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Krieg? Nein, Frieden!

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Nach dem Anschlag von Paris ist keine Zeit für Krieg. Es ist hohe Zeit für Frieden. Meint unser Autor, der tagelang vor Fernseher, Computer und hinter Zeitungen, von "Bild" bis zur "New York Times", gesessen und das Säbelrasseln satt hat.

Die westliche Wertegemeinschaft schlägt zurück: Krieg! François Hollande: Krieg! Bundespräsident Joachim Gauck: Eine neue Art von Krieg! Die NATO: Noch kein Krieg! Ist Letzteres ein winziger Lichtblick oder nur eine Frage der Zeit, weil der Westen und das US-amerikanische Militärbündnis den russischen Präsidenten Wladimir Putin (noch) nicht verärgern wollen oder noch brauchen?

ARD und ZDF folgen dem breiten Meinungsstrom der Politik. Es wird auch schon erwogen, dass das westliche Verteidigungsbündnis auch ohne UN-Mandat den totalen Krieg gegen die Dschihadisten des IS (Islamischer Staat) führen könnte. Denn: "Der kleine 9/11-Anschlag" in Paris am Freitag, den 13. November, mit so traurig stimmenden Toten und Verletzten, trifft uns ins demokratische Mark. Menschen, die gewaltsam sterben müssen, das ist immer traurig, wo immer es ist und wie viele es sind. "Der Terror ist nah. Terror in unserer Nachbarschaft!", trommeln tagelang unsere Medien.

Paris – drei Stunden mit dem TGV von Stuttgart entfernt. Polizeikontrollen in Straßburg, Frankreich für drei Monate im Ausnahmezustand. Hektische Fahndungsaktionen in Brüssel, in den Vierteln, die sonst nie ein Politiker besucht und wo die Ausgegrenzten und mutmaßlichen Attentäter lebten oder leben, wo die Dschihadisten eine Basis haben sollen. Und aus Frankreich kommen die Kommentare: Zornige indoktrinierte Jugendliche greifen zur Bombe, bestens geschult und als Waffe gegen ihr eigenes Volk missbraucht.

"Wir sind betroffen", "wir weinen für Frankreich", "unsere Demokratie wird angegriffen!" Die ersten Kommentare der Politiker.

Die Frage, die wir uns alle stellen müssen, ist aber: warum? Wer fing an, die Feinde der Assad-Regierung mit Waffen zu beliefern? Wen haben Präsident Barack Obama, die saudischen absoluten Herrscher, die EU und die Türkei herangezüchtet, und wer hat wieder einmal zu spät bemerkt, dass die Falschen bewaffnet wurden? Jene, die sich heute IS nennen. Wie verhandelt man mit diesen? Wie können ihre Interessen wirtschaftlich und gezielt bekämpft werden? Wenn die Europäische Union ein Wirtschaftsembargo erfolgreich gegen die russische Wirtschaft in Gang setzt, dann kann sie auch die Waffenlieferungen aus Deutschland an die Saudis unterbinden oder jene des NATO-Partners Türkei an den IS.

Dürre Sätze sind es, die Obama oder ehemalige Militärs an US-amerikanischen Universitäten als kleines Schuldeingeständnis da und dort zur Lage in Syrien äußern. Vergessen wurde wohl, dass im Irak das zerbrechliche Zusammenleben von Sunniten und Schiiten gewaltsam zerstört wurde. Dass das Militär und die Parteigänger Saddams Hussein wissentlich von der "Demokratisierung" des Irak ferngehalten, dem IS in die Arme getrieben wurden. Und so wiederholen sich die gleichen Fehler wie in Afghanistan.

Dagegen steht die andere Wertegemeinschaft, Iran und Russland, die andere Interessen hat als die rohstoffschützenden Weltmächte USA und EU und die religiösen Dogmenverwalter aus Saudi-Arabien. Der "Westen" liefert Waffen an alles, was sich Opposition gegen Assad nennt. Und Russland bombt für seinen Verbündeten Assad.

