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Filmkritik zu "In den besten Händen"

Frankreich in Not

Filmkritik zu "In den besten Händen": Frankreich in Not
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Catherine Corsinis Film "In den besten Händen" lässt eine Frau aus der Kulturboheme und einen Lkw-Fahrer im Krankenhaus aufeinandertreffen. Es ist die Nacht einer Gelbwesten-Demo, es ist ein Film, der gerade jetzt, kurz vor der Frankreich-Wahl, hochaktuell ist.

Schlaflos in Paris: Die Comiczeichnerin Raf (Valeria Bruni-Tedeschi), eine Frau Mitte fünfzig, liegt wach und wütend im Bett und tippt sich in einen Beschimpfungsrausch hinein. "Herzlose Schlampe"; "gefühllos"; "widerlich", so schießt es in ihr hoch und ungefiltert ins Handy, während die Adressatin Julie (Marina Foïs) neben ihr schlummert. Dann tippt Raf auf "Senden". Am nächsten Morgen erscheint sie mit verlegenem Lächeln im Wohnzimmer der großbürgerlichen Wohnung, setzt ein Verzeih-mir-war-nicht-so-gemeint-Gesicht auf, macht ein paar gute Laune simulierende Tanzschritte und ist erschrocken, als Julie ihr ernst und kühl erklärt, diesmal sei sie zu weit gegangen, es sei aus.

In dieser Nacht sind Yann (Pio Marmaï) und sein Kollege mit ihrem roten Lastzug in die Stadt eingefahren. "Aux Champs-Elysées" singen sie euphorisch, diesen Song von Joe Dassin aus dem Jahr 1969, in dem noch eine Utopie aufschien: "Au soleil, sous la pluie, à midi ou à minuit / Il y a tout ce que vous voulez aux Champs-Elysées". Dann schließen sich die beiden den Gelbwesten-Demos an und verlieren sich aus den Augen. Turbulent geht es zu am Arc de Triomphe, die aufgebrachte Menge steht einer Polizeiphalanx in Schwarz gegenüber, und Yann, Mitte zwanzig und mit ein bisschen Bart, protestiert an vorderster Front. "Robocop hat doch ein Herz?!", schreit er die aufgerüstete Staatsmacht an. "Lebt eure Oma nicht auch von 700 Euro?", schreit er weiter. "Zieht eure Helme ab und macht mit!", fordert er auf.

Chaos und Gewalt vor dem Triumphbogen

Noch haben die Welten von Raf und Yann nichts miteinander zu tun, noch laufen die beiden Erzählstränge getrennt nebeneinander her. Nein, nicht ganz, Julies Sohn taucht auf, er will auch zur Demo. Raf warnt ihn, er solle nicht im Schwarzen Block mitlaufen, und außerdem: Sind das nicht alles Rechtsextremisten? Vor dem Triumphbogen brechen jetzt Chaos und Gewalt aus, Gasgranaten fliegen, Gelbwesten fliehen, Polizisten prügeln, Schüsse knallen, Demonstranten fallen. Auch Yann. In der Welt der Kultur-Boheme wird dagegen weiter privat gestritten, Julie verlässt in Trennungsabsicht das Haus, die aufgelöste Raf läuft ihr nach, rutscht auf der Straße aus und bricht sich den Arm.

Und so treffen Raf und Yann doch aufeinander, an einem der wenigen Orte, an denen dies in einer nach Klassen und Milieus getrennten Gesellschaft überhaupt noch möglich ist: in der Notaufnahme. Und dort, in dieser turbulenten Nacht, sind die Nöte noch größer als sonst. Ausnahmezustand. Immer mehr Einlieferungen, immer mehr Verletzte. Die Dringlichkeit durch farbige Bändchen hierarchisiert. "Wartezeit 8 bis 10 Stunden, wir danken für Ihr Verständnis", steht auf einem Zettel an der Wand. Aber Raf, egoistisch, egozentrisch und was es sonst noch so alles gibt an "ego-", hat natürlich kein Verständnis. Es müsste sich doch alles um sie drehen. Und über die anderen, die sie da sieht – Obdachlose, psychisch Angeknackste, Proleten – sagt sie zu Julie, die ihr aus Pflichtgefühl ins Hospital gefolgt ist: "Es macht mich traurig, all diese Leute zu sehen."

