geschichten versehen werden. Nicht nur um Präsenz zu zeigen, wie einer der Präsidiums-internen Experten erklärt, sondern auch um die "Deutungs­hoheit zurückzugewinnen."

Die Baden-Württemberger sind vorerst damit beschäftigt, sich für den neuen Internet-Auftritt der Landespolizeidirektion zu preisen. Zum Beispiel für den "Dienststellen-Finder", der die nächstgelegene Dienststelle anzeigt, ihre Erreichbarkeit und den Weg dorthin. Und der Innenminister verspricht: "Die Polizei ist der Freund und Helfer – auch online und bietet im Netz ein wichtiges Serviceangebot in puncto Sicherheit." Vorausgesetzt sie informiert verlässlich.

 

Hier die <link http: www.presseportal.de blaulicht pm _blank external-link-new-window>erste und die <link http: www.presseportal.de blaulicht pm _blank external-link-new-window>zweite Pressemitteilung der Aalener Polizei zu den Schorndorfer Ereignissen.


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6 Kommentare verfügbar

  • Andrea H.
    am 26.07.2017
    Antworten
    Wer sagt denn, das hier überhaupt ein "Fehler" vorliegt? Im direkten Kontakt mit der Polizei hier im Schlossgarten haben wir gelernt, dass man dort die Klaviatur zwischen Provokation, Eskalation und De-Eskalation aus dem Effeff beherrscht. Und nur, weil man sich damals wohl nicht bewusst war, dass…
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