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Die "Odyssee" des Stuttgarter Bürgerchors

Zu Hause, nun endlich!

Die "Odyssee" des Stuttgarter Bürgerchors: Zu Hause, nun endlich!
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Das Crowdfunding hatte bereits sein Ziel erreicht, der Aufführungstermin war gesetzt, dann kam Corona. Nun, fünf Jahre nach der Uraufführung im türkischen Marmaris, bringt der Bürgerchor die "Odyssee" auch in Stuttgart auf die Bühne.

"Pallas Athene ging zu der großen Stadt Lakedaimon, dass sie den rühmlichen Sohn des hochgesinnten Odysseus reizte, des Vaterlands zu gedenken und wiederzukehren", rezitiert die linke Hälfte des Chors aus der Odyssee. "Und Telemachos lag mit Nestors blühendem Sohne ruhend vor dem Palast Menelaos', des Ehregekrönten", fährt die rechte Hälfte fort. Der Bürgerchor Stuttgart, ein kleines Ensemble mit großem politischen Anspruch, probt im Esslinger Central-Theater: eines der ältesten Kinos im Lande, das noch viel von seiner originalen Einrichtung bewahrt. Passenderweise auch eine antike Theatermaske aus Stuck an der Wand.

Die Uraufführung des Stücks in der Türkei ist fünf Jahre her. Damals, nach dem gescheiterten Putschversuch 2016, nach zehntausenden Festnahmen und der Verfolgung von Oppositionellen und Intellektuellen, war das Stück mit internationaler Besetzung nicht nur Theater, sondern eine klare politische Positionierung, ein Akt der Solidarität mit den Künstler:innen der Türkei gegen den repressiver werdenden Staat unter Präsident Erdoğan. Und damit nicht einfach zu organisieren.

Aber auch in den folgenden Jahren gab es für die Theater-Macher:innen viele Klippen zu nehmen. Vor zwei Jahren haben sie auf die deutsche Erstaufführung geprobt, die dann zu Beginn des ersten Corona-Lockdowns ins Wasser fiel. Mehr als die angestrebten 9.000 Euro waren beim Crowdfunding für das Projekt zusammengekommen, dazu Stiftungsgelder und staatliche Fördermittel, die zu verfallen drohten. Zuletzt drohte dem Komponisten, keine Ausreisegenehmigung aus der Türkei zu bekommen, weil im Antrag der Stempel fehlte.

Eine Odyssee bis nach Stuttgart

Eine Odyssee, eine lange Irrfahrt, die endlich doch in den sicheren Hafen führt. Das dem Dichter Homer zugeschriebene Werk ist sprichwörtlich geworden. Und auch viele darin geschilderte Begebenheiten: "Zwischen Skylla und Charybdis" sagt man etwa, wenn man nur zwischen zwei Übeln wählen kann.

Das antike Versepos vorzutragen, ist nicht ganz einfach – auch in der deutschen Übersetzung. Geschrieben in klassischen Hexametern, sechs Betonungen pro Zeile, sind die Sätze in altertümlichem Deutsch oft lang, mit vielen Nebensätzen, Einschüben und Umstellungen, damit alles ins Versmaß passt.

Um diese Klippe zu nehmen, hat der Bürgerchor Hilfe bei einem Sprechcoach gesucht. Philipp Falser, 27, ist freiberuflicher Sprechtrainer, unterrichtet an verschiedenen Schulen und Hochschulen, hat vor fünf Jahren mit seinem Verein Kunstdruck das Central-Theater übernommen und soeben zum siebten Mal in Esslingen das Straßenkunst-Festival Straku ausgerichtet.

Vor elf Jahren ist Falser in den Bürgerchor eingestiegen, mit dem Volker Lösch, damals Hausregisseur des Stuttgarter Schauspiel, im Stück "Metropolis/ The Monkey Wrench Gang" den Stuttgart-21-Protest auf die Bühne brachte. Gleichzeitig trat der Bürgerchor aber auch auf der Montagsdemo auf, die seit Jahren jede Woche den Protest gegen Stuttgarts neuen Tiefbahnhof auf die Straße bringt und zu dieser Zeit noch ein richtig großes Event war.

"Seht auf keinen Fall auf eure Füße!"

