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Begleitbüro-SOUP-Ausstellung, Oberwelt Stuttgart

Die ewige Wiederkehr des Scheiterns

Begleitbüro-SOUP-Ausstellung, Oberwelt Stuttgart: Die ewige Wiederkehr des Scheiterns
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Jeder Versuch, ein Perpetuum mobile zu konstruieren, ist aus physikalischen Gründen zum Scheitern verurteilt. Doch daraus lassen sich unendliche Energien gewinnen, sagt der Künstler Kurt Grunow, der sich im Kunstraum Oberwelt auf die Spuren von Harry Walter begibt.

In der Stuttgarter Kulturszene war Harry Walter ein Unikum: Künstler, Mitbegründer des Stuttgarter Künstlerhauses, ein scharf beobachtender Autor und ja, man kann sagen: auch Philosoph. Hatte er doch bei Max Bense studiert, der genauso schwer einzusortieren war wie er. Vor mehr als einem Jahr ist er gestorben, doch sein Nachlass ist noch immer eine unerschöpfliche Fundgrube. Zumindest für seine Künstlerkolleg:innen vom Begleitbüro SOUP (Stuttgarter Observatorium urbaner Phänomene), gegründet im Zuge der Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21.

In der Oberwelt, einem kleinen Kunstraum im Stuttgarter Westen, hat nun SOUP-Mitglied Kurt Grunow diese Wunderkiste geöffnet, um eine unvollendete Arbeit Walters – nein, nicht abzuschließen, sondern fortzusetzen. Denn genau darum geht es: Künstlerische Arbeit erzeugt einen Überschuss an Energie, die sich nie erschöpft, da sie selbst aus dem Scheitern noch neue Funken zu schlagen vermag. "Notizen zum Perpetuum mobile" ist ein unveröffentlichter Manuskript von Harry Walter betitelt, das diesem Gedanken nachgeht.

Als "Theoriefeld 1" ist die Ausstellung angekündigt. "Eine Skulptur als Modell eines Meta-Kunstwerks" will sie sein. Alles klar? "We are still confused, but on a higher level", lautet der Ausstellungstitel. Zu Deutsch: Wir sind immer noch verwirrt, aber auf einer höheren Ebene.

Verbeulte Bleche an pinken Holzlatten

Wer die Oberwelt betritt, stolpert nun zuerst über ein Holzgestell in Pink, auf dem dieses Manuskript ausliegt: Hindernis und Sitzgelegenheit zugleich, auf der die Besucher:innen Platz nehmen, als Grunow zur Eröffnung daraus vorliest. Holzlatten in Pink rahmen auch den Durchgang zum zweiten Raum. Verbeulte und angerostete Bleche sind daran befestigt, Überreste eines 1995 auf dem Areal des Echterdinger Flughafens aufgefundenen Flugzeugs aus dem Zweiten Weltkrieg.

Die Rauminstallation stammt von Mark Steffen Bremer, auch er SOUP-Mitglied, und antwortet auf die Arbeit des mit Walter befreundeten Industriedesigners Günther Böhme, der seit den späten 1970er-Jahren an einem Perpetuum mobile gebaut hat. Er kam nie zum Ziel, doch immer wenn die Maschine ins Stocken kam, baute er weitere Teile an, um das Problem zu beheben.

Walter lud Künstlerkolleg:innen ein, auf Böhmes Werk zu reagieren. darunter Jens Lyncker, der die Maschine fotografiert, Matthias Beckmann, der sie gezeichnet hat, und eben auch Bremer.

"Harry Walter und Mark Steffen Bremer gehören noch einer Generation an, die über ihre Eltern Krieg als prägendes Moment erlebt haben", erklärt Oberwelt-Betreiber Peter Haury. Doch was hat das nun mit dem Perpetuum mobile zu tun? Bremers Arbeit ist offenbar die Antithese zu der Idee, eine Maschine zu bauen, die endlos weiterläuft. Jeder noch so hochfliegende Versuch, mit Maschinenkraft die Welt zu erobern, ist offenkundig zum Scheitern verurteilt, das beweisen die Flugzeugbruchstücke ebenso wie der Verlauf der Geschichte.

Bremers Installation hätte ursprünglich in Schloss Untergröningen ausgestellt werden sollen. Das kam wegen Corona nicht zustande. Dann erkrankte der Künstler und konnte seine Arbeit nicht vollenden. Nun hat Grunow, den eine lange Zusammenarbeit mit Bremer verbindet, sie fertiggestellt. Immer auf den Spuren von Harry Walter hat er auch selbst einige Arbeiten beigesteuert, vor allem jedoch das Konzept der Ausstellung. Sie steckt voller nicht immer auf Anhieb erkennbarer Bezüge.