In Beirut mordet der IS zur selben Zeit – ein Nichtereignis

In Beirut waren am 13. November 2015, nur einige Stunden früher, die Dschihadisten des IS mit Bomben zur Stelle – wie in Paris: 49 Tote, 240 Verletzte. ARD und ZDF berichten nur über Paris. Nur wenige Zeitungen informieren über den Anschlag in der libanesischen Hauptstadt. Unter den dort ermordeten Kindern, Frauen, Jugendlichen, Männenr waren kaum Christen, und Beirut ist weit weg.

"Was weit entfernt ist, beunruhigt uns nicht. Was uns nahe ist, berührt uns", erklärt zu später ZDF-Stunde der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen aus Tübingen, und der hauseigene "Terrorexperte" Elmar Theveßen meint, die Morde des Dschihad in Beirut würden "kaum eine Rolle spielen für unser Zusammenleben hier". So werden Nachrichten gewichtet, so kommen Ereignisse vor oder kaum oder gar nicht.

Und wieder fragt der Leser, Seher und Hörer: Aber was ist, wenn der ausgebombte Syrer, Libanese, Libyer, Jemenite als Mensch ohne Dach über dem Kopf, als vertriebener Jeside, Kurde, Alawit oder Schiit bei uns um Asyl ersuchen muss? Und "wir das nicht mehr schaffen"? Dann haben wir die Folgen der deutschen, der europäischen und US-amerikanischen Politik zu wenig ernst genommen. Denn wenn wir dort wirtschaftlich und mit Waffen Einfluss nehmen, aus den verschiedensten machtpolitischen Gründen unseres Exportes der westlichen Wertegemeinschaft, dann muss auch die von uns losgetretene Schäuble'sche "Lawine" irgendwann hier ankommen.

Es ist keine Zeit für Krieg! Es ist hohe Zeit für Frieden – und zuerst in Syrien, Jemen, im Irak, Libanon. Je schneller, desto besser, damit mit unserem Geld dort die Städte wieder aufgebaut werden können. Mit von den Bürgern gewählten Regierungen, auch wenn diese nicht unserem Geschmack entsprechen. Dann brauchen wir auch keine Seehofers, die den Zuzug von Flüchtlingsfamilien verhindern wollen.

Eine Szene auf dem Treffen der Politiker aus den 20 führenden Staaten dieser Welt in Antalya hat mir etwas Hoffnung gegeben: Barack Obama und Waldimir Putin haben, zumindest vom Augenschein her, ernsthaft miteinander gesprochen. Das ist ein Anfang. Ein weiterer wäre, wenn die mit solider und stiller Tatkraft arbeitende Oberbürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, mit ihren Bürgermeister-Brüdern und -Schwestern von Beirut, Aleppo, Brüssel und Bagdad zusammenkäme und ein Zeichen für Frieden und Integration setzen würde: "Wir sind Beirut."

Einen guten Anfang hat der französische Karikaturist Joann Sfar gemacht: "Freunde auf der ganzen Welt, danke für den Hashtag Pray for Paris", hat er geschrieben, "aber wir brauchen nicht mehr Religion – unser Bedürfnis geht nach Musik, Küssen, Leben, Champagner und Freude." Und wir gehen nach den Anschlägen in Beirut und Paris auf die Straßen. Alle, für den Frieden überall.

 

Gerhard Manthey war lange Mediensekretär bei Verdi und vertritt die Gewerkschaft weiterhin bei dem deutsch-französischen TV-Sender Arte, dessen Hauptsitz in Straßburg ist. Er ist auch Mitglied im Kontext-Vorstand.


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14 Kommentare verfügbar

  • Peter S.
    am 24.11.2015
    Antworten
    Danke an gast und schwabe.
    Solange die USA in ihrem hemmungslosen und brutalem Expansionsdrang auf Kosten Europas die Strategie von Regime Change im Nahen Osten (und der Ukraine) vorantreibt, bleibt der Ruf nach Frieden naiv.
    Eine IS entseht nicht über Nacht und kannn sich ohne massiven und…
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