"Wir haben das Orakel von Delphi nach der Zukunft von Stuttgart 21 gefragt", behauptet Lösch da. Der Protest sei auf dem richtigen Weg. "Falls ihr aber nachlasst", mahnt das Orakel auf Griechisch und Deutsch, "dann wird euch folgendes Schicksal ereilen" – und der Bürgerchor setzt ein: Die Mineralquellen versiegen, die Häuser stürzen ein, die Stadt wird unbewohnbar, der Protest blutig niedergeschlagen und als letzte, grauenhafte Vision: Der CDUler Stefan Mappus kehrt als Ministerpräsident von Baden-Württemberg zurück.

In der Videoaufzeichnung steht Falser, damals noch Schüler, direkt hinter Lösch. Heute, nach Abitur und Studium, steht er im Central-Theater und sagt: "Bitte achtet darauf, dass ihr bei 'senkte' das 'k' deutlich aussprecht, nicht dass es wie 'sengte' klingt." Wenn das Geschehen sich zuspitzt, sollen die Sprecher:innen schnell und energisch werden. Wo es um Gefühle geht dagegen langsamer, leiser. "Seht auf keinen Fall auf eure Füße oder was die anderen machen", empfiehlt Falser, "das fällt auf und lenkt ab. Stellt euch vor, auf einer Kinoleinwand hinter dem Publikum läuft ein Film. Ihr beschreibt, was ihr da seht."

2013 verließ Lösch Stuttgart. Bei der "Odyssee" hat der Chor seinem Mitglied Klaus H. Grabowski den Hut aufgesetzt. Grabowski stammt aus Königsberg, als er zwei Jahre alt war, 1945, musste seine Familie fliehen: zu Fuß bis nach Dänemark, das als kleines Land bereitwillig Flüchtende aufnahm. Heute beschäftigen Grabowski die Geflüchteten aus aller Welt. Ein Programm des Bürgerchors war Asylrecht und Freizügigkeit gewidmet. Die klassische Odyssee, das ist Grabowski wichtig, ist jedoch keine Geschichte von Flucht und Vertreibung, sondern ein blutrünstiges Heldenepos.

Wie aber kommt der Bürgerchor, gegründet, um dem politischen Unmut eine laute Stimme zu verleihen, zu diesem klassischen Bildungsgut? "Es war der Genius loci", der Geist des Ortes, sagt Grabowski. Marmaris liegt an der Ägäis, der Westküste Kleinasiens, heute Türkei, wie das antike Troja, nur weiter im Süden gegenüber der Insel Rhodos. Marmaris ist ein Touristennest mit 33.000 Einwohnern. 2017 durften in der Türkei nur türkische Autoren gespielt werden. Grabowski erklärte Homer einfach zum türkischen Dichter. Schwer zu widerlegen: In Realität ist nicht einmal sicher, ob es ihn überhaupt gab.

Ein Chor mit außergewöhnlichem Komponisten

Marmaris hat ein Kammerorchester, das für die musikalischen Zwischenspiele von Grabowskis Odyssee Ilyas Mirzayev vorgeschlagen hat. Ein außergewöhnlicher Komponist: 1961 in Aserbaidschan geboren, hat er in Moskau bei Edison Denisov und Alfred Schnittke studiert, zwei der bedeutendsten neueren russischen Komponisten. Seit 1992 lebt er in Istanbul und hat als Erster Konzerte für das türkische Streichinstrument Rebab oder die Ney-Flöte der Sufi-Derwische komponiert.

Er ist aber auch Jazzpianist und kommt nun mit dem ebenfalls aserbaidschanischen Violinisten Samir Gülahmedov nach Stuttgart, wo er auf den georgischen Bassgitarristen Zurab J. Gagnidze und den lettischen Perkussionisten Aleks Maslakov trifft, die mit ihm am 7. Juni im Theaterhaus die Odyssee begleiten. Danach muss er gleich wieder zurück. Denn in Marmaris gibt es ein jährliches Festival, das drei Tage nach der Stuttgarter Aufführung beginnt. Der Höhepunkt dieses Jahr: eine Sinfonie von Ilyas Mirzayev.


Die Aufführung findet statt am Dienstag, dem 7. Juni um 20.15 Uhr im Theaterhaus Stuttgart. Tickets gibt's hier.


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