Nietzsche in Modellbauschienen

Zwei Modelle einer Eisenbahnanlage korrespondieren mit zwei dazugehörigen Fotos. Das eine zeigt eine Modellbahnanlage mit Harry Walter als Kind. Davor ist das etwas ramponierte Modell einer Brücke angebracht, die auch auf dem Foto zu sehen ist. Im zweiten Fall handelt es sich um eine Bergkapelle, die sich im Original, wie Walter herausfand, am Silvaplaner See im Schweizer Engadin befindet, unweit des Felsens, an dem Friedrich Nietzsche nach eigenen Angaben die Idee einer ewigen Wiederkunft des Gleichen in den Sinn kam.

Walter hat dies in Vorträgen und Installationen mehrfach thematisiert. So zeigt die Ausstellung ein Video zum "Einläuten neuer Epochen". Mehrere identische Modelle der Bergkapelle sind zu sehen: Bausätze der Firma Faller, während die Glocken läuten. Eine liegende Acht aus Modellbahnschienen, freilich nicht befahrbar, da an der Kreuzung eine über der anderen liegt, trägt den Titel: "Die Wiederkehr des Gleichen". Das Unendlichkeitssymbol als Sinnbild der Unmöglichkeit eines Perpetuum mobile.

Damit sind der Nietzsche-Anspielungen noch nicht genug, im zweiten Raum hängt ein Zitat des Philosophen zur "Zukunft der Wissenschaft" über einer Postkarte. Darauf ist ein Raupenfahrzeug zu sehen, das über einer Gletscherspalte hängt: Es war der dramatische Höhepunkt der Trans-Antarktis Expedition von Vivian Fuchs und Edmund Hillary Mitte der 1950er-Jahre, "Kämpfen, suchen, finden und nicht aufgeben" steht darunter. Der Spruch stammt von einem Holzkreuz, das an einen früheren, gescheiterten Versuch erinnert: Robert Falcon Scotts Terra-Nova-Expedition um 1912. Im englischen Original lautet er: "To strive, to seek, to find, and not to yield".

Verzweiflung immer nur für ein paar Stunden

Wer genau hinsieht, findet ganz ähnliche Worte an drei metallischen Scheiben, die mit einer weiteren gelben aus Holz zu einer Wandinstallation verbunden sind. Es handelt sich um ein Modell nach einer Zeichnung des proto-expressionistischen Dichters Paul Scheerbart, der um 1900 über viele Jahre hinweg versuchte, ein Perpetuum mobile zu konstruieren. 1910 hat er darüber ein Buch veröffentlicht, von dem Harry Walter die Originalausgabe besaß – in der Ausstellung vertreten durch den Sammelband "Meine Welt ist nicht von Pappe".

"Ich verzweifle immer nur für ein paar Stunden", zitiert Grunow den Autor, der sich durch physikalische Einwände von seinem Vorhaben nicht abbringen ließ, da er diese, wie er schreibt, sowieso nicht verstehe – aber dafür seine Frau zur Verzweiflung trieb. Ist es ein Zufall, dass Scheerbart in der expressionistischen Zeitschrift "Die Aktion" 1911 auch eine "Venus-Novellette" unter dem Titel "Die neue Oberwelt" veröffentlichte? Wohl kaum.

Für Grunow ist die Oberwelt ein "notwendiges Produktionsmittel, das unbedingt erhalten werden muss bis in alle Ewigkeit". Zwar sei Kunst nicht dazu da, praktische Aufgaben zu erfüllen. Insofern würde es völlig ausreichen, wenn Ausstellungen nur ein Expertenpublikum ansprächen. Doch dann heiße es immer: "zu kompliziert, zu intellektuell". Deshalb habe er sich bemüht, in den Wandtexten alles zu erläutern, frei nach Joseph Beuys, der gesagt hat: "Ich bin auf der Suche nach dem Dümmsten."

Wer nach dem Besuch der Ausstellung dennoch weiterhin verwirrt ist, ist immerhin auf einer höheren Ebene verwirrt.


Die Ausstellung "Theoriefeld 1" in der Oberwelt, Reinsburgstraße 93 in Stuttgart-West, läuft bis 29. November. Öffnungszeiten: montags 21.30 bis 24 Uhr, am 14. und 21.11. jeweils 14 bis 18 Uhr, am 23.1. von 14 bis 21 Uhr sowie am morgigen Donnerstag, 13.11. von 16.30 bis 18 Uhr, bevor das Begleitbüro Soup im Künstlerhaus, Reuchlinstraße 4b, einen "Salon Brasilien, extended" zu der von Harry Walter verfolgten Idee des Unterlassens veranstaltet – Anmeldung unter info--nospam@begleitbuero.de.

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