Die Regisseurin Catherine Corsini hat ihren Film Ende 2020 gedreht, die Corona-Pandemie aber spielt in ihm noch keine Rolle. Und doch ist dies ein hochaktueller Film, dessen doppeldeutiger Originaltitel "La fracture" viel besser passt als "In den besten Händen". Corsini zeigt ein krisengeschütteltes und gespaltenes Frankreich, ja, sie zeigt Frankreich als krankes Land in der Notaufnahme. Die Station wird hier, auch wenn die Bilder fast dokumentarisch aussehen, zum symbolischen Ort einer auseinanderfallenden Gesellschaft. Anders jedoch als etwa Lindsay Anderson in seinem satirisch-bösen Klassiker "Britannia Hospital" (1982) ist für Corsini noch nicht alles verloren. Das überlastete Personal, allen voran die ebenso robuste wie mitfühlende Krankenschwester Kim (Aissatou Diallo Sagna), stemmt sich dem Untergang entgegen.

Mit Humor – aber keine Komödie

Das Personal weigert sich auch, alle Gelbwesten-Demonstranten an die Behörden zu melden. Raf allerdings hätte wohl nichts dagegen. Sofort gerät sie mit Yann aneinander, der im Rollstuhl sitzt mit rotbeflecktem Verband am horizontal fixierten Bein. Er hält die "feine Dame" für eine Macron-Wählerin, sie verdächtigt ihn, die "Blonde" gewählt zu haben. So dumm sei er nicht, schreit er zornig zurück, sie seien "keine Faschisten". Eine Proletendemo aber wäre wohl "nicht schick genug" für sie. Er dagegen verliere gerade alles: "Mein Blut, meine Wohnung, meinen Job!" Was ein bisschen geflunkert ist: Yann hat sich auch bisher keine Wohnung leisten können, er lebt noch bei seiner Mutter.

"In den besten Händen" lässt, gerade in den Szenen mit Raf und Yann, auch Humor zu. Als Komödie aber, wie manche Kritiker das tun, will man diesen Film nicht bezeichnen, dafür ist er insgesamt doch zu ernst und realistisch. Wenn etwa eine verzweifelte junge Demonstrantin dem Röntgenarzt erzählt, wie sie zu ihren gebrochenen Rippen gekommen ist; wenn Kim sich ein paar Minuten Zeit abringt, um die Hand einer sterbenden alte Frau zu streicheln; wenn sie selber kaum Zeit hat, als ihr Mann mit dem fiebrigen Kleinkind kommt; wenn die Tumulte an die Krankenhaustüren branden und Tränengas durch die Ritzen strömt; wenn schließlich sogar Raf erkennt, dass sie hier vielleicht doch nicht die Hilfsbedürftigste von allen ist.

Versöhnung gibt es keine, dafür einen Appell

Die praktische Julie dagegen muss sich gar nicht so sehr ändern, sie packt in der Notaufnahme, wenn das Personal es nicht schafft, auch mal mit an, holt einem im Gang sitzenden Kranken, der ihr sagt, er müsse brechen, ganz selbstverständlich eine Schale und entsorgt sie auch. Und Raf und Yann? Sie nähern sich in ihren Positionen ein wenig an, wobei Raf bei diesem Prozess mehr zu tun hat. Aber zur großen Versöhnung kommt es nicht. Die Hoffnung in diesem Film, der keine Musik braucht, sondern auf Dialoge und Geräusche setzt – das Rollen der Betten, das Piepsen der Apparate, die Nachrichten der TV-Schirme –, liegt in einem Empathie-Appell: Versetzt euch alle mal in die Lage der anderen!

Zum Beispiel in die Lage von Yann, der noch 700 Kilometer zu fahren hat, der deshalb nicht im Krankenhaus bleiben und auf eine Bein-OP warten will. Schon beim Röntgen hat er den Arzt gefragt: "Wieviel kostet das?" Und der hat geantwortet: "Wir sind in einem öffentlichen Krankenhaus – noch nichts!" An diesem Ort und in dieser Nacht werden zumindest noch zwei jener drei Werte gelebt, welche die französische Revolution der Republik als Wahlspruch hinterlassen hat: Gleichheit und Brüderlichkeit. Und welche Werte stehen am kommenden Sonntag zur Wahl? Gleichheit und Brüderlichkeit eher nicht. Stattdessen, wie schon 2017, Macron und Le Pen. Wen wohl Raf wählen wird, und wen Yann? 


Catherine Corsinis "In den besten Händen" kommt am Donnerstag, 21. April in die deutschen Kinos. Welche Spielstätte den Film in Ihrer Nähe zeigt, sehen Sie hier.
 


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